Baerbocks New Yorker Kriegsrede

Die außenpolitische Grundsatzrede, die die deutsche Außenministerin und Grünen-Politikerin Annalena Baerbock am 2. August in der New School in New York hielt, verlangt nach einer Antwort. Es gibt Lügen, die derart unverschämt sind, dass sie eine verheerende Eigendynamik entwickeln, wenn sie unwidersprochen bleiben.

Eingebettet in Phrasen über Freiheit, Demokratie und Menschenrechte und Reminiszenzen an Hannah Arendt, die als Jüdin vor den Nazis aus Deutschland geflohen war und von 1967 bis 1975 an der New School lehrte, entwarf Baerbock die Vision einer Welt, die von den USA und Deutschland beherrscht wird. Sie sagte nicht nur Russland, sondern auch China den Kampf an und rechtfertigte diese imperialistische Großmachtphantasie mit atemberaubenden Fälschungen, Auslassungen und Verdrehungen.

Außenministerin Annalena Baerbock in Kiew (Bild: kmu.gov.ua/CC BY-SA 4.0)

Im Jahr 1989 habe US-Präsident George Bush Deutschland das berühmte Angebot einer „gemeinsamen Führungspartnerschaft“, einer „partnership in leadership“, gemacht, behauptete Baerbock. Doch damals sei Deutschland zu sehr mit der Wiedervereinigung beschäftigt gewesen, um das Angebot anzunehmen. Heute habe sich das grundlegend geändert: „Jetzt ist der Moment da, in dem wir sie schaffen müssen: eine gemeinsame Führungspartnerschaft.“

Eine solche Führungspartnerschaft sei „kein romantisches Projekt, um gute alte transatlantische Zeiten zurückzuholen“, fuhr Baerbock fort. Mit den guten alten romantischen Zeiten meinte sie den Kalten Krieg, in dessen Verlauf die Welt wiederholt am Rande der nuklearen Vernichtung stand. Damals hatten die Grünen noch gegen Atomwaffen protestiert. Doch inzwischen hat Baerbock – wie Dr. Strangelove in Stanley Kubricks berühmtem Film – die Bombe lieben gelernt und denkt daran, sie selbst einzusetzen.

In einem besonders bizarren Absatz ihrer Rede schildert sie, wie Kinder beim Frühstück fragen: „Mama, was sind eigentlich Atomwaffen?“, um dann zu versichern: „Ich mag die Nato wirklich.“ Die Großeltern dieser Kinder seien Mitte der Achtzigerjahre auf die Straße gegangen, um gegen Aufrüstung zu demonstrieren. „Jetzt sitzen diese Großeltern, Mütter, Väter und ihre Kinder am Küchentisch und diskutieren über Aufrüstung.“

Baerbock spricht hier offensichtlich über sich selbst und über die wohlhabende Klientel der Grünen, nicht aber über die große Mehrheit der Bevölkerung, die nicht die geringste Neigung verspürt, sich für deutsche Großmachtpläne nuklear einäschern zu lassen.

Im gesamten Verlauf ihrer Rede kommt Baerbock immer wieder darauf zurück, dass die angestrebte „Führungspartnerschaft“ vor allem militärisch zu verstehen sei. „In Deutschland haben wir die lang gehegte deutsche Überzeugung vom ‚Wandel durch Handel‘ aufgegeben,“ sagt sie. An seine Stelle ist offenbar der Wandel durch militärische Gewalt getreten.

Russlands Krieg gegen die Ukraine habe die deutsche Regierung „veranlasst, einige lang gehegte Positionen in der Sicherheitspolitik auf den Prüfstand zu stellen: Deutschland hat ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro aufgelegt, mit dem wir unsere Bundeswehr stärken wollen. Wir haben seit Jahrzehnten bestehende Grundsätze bei Rüstungsexporten revidiert, sodass Deutschland mittlerweile zu den stärksten militärischen und finanziellen Unterstützern der Ukraine zählt. Und wir haben unseren Beitrag zur NATO ausgeweitet.“

Doch das sei nur der Anfang: „Unser Ziel ist es, den europäischen Pfeiler der NATO weiter zu stärken … und zwar auf lange Sicht.“ Die Europäische Union müsse strategischer ausgerichtet werden – „als eine Union, die fähig ist, auf Augenhöhe mit den Vereinigen Staaten umzugehen: in einer Führungspartnerschaft“. Und sie müsse „ein stärkerer sicherheitspolitischer Akteur werden“, ihre Rüstungsindustrien stärker miteinander verbinden und „in der Lage sein, militärische Missionen durchzuführen, um Regionen in ihrer Nachbarschaft zu stabilisieren“.

