Ende der verstärkten EU-Finanzüberwachung Griechenlands – soziale Angriffe gehen weiter

Am 20. August endete die sogenannte verstärkte finanzielle Überwachung Griechenlands durch die Kreditgeber der Europäischen Union (EU). Nach 12 Jahren der Spardiktate und strengen Kontrolle des griechischen Haushalts stimmten die Finanzminister der Euro-Länder und der EU-Kommissar Paolo Gentiloni für diesen Schritt.

Griechische wie europäische Politiker übertrafen sich gegenseitig mit salbungsvollen Jubelworten und Versprechungen. Ein „historischer Tag für Griechenland und alle Griechen“, verkündete der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis von der rechtskonservativen Nea Dimokratia (ND) und prophezeite einen Neubeginn „voller Wachstum, Einheit und Wohlstand“.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen twitterte, Griechenland könne dieses Kapitel jetzt „dank der Entschlossenheit und Widerstandsfähigkeit“ seiner Bevölkerung schließen und „mit Vertrauen in die Zukunft blicken“.

Man ersetze „Wohlstand“ mit Armut, „Zukunftsvertrauen“ mit Angst vor Jobverlust, „Widerstandsfähigkeit“ mit Leid und Not, um die Floskeln zu entschlüsseln. Was hier als abgeschlossenes Kapitel und historischer Neubeginn gefeiert wird, bedeutet für die griechische Bevölkerung in Wirklichkeit die Fortsetzung der Austerität und Verschärfung der sozialen Krise über weitere Jahrzehnte.

Den Preis für die Kredite in Höhe von fast 289 Milliarden, die Griechenland in den letzten Jahren in drei „Memoranden“-Programmen von der EU erhalten hat, zahlte die Arbeiterklasse mit Einkommenseinbußen von 25 Prozent, Massenarbeitslosigkeit und Rentenkürzungen. Mit einer Staatsverschuldung von 189,3 Prozent des BIP im ersten Quartal 2022 ist das Land weiterhin Spitzenreiter im EU-Vergleich. Laut Eurostat verzeichnete Griechenland im Monat Juli die höchste Jugendarbeitslosigkeit (28,6 Prozent) und die zweithöchste Arbeitslosenquote (11,4 Prozent) nach Spanien.

Seit der Finanzkrise von 2008 nutzte die EU unter deutscher Führung Griechenland als Speerspitze ihrer Sparpolitik. Mithilfe der Gewerkschaften und pseudolinken Parteien, allen voran der Syriza-Regierung (2015–2019), brach sie den starken Widerstand der Arbeiterklasse und senkte den Lebensstandard innerhalb weniger Jahre auf das Niveau eines Entwicklungslandes. Als Reaktion auf die Pandemie und den Nato-Stellvertreterkrieg in der Ukraine knüpfen die europäischen Regierungen an die griechische Erfahrung an und verschärfen in ganz Europa die sozialen Angriffe.

Was bedeutet das Ende der „verstärkten Überwachung“? Der Mechanismus war 2018 nach dem formalen Ausstieg Griechenlands aus den sogenannten „Rettungsprogrammen“ der Europäischen Kommission, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB) – kurz Troika – für einen Zeitraum von vier Jahren beschlossen worden. Griechenland musste weiterhin regelmäßige Quartalsprüfungen des Haushalts durch die Gläubiger bestehen, um Schuldenerleichterungen und Zugang zum Kapitalmarkt zu bekommen. Jetzt wird diese Kontrolle keineswegs beendet, sondern nur ein Übergang in die „einfache Überwachung“ vollzogen, mit halbjährlichen statt vierteljährlichen Überprüfungen.

Wie andere europäische Länder, darunter Irland, Spanien, Zypern und Portugal, verbleibt Griechenland so lange unter EU-Kontrolle, bis 75 Prozent der Kredite abbezahlt sind. Laut der griechischen Zeitung Ethnos wäre das nach aktueller Rechnung im Jahr 2059, anderen Quellen zufolge sogar erst 2070. Das heißt: Noch bis zu 50 Jahre läuft das Diktat der EU weiter, das unweigerlich mit Sparauflagen und Privatisierungen verbunden ist.

