Wie der Ukraine-Krieg die Literaturwelt aufwühlt – die PEN-Tagung und der Rücktritt von Deniz Yücel

Wenige Monate nach dem 100-jährigen Jubiläum der internationalen Schriftstellervereinigung PEN im vergangenen Oktober fand Mitte Mai im thüringischen Gotha eine denkwürdige Jahrestagung des deutschen PEN statt. Nach Medienberichten artete die Tagung in Tumulte, gegenseitige Beschimpfungen und Gebrüll aus. Präsident Deniz Yücel trat nach sieben Monaten im Amt zurück.

Deniz Yücel 2018 auf der Frankfurter Buchmesse [Photo by Harald Krichel / CC BY-SA 4.0]

Yücel, ein als Erdogan-Gegner gefeierter Journalist, wurde zwar mit knapper Mehrheit wiedergewählt. Doch als auch sein verbandsinterner Gegner, PEN-Generalsekretär Heinrich Peuckmann, mit wesentlich mehr Stimmen im Amt bestätigt wurde, warf Yücel seinen Posten medienwirksam hin. Er sprang unter Getöse auf und schrie, er wolle nicht mehr „Aushängeschild dieser Bratwurstbude“ sein.

Begonnen hatte die Auseinandersetzung im März bei der internationalen Literaturmesse Lit.Cologne in Köln. Deniz Yücel forderte dort mehr Waffen für die Ukraine und die Einrichtung einer Flugverbotszone, also ein direktes Eingreifen der Nato im Ukraine-Krieg.

Fünf ehemalige Präsidenten des PEN – Christoph Hein, Gert Heidenreich, Johano Strasser, Josef Haslinger und Regula Venske – warfen ihm darauf in einem Protestbrief Missbrauch seiner Funktion als PEN-Präsident vor. Sein Vorstoß sei nicht mit dem PEN-Vorstand abgestimmt worden und verstoße zudem gegen die Charta des Internationalen PEN, die die Mitglieder verpflichtet, „mit äußerster Kraft für das Ideal einer in Frieden lebenden Menschheit zu wirken“. Am Ende forderten sie seinen Rücktritt. Weitere 36 PEN-Mitglieder äußerten danach ebenfalls ihre Opposition und stellten einen Abwahlantrag gegen Yücel.

Die Medien ergriffen mehrheitlich Partei für Yücel. Sie zitierten genüsslich seine vulgären Ausfälle in Gotha und kanzelten seine Kritiker als Kleingeister ab.

Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (SZ) beschimpfte Yücel den PEN als ein „Haufen Spießer und Knallchargen“, die „mit Alfred Kerr und Dolf Sternberger und Heinrich Böll“ ihre „Ahnengalerie“ vor sich hertrügen. Der PEN sei „von einem Haufen selbstgerechter, lächerlicher Möchtegernliteraten“ in Geiselhaft genommen worden, usw. usf.

SZ-Autor Cornelius Pollmer, der Yücel interviewt hatte, schrieb in einem zynischen Kommentar über „Szenen eines der spektakulärsten Intellektuellenaufmärsche ever“. Er bescheinigte dem PEN das „Schicksal eines langsam austrocknenden Seniorenstifts“ und beschrieb Yücel als „tragischen Helden“.

Die großbürgerliche Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) echauffierte sich unter der Überschrift „Hauptsache laut gebrüllt“ nicht etwa über das aggressive Auftreten Yücels, sondern über die schlechten Manieren der anderen PEN-Mitglieder. Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer amüsierte sich über den Vergleich mit einer „Bratwurstbude“ und bezeichnete Yücels Forderung nach einer Flugverbotszone als lobenswerte Einmischung eines „widerständigen Intellektuellen“.