Dreiste Lügen

Nach seinen bestialischen Verbrechen in zwei Weltkriegen hatte sich der deutsche Militarismus jahrzehntelang mäßigen müssen. Nun reiht Baerbock eine dreiste Lüge an die andere, um seine Wiederbelebung zu rechtfertigen.

Das beginnt mit der Behauptung, der 24. Februar – der Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine – habe „unsere Welt verändert“: „Präsident Putin möchte eine Welt, in der das Recht des Stärkeren gilt, nicht die Stärke des Rechts, eine Welt, in der Großmächte sich nach Belieben kleinere Staaten einfach einverleiben können.“

„Ich bin 40 Jahre alt, wurde in Westdeutschland geboren und habe glücklicherweise nie Krieg oder Diktatur erlebt,“ fährt Baerbock fort. Doch nun greife Präsident Putin „die europäische Friedensordnung, die internationale Ordnung nicht theoretisch an – sein Angriff ist brutale Realität“.

Baerbock mag relativ jung sein (in Wirklichkeit ist sie 41). Doch die Behauptung, sie habe „nie Krieg oder Diktatur erlebt“, ist schlichtweg absurd. Seit ihrem zehnten Lebensjahr führen die USA, mit denen sie jetzt eine „Führungspartnerschaft“ anstrebt, praktisch pausenlos Krieg. Sie machen dabei nicht nur vom „Recht des Stärkeren“ gebrauch und setzen sich über alle Regeln des Völkerrechts hinweg, sie haben im Irak, in Afghanistan, in Libyen und Syrien ganze Gesellschaften zerstört, Hunderttausende getötet und Millionen in die Flucht getrieben. Inzwischen bereiten sie ganz offen einen Krieg gegen den wirtschaftlichen Rivalen China vor.

Baerbock war 18, als der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer grünes Licht für die Beteiligung der Bundeswehr am völkerrechtswidrigen Nato-Krieg gegen Jugoslawien gab.

Und sie war 33, Bundestagsabgeordnete und Mitglied der Führungsspitze der Grünen, als diese eine aktive Rolle beim rechten Putsch in Kiew spielten, der die Grundlage für den heutigen Krieg legte. Der gewählte ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch wurde damals mithilfe faschistischer Milizen gestürzt und durch eine prowestliche Marionette ersetzt.

Bereits damals hatte die deutsche Regierung verkündet, sie wolle wieder politische und militärische Großmacht werden. Unmittelbar vor dem Putsch in Kiew hatten dies drei hochrangige Vertreter von Staat und Regierung – Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steineier (SPD) und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) – in nahezu gleichlautenden Reden auf der Münchener Sicherheitskonferenz erklärt.

Baerbocks Behauptung, die massive Aufrüstung der Bundeswehr sei eine Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine, ist also eine offensichtliche Lüge. Vielmehr hat der Krieg den willkommenen Vorwand geliefert, die Aufrüstungspläne, die in der Bevölkerung auf starke Ablehnung stießen, im Eiltempo zu verwirklichen.

Seit dem Putsch von 2014 hat die Nato die Ukraine systematisch aufgerüstet, ihr den Nato-Beitritt in Aussicht gestellt und alle Bemühungen um eine friedliche Lösung sabotiert. Der russische Präsident Putin reagierte darauf, wie es von einem rechten Nationalisten und Interessenvertreter der russischen Oligarchen zu erwarten war und wie es die Nato erhofft hatte: Er schlug militärisch zu.

Seither schlachtet die Nato diesen reaktionären Angriff rücksichtslos aus. Sie führt auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung einen Stellvertreterkrieg gegen Russland und tut alles, um ihn bis zur Niederlage der russischen Armee fortzusetzen – auch wenn dies eine riesige Zahl von Menschenleben kostet. Ihr Ziel: Ausschalten Russlands als geopolitischen Rivalen, ungehinderter Zugang zu seinen gewaltigen Rohstoffen und Aufteilung seines gewaltigen Territoriums. Innenpolitisch sollen der Krieg gegen Russland und die Offensive gegen China sowohl in den USA wie in Europa von den wachsenden sozialen Spannungen ablenken.

