Angesichts drohenden Impfstoffmangels

Mehr als 6.000 offizielle Affenpocken-Fälle – Prognosen gehen bis Herbst von weltweit über einer Million Fällen aus

Der beispiellose Ausbruch der Affenpocken weitet sich auf die ganze Welt aus. Wissenschaftler und Ärzte sind weltweit zunehmend besorgt, dass sich neben Covid-19 eine weitere Pandemie entwickelt.

Am 1. Juli wurde mit weltweit 781 Neuinfektionen der bisherige Rekordwert erreicht, mehr als die Hälfte davon wurden in Spanien entdeckt. Der gleitende Sieben-Tages-Durchschnitt stieg damit auf 402 Fälle pro Tag, was einen Anstieg um das Zehnfache seit Mai bedeutet. In den letzten vier Wochen stieg die Zahl der weltweiten Infektionen um mehr als das Sechsfache auf insgesamt 6.229 Fälle, davon 6.178 bestätigte und 51 Verdachtsfälle. In den USA gibt es jetzt offiziell 459 Infektionen, d.h. die Zahl ist in den letzten vier Wochen fast um das 20-fache gestiegen.

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Der globale Ausbruch hat sich schnell auf 67 Länder und Gebiete in allen Teilen der Welt ausgedehnt, in denen der Erreger bisher nicht endemisch war. In Spanien, England und Deutschland gibt es mehr als 1.000 bestätigte Fälle, in den USA 459. Angesichts der zögerlichen Reaktion der Biden-Regierung auf die entstehende Krise rechnen Vertreter des öffentlichen Gesundheitswesens und Experten für Infektionskrankheiten damit, dass die USA die europäischen Staaten bald einholen werden.

Tägliche Neuinfektionen mit Affenpocken in Spanien, England, Deutschland und den USA (@antonio_caramia)

Bis Sonntagabend haben 32 Bundesstaaten und der District of Columbia Infektionen mit Affenpocken gemeldet; der erste Fall wurde vor sechs Wochen entdeckt. Die Bundesstaaten mit den meisten bestätigten Infektionen sind Kalifornien (95), New York (90), Illinois (53) und Florida (50). Die Gründe dafür sind ihre unmittelbaren Verbindungen zum internationalen Reiseverkehr und ihre Bevölkerungsdichte. Die öffentlichen Gesundheitsbehörden haben bestätigt, dass die offiziellen Zahlen mit Sicherheit zu niedrig angesetzt sind, da Mediziner aufgrund fehlender Tests und mangelnder Kenntnis der Anzeichen und Symptome der Krankheit Fälle übersehen.

Am Wochenende fand ein TikTok-Video Verbreitung, in dem eine junge Frau namens Halle ihre Erfahrungen bei dem Versuch schilderte, sich auf Affenpocken testen zu lassen. Das Video zeigt, wie völlig unvorbereitet das amerikanische Gesundheitssystem auf den um sich greifenden Ausbruch ist.

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Nachdem sie zwei Notfallkliniken und zwei Hausärzte konsultiert hatte, die nichts von dem Ausbruch der Affenpocken oder sogar der Krankheit selbst wussten, erhielt sie Antibiotika und wurde angewiesen, wieder zur Arbeit zu gehen. Ein Dermatologe, den sie deshalb konsultieren wollte, stornierte ihren Termin und verwies sie an die Seuchenschutzbehörde CDC.

Halle erklärte: „Ich habe die CDC angerufen. Die sagen: ,Rufen Sie ihren Hausarzt an.‘ Die Dame von der CDC, mit der ich gesprochen habe, hatte keine Ahnung, wovon sie redet und konnte keine meiner Fragen beantworten. Ich konnte mich nirgendwo testen lassen. Die Ärzte haben sich geweigert, mich zu untersuchen, und ich habe diesen mysteriösen und schmerzhaften Ausschlag im ganzen Gesicht, auf Brust, Armen und Rücken... Die CDC hat keine Ahnung, was sie tut, niemand ist aufgeklärt, nicht mal die Ärzte, und die Ärzte weigern sich, dich zu untersuchen, zu behandeln oder zu testen. Und die CDC unternimmt nichts dagegen.“