Die taz zitierte unter der Überschrift „Bratwurstbude zum Schämen“ zustimmend eine Beobachterin, laut der im PEN die „toxische Männlichkeit einer Riege alter westdeutscher Herren“ dominiere. Schon nach der Lit.Cologne hatte die taz geschrieben: „Es herrscht Krieg in Europa! Da kann man sich doch nicht auf das ‚Ideal einer in Frieden lebenden Menschheit‘ zurückziehen ...“

Die Zeit-Autorin Jana Hensel schließlich bezeichnete den Verlauf der Tagung als „Qual“. Man habe sich wie auf den „Stadionrängen eines Fünftligisten“ oder „auf einem Parteitag der AfD“ gefühlt. Vor allem das Anti-Yücel-Lager habe sich durch „johlendes Gezeter, ätzende Zwischenbemerkungen oder Klagedrohungen“ hervorgetan, so Hensel. Schlussendlich verstieg sie sich zur Aussage, Yücel stehe „in der Tradition von Heinrich Heine, Georg Büchner, Ludwig Börne“, die ebenfalls unter den „Philistern und Vereinsmeiern“ gelitten hätten.

Worum geht es?

Unter welchen „Philistern“ musste Yücel leiden? Und wie kann man Heine und Büchner aus dieser Schlammschlacht retten?

Der Krieg in der Ukraine hat existierende Spannungen im Schriftstellerverband zur Explosion gebracht. Viele deutsche Journalisten und Kulturschaffende führen eine hysterische Kriegskampagne gegen Russland, und auch im PEN sind bekannte Autoren und Journalisten daran beteiligt.

Deniz Yücel, geboren 1973 in Flörsheim, begann seine Karriere als Journalist bei Jungle World, für die er bis heute als Mitherausgeber zeichnet, ging dann zur taz, danach als Türkei-Korrespondent zur Springer-Zeitung Welt. Ein Interview mit einem kurdischen PKK-Kommandanten handelte ihm 2017 den Vorwurf der Terrorpropaganda und ein Jahr Haft in der Türkei ein. Nach Verhandlungen mit der Bundesregierung kam er im Februar 2018 wieder frei.

Angesichts des Ukraine-Kriegs nutzt Yücel nun sein Image als Gegner politischer Unterdrückung für die Unterstützung der Kriegstreiberei der NATO und des amerikanischen Imperialismus.

Am Rande der Gothaer Tagung verteidigte er auf einer Podiumsdiskussion mit Nachdruck den ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, der den Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera als Helden verehrt. Er sei die „Stimme der Ukraine“ und leiste einen „großartigen Job“, so Yücel. Bandera ist für den Tod zehntausender Juden, Polen und Sowjetbürger verantwortlich.

Die Chefredakteurin des Philosophie Magazins Svenja Flaßpöhler, die die Angst vor einem Atomkrieg ansprach, machte Yücel lächerlich – aus Angst vor kleinen Atombomben wolle sie der Ukraine nicht helfen. Ihr Hinweis, taktische Atombomben hätten ein Vielfaches der Sprengkraft der Bomben von Hiroshima und Nagasaki, erntete nur Achselzucken.

Auf Forderungen ukrainischer PEN-Schriftsteller, Werke von Dostojewski, Turgenjew und Tolstoi zu verbieten, weil diese angeblich „die russische Seele verroht“ hätten, reagierte Yücel mit der Bemerkung, die russische Literatur sei nicht unschuldig. Dies zeige das Beispiel des russischen Autors Saschar Prilepin, der vor zehn Jahren als Putin-Gegner gefeiert worden sei und nun als Milizführer im Donbass für Putin kämpfe. Er habe seinen Gesinnungswandel mit der Lektüre von Alexander Puschkin (1799-1837) begründet.

An dieser Stelle verlor der ehemalige PEN-Präsident Johano Strasser die Geduld: Da könne man auch erklären, „weil Hitlers Soldaten in ihren Tornistern Goethe-Bücher hatten“, müsse man Goethe als Mitschuldigen für die Verbrechen der Nazis boykottieren.

Am Ende verleumdete Deniz Yücel die Losung „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ Er behauptete, die Häftlinge von Buchenwald hätten nach der Befreiung des KZs am 11. April 1945 nur „Nie wieder Faschismus!“, aber nicht „Nie wieder Krieg!“ gefordert. Er habe dies in Dokumenten nachgelesen.