Vor diesem Hintergrund kann Baerbocks Beschwörung der „transatlantischen Wertegemeinschaft“ und „unwiderruflichen transatlantischen Partnerschaft“ – sie benutzt das Wort „transatlantisch“ im Verlauf ihrer Rede nicht weniger als 30 Mal – nur noch Brechreiz verursachen. Es ist eine Partnerschaft zwischen Räubern.

Baerbock will die „transatlantische Führungspartnerschaft“ ausdrücklich auch auf den Konflikt mit China ausweiten. „Es kann nicht in unserem Interesse liegen, wenn China in seiner Region übermäßige wirtschaftliche Abhängigkeiten schafft,“ erklärt sie und kündigt eine neue „Chinastrategie“ ihres Ministeriums an, „die nächstes Jahr veröffentlicht wird und die strategischen Überlegungen hier in den Vereinigten Staaten umfassend berücksichtigt“.

Baerbock schwadroniert vom täglichen Kampf für „Frieden, Freiheit und Sicherheit“ und der „unantastbaren Würde des Menschen“, während sie in Wirklichkeit eine erneute Explosion des deutschen Militarismus vorbereitet.

Dabei ist sie ausgesprochen selektiv, wenn es um Menschenwürde und Menschenrechte geht. Verletzungen – reale und angebliche – werden immer dann beschworen, wenn sie einem geopolitischen Rivalen schaden, wie der Fall der Uiguren in China. Sie werden ignoriert und verharmlost, wenn sie von einem Verbündeten begangen werden.

So begrüßte Baerbock erst vor drei Wochen den ägyptische Diktator und Schlächter von Kairo, Abdelfattah al-Sisi, in Deutschland als Verbündeten im Kampf gegen den Klimawandel. Al-Sisis Polizei hat tausende Protestierende getötet, foltert in ihren Kerkern zehntausende politische Gefangene und richtet jedes Jahr mehrere Hundert hin.

Führende Partei des deutschen Militarismus

Die Grünen sind zur führenden Partei des deutschen Militarismus geworden. Ihm opfern sie sogar ihr politisches Kernthema, die Umweltpolitik. Um den Ukrainekrieg fortsetzen zu können, treten sie inzwischen für längere Laufzeiten für Kern- und Kohlekraftwerke, die Aussetzung der Renaturierung von Landwirtschaftsflächen und die Aufhebung anderer Umweltschutzmaßnahmen ein, für die sie sich jahrzehntelang eingesetzt hatten.

Spiegel-Redakteur Dirk Kurbjuweit bescheinigte den Grünen kürzlich, sie hätten die konservative CDU „als deutsche Staatspartei“ abgelöst. „Sie sind für Waffenlieferungen, obwohl sie pazifistische Wurzeln haben, sie setzen vorübergehend auf Kohle, obwohl das dem Klima schaden kann, sie lassen sich auf eine Debatte zur Atomkraft ein, obwohl sie aus der Anti-AKW-Bewegung hervorgegangen sind.“ Sie täten das alles nicht, um ihre Wahlchancen zu erhöhen, sondern „damit Deutschland und Europa besser durch diese Krise kommen. Damit sind die Grünen, ehemals Protestpartei, zur deutschen Staatspartei geworden, ein Titel, den bislang die CDU für sich beansprucht hat.“

Zynisch versuchte Baerbock in New York, die Verwandlung der Grünen aus einer pazifistischen in eine militaristische Partei mit Hannah Arendt zu rechtfertigen. Sie zitierte Arendts Postulat eines „Denkens ohne Geländer“ – eines Denkens, das keiner Schule oder bestimmten Theorie folgt und sich keinen intellektuellen Zwängen beugt – und folgerte: „Damit beschrieb sie einen Ansatz, bei dem wir mutig genug sind, Vorurteile und vorgefasste Meinungen abzulegen und uns neuen Vorstellungen zu öffnen.“

Wir teilen die politischen und theoretischen Konzeptionen Hannah Arendts nicht, deren Existenzphilosophie zu tiefem historischem Pessimismus führt und deren Theorie der totalen Herrschaft den Unterschied zwischen Faschismus und Stalinismus verwischt. Doch Baerbocks Bemühen, sie zur Rechtfertigung des deutschen Militarismus zu missbrauchen, ist der Gipfel der Unverschämtheit. Arendt, die dem Holocaust nur knapp entging, weil ihr 1940 die Flucht aus einem Internierungslager in Frankreich gelang, war Zeit ihres Lebens eine unversöhnliche Gegnerin des deutschen Militarismus. Einen großen Teil ihres Werks widmete sie der Aufarbeitung des Nazi-Regimes.