Der Koordinator des Weißen Hauses für die Reaktion auf Covid-19, Dr. Ashish Jha, äußerte sich zu dem Ausbruch der Affenpocken in seiner typischen selbstgefälligen Art: „Wir als Weltgemeinschaft wissen schon seit Jahrzehnten davon. Wir wissen, wie es sich ausbreitet. Wir haben Tests, mit denen wir Infizierte identifizieren können. Wir haben hochgradig wirksame Impfstoffe dagegen.“

Jhas erste Äußerung zu den Affenpocken ist so falsch und nichtssagend wie seine fadenscheinigen Beteuerungen zur Covid-19-Pandemie, man habe die „Werkzeuge“ zur Bekämpfung. In Wirklichkeit existieren die „Werkzeuge“ zwar, aber sie werden aufgrund der jahrzehntelangen Zerstörung des öffentlichen Gesundheitswesens, die während der Corona-Pandemie in krasser Weise zutage getreten ist und verschärft wurde, nicht koordiniert eingesetzt und gehandhabt.

James Krellenstein, Mitbegründer des Interessenverbandes Prep4All, der sich für HIV-Behandlungen einsetzt, äußerte gegenüber The Hill eine genau entgegengesetzte Einschätzung wie Dr. Jha: „Wir haben seit Monaten lautstark darauf hingewiesen, wie schlecht die Situation bei Diagnosen für Affenpocken ist. Und das war ein wirklich deutlicher, vermeidbarer Fehler. Es ist ganz klar, dass diese Regierung nichts aus den Anfängen von Covid-19 gelernt hat.“

Der Geschäftsführer der National Coalition of STD Directors, David Harvey, erklärte gegenüber The Hill: „Wir sind im Rückstand bei der Optimierung von Tests, der Bereitstellung von Impfstoffen, der Optimierung des Zugangs zu den besten Therapeutika. In allen drei Gebieten geht es bürokratisch und langsam zu, deshalb haben wir diesen Ausbruch nicht eingedämmt.“

Diese Äußerungen treffen nur ansatzweise den Kern der Sache. Die gesamte Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitswesens ist unterfinanziert und in völlig chaotischem Zustand. Daher werden die bisherigen Fehler fortgesetzt, solange keine ernsthaften Maßnahmen zu ihrer Berichtigung unternommen werden. Die Unfähigkeit, eine der wichtigsten sozialen Funktionen der Regierung zu finanzieren, während gleichzeitig alle Mittel für einen permanenten Krieg zur Verfügung gestellt werden, ist nicht einfach ein Versäumnis oder ein Missstand. Es ist vielmehr eine bewusst von beiden Parteien getroffene Entscheidung im Auftrag der Wirtschafts- und Finanzoligarchie.

Auf globaler Ebene traf sich das IHR-Notfallkomitee der Weltgesundheitsorganisation am 23. Juni, stufte den globalen Ausbruch der Affenpocken jedoch formell nicht als Gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite (PHEIC) ein. Es will noch einen nicht näher festgelegten Zeitraum abwarten, bis mehr Daten vorliegen.

Diese Entscheidung erinnert an die verzögerte Reaktion der WHO auf die Corona-Pandemie. Diese war bei der Sitzung am 30. Januar 2020 nicht zum PHEIC erklärt worden, obwohl es bereits 7.818 Fälle in 19 Ländern der Welt gab. Erst am 11. März 2020 erklärte die WHO das Coronavirus offiziell zu einer Pandemie. Während die WHO weiter zögert, prognostizieren Modellrechnungen schwerwiegende Folgen, da die Fallzahlen exponentiell steigen.

Die Ergebnisse einer aktuellen Modellstudie von dem Mathematik- und Statistikprofessor Adam Kleczkowski von der Universität von Strathclyde, die am 21. Juni 2022 in The Conversation veröffentlicht wurde, schildert vier Szenarien für einen möglichen Verlauf des Ausbruchs von Affenpocken in Großbritannien. Das zweite Szenario, laut dem sich bis Ende des Jahres bis zu 60.000 Menschen pro Tag mit Affenpocken infizieren könnten, scheint angesichts der derzeitigen exponentiellen Entwicklung am plausibelsten zu sein.

