Minister-Rücktritte sollen Boris Johnson stürzen

Gestern sind über 40 Amtsträger in Großbritannien zurückgetreten. Immer mehr Regierungsmitglieder fordern den Rücktritt von Premierminister Boris Johnson. Doch auch nachdem ihm eine Delegation aus seinem eigenen Kabinett sagte, dass seine Zeit abgelaufen sei, weigerte sich Johnson zurückzutreten. Stattdessen hat er am Mittwochabend Michael Gove entlassen, der das Ministerium für Wohnen, Kommunen und lokale Selbstverwaltung leitete.

Am Dienstag legten bereits der britische Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid ihre Ämter nieder, um Johnson aus dem Amt zu drängen. Die beiden waren zuvor hochrangige Mitglieder von Johnsons Kabinett und wurden zeitweise als Herausforderer des Regierungschefs gehandelt.

Als unmittelbarer Grund wird die Ernennung von Chris Pincher zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden durch Johnson im Februar dieses Jahres genannt, obwohl Johnson von den Vorwürfen des sexuellen Fehlverhaltens gegen Pincher wusste. Allerdings bringen die Rücktritte den Fraktionskampf innerhalb der Tories auf einen neuen Siedepunkt, nachdem die Partei aufgrund von monatelangen Skandalen um Alkoholpartys während des Lockdowns selbst in ihren Kernregionen an Rückhalt verloren hat.

Sajid Javid erklärte, die britische Bevölkerung „erwartet von ihrer Regierung – zu Recht – Integrität“. Die Wähler betrachteten die Regierung nicht mehr als „populär“ oder „kompetent, um im nationalen Interesse zu handeln... Die Vertrauensabstimmung im letzten Monat hat gezeigt, dass ein Großteil unserer Kollegen diese Meinung teilen.“

Sunak kündigte seinen Rücktritt eine halbe Stunde später auf Twitter mit einer fast identischen Begründung an: „Die Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass die Regierung ihre Arbeit ordentlich, kompetent und ernsthaft erledigt.“

Die Rücktritte machen es Johnson schwer, im Amt zu bleiben. Der Tory-Abgeordnete Andrew Bridgen erklärte, es werden noch weitere Kabinettsmitglieder zurücktreten, und Johnson werde „vor die Tür gesetzt werden“.

Der britische Premierminister Boris Johnson bei einer Pause während einer Beratung zum Coronavirus in der Downing Street am 5. April 2021 (Stefan Rousseau/Pool via AP)

Der Pincher-Skandal wurde noch durch die Tatsache verschlimmert, dass Johnson wieder einmal als notorischer Lügner entlarvt wurde.

Pincher war am 5. November 2017 als stellvertretender Fraktionsvorsitzender zurückgetreten und stellte sich dem Beschwerdeverfahren der Partei und der Polizei, nachdem er vom ehemaligen Olympia-Ruderer und Tory-Kandidaten, Alex Story, des sexuellen Übergriffs beschuldigt worden war. Auch der ehemalige Labour-Abgeordnete Tom Blenkinsop hatte behauptet, Pincher habe ihn „begrapscht“. Es wurde jedoch festgestellt, dass er nicht gegen den Verhaltenskodex verstoßen hatte.

Pincher musste schließlich am 30. Juni von seinem Amt als stellvertretender Fraktionsvorsitzender zurücktreten, nachdem er zugegeben hatte, im Carlton Private Members’ Club, einem Stammlokal der Torys, in betrunkenem Zustand zwei Männer begrapscht zu haben. Seither sind noch weitere Anschuldigungen aufgetaucht.

Johnson wusste Berichten zufolge so viel von Pinchers Verhalten, dass er ihn als „übergriffig“ bezeichnete. Der Erzfeind des Premierministers, Dominic Cummings, erklärte, er habe im Jahr 2020 gescherzt: „Pincher, der Name passt zu ihm.“

Doch Johnson versuchte einmal mehr, sich auf Kosten seiner Abgeordneten durch Dreistigkeit zu retten. Am 1. Juli erklärte die Downing Street, Johnson habe vor Pinchers Ernennung nichts von „spezifischen Anschuldigungen“ gewusst. Zwei Tage später wurde Pincher suspendiert. Führende Verbündete behaupteten noch bis zum 4. Juli, Johnson habe nichts von den konkreten Vorwürfen gewusst, doch an diesem Tag erklärte sein Sprecher, er habe von früheren „Vorwürfen“ gewusst, die „entweder geklärt wurden oder nicht bis zu einer formellen Beschwerde geführt haben“. Allerdings wurde es „als nicht angemessen betrachtet, eine Ernennung nur wegen haltloser Vorwürfe zu stoppen“.