Politische Lehren

Die Verwandlung der Grünen in die führende deutsche Kriegspartei beinhaltet grundlegende politische Lehren. Sie bestätigt, dass der Kampf gegen Krieg – wie der Kampf gegen Ungleichheit, Klimawandel und alle anderen Übel der kapitalistischen Gesellschaft – eine Klassenfrage und keine klassenneutrale Menschheitsfrage ist. Nur die Mobilisierung der Arbeiterklasse für den Sturz des Kapitalismus kann die Zerstörung der menschlichen Zivilisation durch einen dritten, nuklearen Weltkrieg verhindern.

Die Sozialistische Gleichheitspartei und ihr Vorgänger, der Bund Sozialistischer Arbeiter, kämpften seit der Gründung der Grünen 1980 gegen die Illusion, es handle sich um eine linke Partei. Hervorgegangen aus der 1968er Studentenbewegung machte das Programm der Grünen „zahlreiche Anleihen bei der Frankfurter Schule, wie die Ablehnung des Klassenkampfs, die Konzentration auf Fragen des Lebensstils und die Skepsis gegenüber dem technologischen Fortschritt,“ fassen ihre Historischen Grundlagen den Charakter der Grünen zusammen. „An die Stelle der antikapitalistischen Rhetorik des SDS traten Pazifismus, Umweltschutz und das Versprechen, der bürgerlichen Demokratie zu neuer Blüte zu verhelfen.“

„Im Grunde waren die Grünen rückwärtsgewandt und konservativ,“ heißt es in den Historischen Grundlagen weiter. „Ihrer sozialen Zusammensetzung nach waren die Grünen eine Partei des akademisch gebildeten Mittelstandes. … Mittlerweile weisen sie das höchste durchschnittliche Mitgliedereinkommen und den höchsten durchschnittlichen Bildungsgrad aller Parteien auf.“

Es sind die gesellschaftlichen Interessen dieser wohlhabenden Schichten, die die Grünen immer weiter nach rechts treiben. In den vergangenen drei Jahrzehnten ist der Lebensstandard der Arbeiterklasse stagniert und gesunken. Am unteren Ende der Skala hat sich eine breite Schicht gebildet, die keinen Besitz hat und kaum mehr als das Existenzminimum – oder nicht einmal das – verdient.

Am oberen Ende der Skala hat eine kleine Anzahl von Milliardären und Millionären sagenhafte Vermögen zusammengerafft. Darunter gibt es eine breitere Schicht von gutverdienenden Managern, Spitzenbeamten, Politikern, Journalisten und Selbständigen. Viele sind auch durch ererbtes Vermögen reich geworden.

Diese 90 bis 99 Prozent auf der Einkommens- und Vermögensskala bilden die soziale Basis der Grünen. Sie empfinden die wachsenden sozialen Spannungen und die zunehmende Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse als Bedrohung ihrer Privilegien und reagieren, indem sie sich hinter Staat und Militarismus verschanzen.

Natürlich gilt dies nicht für jedes einzelne Mitglied dieser Schicht. Es gibt immer Individuen, die sich anders entscheiden. Doch der Gang der Geschichte wird nicht durch individuelle Entscheidungen bestimmt, sondern durch die Gesetze des Klassenkampfs.

Die Begeisterung des deutschen Kleinbürgers für Krieg und Militarismus ist nicht neu. 1908 zählte der Deutsche Flottenverein, der sich für den Ausbau der deutschen Kriegsflotte gegen Großbritannien einsetzte, über eine Million Mitglieder. Hitler fand im Kleinbürgertum ein begeistertes Publikum für seine „Lebensraum“-Pläne. Nun schwenken auch die Grünen voll in diese reaktionäre Tradition ein.

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