Kleczkowski erklärte: „Das Ausmaß des Ausbruchs übersteigt bereits deutlich den bekanntesten Ausbruch in der Demokratischen Republik Kongo von 2017–19 mit 760 Fällen. Es ist möglich, dass Großveranstaltungen wie Raves und Festivals die neuen Ansteckungscluster geschaffen haben.“

Das deckt sich mit den Prognosen des Datenwissenschaftlers J. Weiland, laut dem die Gesamtzahl der Affenpockenfälle bis August auf über 100.000 weltweit ansteigen könnte, und bis Ende September auf über eine Million, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

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Da die Affenpocken überall auf der Welt ausbrechen, wird die Nachfrage nach Impfstoffen und Therapeutika vermutlich bald die verfügbaren Bestände übersteigen. Bavarian Nordic, ein kleines dänisches Unternehmen, ist der Hersteller von Jynneos, dem einzigen gegen das Affenpockenvirus entwickelten Impfstoff.

Am Freitag kündigte das Unternehmen an, die US-amerikanische Behörde Biomedical Advanced Research and Development Authority (BARDA) habe weitere 2,5 Millionen Dosen flüssiges gefrorenes Jynneos bestellt. Zusammen mit den früheren Aufträgen der BARDA werden die USA in den Jahren 2022 und 2023 insgesamt 4,4 Millionen Dosen erhalten. Die derzeitigen Bestände betragen 56.000 Dosen, weitere 300.000 werden in den kommenden Monaten erwartet.

Die Produktionskapazität von Bavarian Nordic für den Affenpockenimpfstoff wurde jedoch durch die teilweise Stilllegung und geplante Vergrößerung ihrer Anlagen seit dem letzten August reduziert. Deshalb muss der Rest der Welt um die begrenzten Dosen des zur Verfügung stehenden Impfstoffs (ausreichend für etwa 2,5 Millionen Menschen) ringen.

Laut der New York Times wird die Produktionsanlage für den Impfstoff vermutlich frühestens im Spätsommer wieder in Betrieb genommen werden. Weitere Impfstoffe werden vermutlich erst in sechs Monaten verfügbar sein. Das bedeutet, das Unternehmen wird im Jahr 2022 bestenfalls weniger als fünf Millionen Dosen des Impfstoffs Jynneos für den Rest der Welt produzieren können, von denen jeweils zwei verabreicht werden müssen.

Laut Professor Angela Rasmussen, Forscherin der Vaccine and Infectious Disease Organization von der University of Saskatchewan in Kanada, reichen die derzeitigen Bestände an Impfstoffen gegen Affenpocken „sicherlich nicht, um alle Gefährdeten zu impfen“.

In Europa hat Spanien als erstes Land mit der Impfung von Hochrisikogruppen begonnen. Letzte Woche erhielt das Land 5.300 Dosen von der European Health Emergency Response Authority (HERA), die von Bavarian Nordic 109.090 Dosen erworben hat.

Die Impfstoffe werden im Rahmen eines Ringimpfungsprogramms verabreicht, bei dem enge Kontakte von Personen, bei denen das Risiko einer Ansteckung mit dem Virus besteht, einschließlich des Pflegepersonals, geimpft werden. Die Europäische Arzneimittelagentur erwägt auch den Einsatz des Pockenimpfstoffs Imvanex, der einen fast 85-prozentigen Schutz gegen Affenpocken bietet. Allerdings kann das Sicherheitsprofil älterer Generationen von Pockenimpfstoffen erhebliche Folgen für bestimmte Personengruppen haben, darunter mögliche Herzschäden.

Die Direktorin der CDC, Rochelle Walensky, teilte letzte Woche mit, die Gesundheitsbehörde habe ihr Emergency Operations Center aktiviert, um auf „die sich entwickelnden Herausforderungen durch den Ausbruch“ zu reagieren. New York und Washington DC haben für Einwohner, die Hochrisikokriterien erfüllen, eine begrenzte Menge von Impfstoffen zur Verfügung gestellt – dazu zählen Männer, die gleichgeschlechtlichen Sex praktizieren, Sexarbeiter und Beschäftigte in Einrichtungen, in denen es zu sexueller Aktivität kommt. Doch auch wenn sich der derzeitige Ausbruch gegenwärtig hauptsächlich in diesem Teil der Bevölkerung entwickelt, ist die gesamte Gesellschaft anfällig für Infektionen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis alle anderen demografischen Gruppen ebenfalls betroffen sein werden.

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