Johnson sah sich am Dienstag schließlich gezwungen, durch Paymaster General Michael Ellits zuzugeben, dass er über frühere Vorwürfe in Kenntnis gesetzt worden war. Er erklärte jedoch, er habe sich nach dem Auftauchen der jüngsten Anschuldigungen nicht daran erinnern können und „bedauere es zutiefst“, nicht auf diese Informationen reagiert zu haben. Er gab zu: „Vor etwa drei Jahren gab es im Außenministerium eine Beschwerde gegen Chris Pincher... Ich wurde darüber informiert, was passiert ist, und wenn ich zurück könnte, dann würde ich es überdenken und merken, dass er nicht daraus lernen und sich nicht ändern wird.“ Im Rückblick sei es „falsch“ gewesen, Pincher eine Regierungsposition als stellvertretender Fraktionsvorsitzender zu geben. In einem Interview mit der BBC beschuldigte Johnson sein eigenes Team, weil sie „in meinem Namen Dinge äußern, oder versuchen, sich darüber zu äußern, was ich getan oder nicht gewusst habe“.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser jüngste Skandal das Kräfteverhältnis zu Ungunsten Johnsons kippen könnte, auch wenn es noch einige Zeit dauern könnte. Zuvor hatte Johnson während eines Kabinettstreffens Reporter und Fotografen zugelassen. Der Politikredakteur der Financial Times, Sebastian Payne, erklärte: „Man konnte den Gesichtern von [Johnsons Verbündeten] Jacob Rees Mogg, Nadine Dorries [...] ansehen, dass sie wie versteinert waren. Ihr persönlicher Ruf hat ebenso gelitten wie derjenige des Premierministers und der restlichen Regierung.“ Er warnte vor einem Dominoeffekt bei einem prominenten Rücktritt, noch bevor Javid und Sunak dies taten, und erklärte: „Ich glaube, letzten Endes greifen die Regeln der politischen Schwerkraft.“

Der ehemalige Leiter des Civil Service, Lord Kerslake, erklärte, es sei „unvorstellbar“, dass die Personen im Umfeld des Premierministers ebenfalls nichts von den Vorwürfen des sexuellen Fehlverhaltens gewusst haben. Er unterstützte einen offenen Brief des ehemaligen Beamten des Außenministeriums und erbitterten Johnson-Feinds, Sir Simon Lord McDonald, an die Parliamentary Commissioner for Standards, Kathryn Stone, in dem es hieß: „Die ursprüngliche Linie der Downing Street ist nicht wahr, und die Änderung ist immer noch nicht korrekt.“

Der führende Hinterbänkler Sir Roger Gale bestand im gleichen Brief darauf, die Tories müssten ihre Regeln ändern, um eine neue Vertrauensabstimmung über Johnson zu ermöglichen. Nach den bestehenden Regeln des Ausschusses von 1922 hat Johnson nach dem überstandenen Misstrauensvotum vom letzten Monat ein Jahr lang Schonzeit, bevor ein neues stattfinden kann. Doch es ist bereits geplant, die Zusammensetzung der Geschäftsführung des Ausschusses bei der kommenden Wahl zu ändern.

Der jüngste Skandal hat Labour-Parteichef Sir Keir Starmer dazu bewogen, einen Regierungswechsel zu fordern und die Tory-Abgeordneten aufzufordern, im nationalen Interesse zu handeln und Johnson abzusetzen. Der Vorsitzende des Commons Standards Committee und Blair-Anhänger, Chris Bryant, forderte Neuwahlen.

Die Entwicklung wirft wesentliche Fragen für die Arbeiter auf.

Johnsons Gegner fordern angesichts der tiefsten Krise des britischen und des Weltkapitalismus seit den 1930er Jahren noch härtere Maßnahmen gegen die Arbeiterklasse. Sunak erklärte in seinem Rücktrittsschreiben, bei seiner jüngsten Meinungsverschiedenheit mit Johnson sei es darum gegangen, wie weit man bei der Durchsetzung von Sparmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse gehen sollte: „Unser Land steht vor immensen Herausforderungen. Ich glaube, dass die Öffentlichkeit für diese Wahrheit bereit ist. ... Unsere Bevölkerung weiß, dass etwas, das zu schön ist, um wahr zu sein, nicht wahr ist. Sie muss wissen, dass es zwar einen Weg in eine bessere Zukunft gibt, dass er aber nicht einfach ist. Bei der Vorbereitung unserer geplanten gemeinsamen Rede zur Wirtschaft nächste Woche ist mir klar geworden, dass unsere Herangehensweisen grundsätzlich zu unterschiedlich sind.“

Auch der Labour Party geht es vor allem darum, der herrschenden Elite zu beweisen, dass sie nichts tun wird, was das „nationale Interesse“ gefährdet. Dieses Stichwort steht für die Unterstützung brutaler Angriffe auf die Arbeiter und die Plünderung der Wirtschaft durch die Konzerne, die Unterdrückung von Streiks, die Aushöhlung demokratischer Rechte und die Kriegspolitik gegen Russland und China.

Es ist die Aufgabe der Arbeiterklasse, Johnson und seine verachtete Regierung zu stürzen. Dies erfordert die Ausweitung des Klassenkampfs, an dem sich bereits Bahn- und Postarbeiter, Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und viele weitere beteiligen, zu einem Generalstreik, an dem auch die Beschäftigten im Gesundheitswesen, die Lehrer, die Arbeiter in den Kommunen und in anderen Bereichen teilnehmen, die jetzt Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Existenzgrundlage fordern.

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