Tatsächlich lautet der berühmte „Schwur von Buchenwald“: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht. Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig.“

Yücels Fälschung verfolgte ein durchsichtiges Ziel. Er behauptete, weil Hitler durch den vereinten Krieg der alliierten Mächte besiegt worden sei, müsse man jetzt auch einen Krieg gegen das „faschistische Russland“ führen. Dieser Vergleich von Hitlers Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion – in dem fast 30 Millionen Sowjetbürger, darunter unzählige Menschen aus der Ukraine sowie Millionen Juden – ermordet wurden, mit dem Krieg des Putin-Regime gegen die Ukraine ist eine dreiste Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen.

PEN am Wendepunkt

Der PEN steht an einem Wendepunkt. PEN steht für „Poets, Essayists, Novelists“ („Dichter, Essayisten, Romanautoren“). Als der internationale Schriftstellerverband 1921, wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und inmitten revolutionärer Kämpfe, in London gegründet wurde, sollte er Autoren in aller Welt unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Nation zusammenbringen und damit einen Einsatz für den internationalen Frieden leisten. In den Grundsätzen der internationalen Charta, die die Mitglieder unterschreiben müssen, sind die Ziele von Frieden, Völkerverständigung, Kampf gegen politische Verfolgung und Zensur festgelegt.

Die 1924 gegründete deutsche Sektion geriet schnell in die politischen Kämpfe der Weimarer Republik. 1930 führte sie eine Kampagne gegen das Verbot des Antikriegsfilms „Im Westen nichts Neues“ nach dem Roman von Erich Maria Remarque. Bei der Machtübernahme Hitlers mussten viele Autoren fliehen, darunter der amtierende PEN-Präsident Alfred Kerr, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller und Heinrich Mann. Letzterer wurde Präsident der 1934 gegründeten Exilorganisation.

In Nazi-Deutschland versuchte sich der PEN anzupassen. Gegen die Bücherverbrennung 1933 unternahm er nichts. 1934 wurde er auf Betreiben von Gottfried Benn und Hanns Johst in einen nationalen deutschen Schriftstellerverband umgewandelt, der sich in die Kriegspropaganda und antisemitische Hetze einreihte. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete sich das deutsche PEN-Zentrum neu, spaltete sich aber bald in Ost und West.

Die bekanntesten deutschen Autoren jener Zeit – Günter Grass, Siegfried Lenz und Heinrich Böll (der von 1970-72 PEN-Präsident war) – spielten eine wichtige Rolle dabei, die Nazi-Zeit aufzuarbeiten. Ein vereinter PEN bildete sich erst wieder 1998. Er ist auch für andere Vertreter schreibender Berufe geöffnet, so für Journalisten wie Deniz Yücel.

Heute ist die Literatur erneut mit gesellschaftlichen Brüchen, mit Klassenkampf und Krieg konfrontiert. 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und der Auflösung der Sowjetunion zeigt der Kapitalismus seine alte Fratze von sozialer Ungleichheit, Ausbeutung, Polizeigewalt und bedroht die Menschheit mit einem dritten, atomar geführten Weltkrieg.

Der Versuch von Deniz Yücel, den PEN in die Kriegspolitik des deutschen Imperialismus einzuspannen, ist auf der Tagung des Verbands gescheitert. Das lautstarke Eingreifen der Gegner Yücels und der große Applaus, als er zurücktrat, hat viele Medienvertreter überrascht, die glauben, ihre täglichen Lügen über den Ukraine-Krieg und die Rolle der Nato entspreche der Mehrheitsmeinung hierzulande.

Der Aufruhr von Gotha spiegelt die gegenteilige Stimmung in der Bevölkerung wider, die die offizielle Politik mehrheitlich ablehnt. Nach zig Tausenden Corona-Toten als Folge einer Politik im Interesse des Profits, schüren dieselben verantwortungslosen Vertreter der herrschenden Klasse einen umfassenden Krieg und halsen die Kosten dafür den Arbeiterfamilien auf. Die Tatsache, dass viele Autoren des PEN dagegen reagieren, ist zu begrüßen.

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