Proteste in Ungarn gegen Steuererhöhung für Kleinunternehmer und explodierende Inflation

Mehrere Tausend Menschen demonstrierten vergangene Woche in der ungarischen Hauptstadt gegen eine von der Regierung geplante Erhöhung der Einkommenssteuer für Kleinunternehmer und Selbständige, die KATA. Die Steuererhöhung fällt zusammen mit einer rasant steigenden Inflation, die mittlerweile fast 14 Prozent beträgt.

Demonstranten in Ungarns Hauptstadt Budapest am 13. Juli 2022 (AP Photo/Anna Szilagyi)

Am Freitag zogen den dritten Tag in Folge mehrere tausend Demonstranten durch die Innenstadt von Budapest. Bereits am Dienstagabend waren Tausende Menschen auf die Straße gegangen und hatten stundenlang zwei wichtige Donau-Brücken blockiert.

Betroffen von der Steuererhöhung sind Kleinunternehmer oder Selbständige, die in der Regel kaum mehr verdienen als abhängig Beschäftigte. So beteiligten sich an den Protesten Schauspieler, Künstler, Journalisten, Fahrradkuriere und andere. Rund drei Viertel der Betroffenen müssen mit drastischen Erhöhungen der Steuerlast und damit mit der Senkung ihres Nettoeinkommens rechnen. Der Verband der Steuerberater prognostizierte eine Verringerung des Nettoeinkommens von 20 bis 40 Prozent. Betroffen sind von der Erhöhung ab September rund 450.000 Freiberufler.

Die KATA wurde 2013 eingeführt Die Pauschalsteuer sollte Kleinunternehmer entlasten, die nicht mehr als 30.000 Euro im Jahr verdienten. Sie führen etwa 120 Euro pro Monat an Steuern ab und benötigten keinen Steuerberater oder Buchhalter für die Erklärung ihrer Einkommenssteuer, was ebenfalls Kosten sparte.

Die Proteste genießen große Unterstützung, da völlig klar ist, dass die Steuererhöhung erst der Beginn von weitreichenden Angriffen auf die gesamte Bevölkerung des Landes ist.

Unter den geltenden Notstandsgesetzen, die die rechtsextreme Fidesz-Regierung von Victor Orban ausgerufen hat, konnte sie in kürzester Zeit ein Gesetzespaket ohne jede parlamentarische Einflussnahme erlassen. Zwischen der Einreichung des Gesetzentwurfs am Montag und der Verabschiedung im Parlament am Dienstag dieser Woche vergingen nicht einmal 24 Stunden.

Unter anderem beinhaltet das Gesetzespaket ein Verbot von Energieexporten und eine Erhöhung der Produktionsleistung des ungarischen Atomkraftwerks Paks.

Am dramatischsten ist jedoch die Abkehr der Regierung von der vor mehr als acht Jahren eingeführten Wohnnebenkosten-Bremse. Mit der Subventionierung von Gas und Strom reagierte Orban damals auf den wachsenden Unmut ärmerer Bevölkerungsschichten und stellte sich seither damit in Wahlkämpfen als sozialer Wohltäter da.

Nun muss jeder Haushalt mit einem jährlichen Gaskonsum von mehr als 1729 Kubikmetern und einem jährlichen Stromkonsum von mehr als 2523 Kilowattstunden ab dem 1. August die Differenz zum Marktpreis bezahlen. Dieser beträgt derzeit bei Gas das Neunfache und bei Strom das 6,5-fache des gegenwärtigen Tarifs. Dies betrifft vor allem ärmere, kinderreiche Haushalte, die in Zeiten der Pandemie viel Zeit in Wohnungen und Häusern verbringen und einen höheren Stromverbrauch haben.

Die Angriffe auf Arbeiter und deren Familien unterstreichen den Klassencharakter der rechten Regierung. Die „Regierung der Steuerermäßigungen“, wie Außenminister Péter Szijjártó die Fidesz-Regierung nennt, ist sie nur für Superreiche und große Unternehmen. So legte die Regierung jüngst ihr Veto gegen die Erhöhung von Steuern für Großunternehmen auf ein globales Minimum ein.

Schon jetzt können viele Haushalte die extrem gestiegenen Kosten für Lebensmittel und andere Güter kaum mehr bezahlen. Die Kerninflation, bei der Preissteigerungen für Lebensmittel und Energie nicht einberechnet sind, liegt laut ING bei 13,8 Prozent. Die Preissteigerungen bei Lebensmitteln lag im Juni bei 22,1 Prozent. Einige Lebensmittel stiegen im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent. Eine derartige Preissteigerung gab es in Ungarn zuletzt im Jahr 1998, vor 24 Jahren. Experten gehen davon aus, dass es noch Monate dauern wird, bis der Höchststand der Preise erreicht ist.

Ein Bericht von Euronews macht deutlich, wie schwer die Inflation diejenigen trifft, die schon vor dem drastischen Preisanstieg nicht über die Runden kamen. Szabina, die alleine sechs kleine Kinder großzieht und arbeitslos ist, erklärt: „Die Kinder bekommen schon lange nicht mehr viel Obst oder Süßigkeiten. Es ist wichtiger, überhaupt etwas Gekochtes zu bekommen, das für sechs reicht. Und mich.

Ohne das Engagement von Hilfsorganisationen kämen viele Familien nicht mehr durch. Ein neugeborenes Kind kann wegen den gestiegenen Kosten für Kleidung und Windeln eine schier unmögliche Herausforderung sein. Andrea Vörösné Deák berichtet vom Anstieg absoluter Armutsfälle: „Es gibt Heutzutage viele Krisenschwangerschaften, bei denen nicht sicher ist, ob die Mutter das Kind mit nach Hause nehmen kann.“

Laut dem Bericht wandten sich früher die Menschen an Hilfsorganisationen, um Unterstützung für Strom, Gas oder die Miete zu bekommen. Wie groß das durch die Inflation verursachte Problem ist, zeigt die Tatsache, dass sich jetzt viel mehr Menschen wegen Lebensmitteln an sie wenden.

Die Angriffe auf die Bevölkerung durch die Orban-Regierung werden unweigerlich weiter zunehmen, da sie selbst immer stärker unter Druck gerät. Seit Wochen fällt der Forint gegenüber dem Euro und erreicht immer neue Tiefststände. Neben dem Krieg in der Ukraine ist ein weiterer Grund dafür der Konflikt mit der EU über die Auszahlung von EU-Mitteln, nachdem Ungarn nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum sogenannten Rechtsstaatsmechanismus die Kürzung von Zahlungen droht. Vermutlich wird die Neuverschuldung Ungarns in diesem Jahr sechs Prozent betragen – eines der höchsten Defizite in der EU.

Vor diesem Hintergrund waren die Proteste in dieser Woche nur der Beginn von explosiven Klassenauseinandersetzungen auch in Ungarn. Weltweit kommt es zu immer schärferen Konflikten und Protesten aufgrund der galoppierenden Inflation. Der politischen Krise in Sri Lanka, die den Rücktritt von Präsident Gotabhaya Rajapaksa erzwangen, gingen Massenproteste im ganzen Land voraus.

Zuletzt kam es zu Massenprotesten in Albanien. Tausende Demonstranten forderten in der Hauptstadt Tirana den Rücktritt von Premierminister Edi Rama und seiner Regierung. Auch hier lassen die massiv steigenden Preise die Armut im Land explodieren. In dem kleinen Balkanstaat ist die Inflation im letzten Monat so stark gestiegen wie seit 20 Jahren nicht mehr.

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