Mit dem jüngsten Schritt erhält Griechenland zwar größere Budgetfreiheit, doch die wird nicht zugunsten der Arbeiter gehen. Die griechische Elite – wie auch die Konzerne und Banken Europas – haben vor allem Anreize für Investments und lukrative Geschäfte im Sinn. Der griechische Finanzminister Christos Staikouras betonte, dass die neue Regelung die Position des Landes auf dem Weltmarkt stärke und es attraktiver für Investoren mache.

Die EU hatte eine rigorose Privatisierungspolitik und die systematische Aushöhlung des Sozialstaats, der Arbeitsgesetze und des Streikrechts angeordnet, um Griechenland in ein Billiglohnland zu verwandeln. Nach der wirtschaftlichen und sozialen Ausblutung des Landes fallen transnationale Konzerne wie die Aasgeier über die Beute her. Regierungen aller politischen Couleur, besonders die Vorgängerregierung unter Syriza, haben in großem Stil den Staatsbesitz privatisiert und zu günstigen Konditionen an internationale Unternehmen und Aktionäre verkauft.

In diesem Monat gehen die Privatisierungsverfahren für die Häfen von Igoumenitsa und Alexandroupoli in die nächste Runde. Während ersterer ein wichtiger Verbindungspunkt zu Italien ist, hat letzterer aktuell eine große geopolitische Bedeutung. Der nordgriechische Hafen Alexandroupoli dient als Drehscheibe für die Waffenlieferungen der Nato an die Ukraine im Krieg gegen Russland. Anfang September wurde auch der Verkauf des staatlichen Gasunternehmens DEPA Infrastructure, das Beteiligungen an 7.500 Kilometern Gasnetz besitzt, an die italienische Italgas abgeschlossen.

Mitsotakis erhofft sich außerdem hohe Investitionen über engere Beziehungen zu reaktionären Regimen wie der al-Sisi-Diktatur in Ägypten und der Golfmonarchie der Vereinigten Arabischen Emirate, mit der er 2020 eine Strategische Partnerschaft vereinbarte und in diesem Jahr zwölf Vereinbarungen sowie die Einrichtung eines Investitionsfonds unterzeichnete.

Deutsche Konzerne profitieren ebenfalls: Der Frankfurter Flugbetreiber Fraport kaufte die Rechte an 14 griechischen Regionalflughäfen. IT-Firmen nutzen den Zugang zu günstigen Fachkräften, darunter der Göppinger Softwarekonzern Teamviewer, der 2020 einen Standort in der Stadt Ioannina im nördlichen Epirus eröffnete, einer der ärmsten Regionen Griechenlands. Auch im Windenergie- und Solarmarkt mischen Unternehmen wie der Essener Energieversorger RWE, der Bremer Solar- und Windparkentwickler wpd und der größte deutsche Windkraftanlagenbauer Enercon mit.

Während die Mieten und Wohnausgaben für griechische Arbeiter besonders in Ballungsgebieten wie Athen 2022 rasant anstiegen, feiert der Markt für Luxusimmobilien in Griechenland ein Rekordjahr, wie die Immobilienagentur Sotheby’s International Realty berichtet. Die reichen Käufer kommen demnach vor allem aus Großbritannien, USA und Frankreich.

Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis am 10. September auf der Internationalen Messe Thessaloniki [AP Photo/Giannis Papanikos]

Die griechische Regierung prahlt mit einem Wirtschaftswachstum von 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im letzten Jahr und voraussichtlich 4 Prozent im laufenden Jahr 2022. Mit dieser Schönfärberei, die mit der realen Lage wenig zu tun hat, will sie im Vorlauf der Wahlen im nächsten Jahr von der tiefen politischen Krise ablenken, die sie und die gesamte herrschende Klasse erfasst hat. Die ND wird nicht nur von einem weitreichenden Abhörskandal erschüttert, der die autoritären Tendenzen ihrer Herrschaft offenlegt. Sie fürchtet auch eine Eskalation der sozialen Spannungen angesichts explodierender Preise für Lebensmittel, Strom und Gas.

In seiner Eröffnungsrede zur Thessaloniki International Trade Fair, die diese Woche lief, versprach Mitsotakis ein Paket von 5,5 Milliarden Euro für 2022 und 2023. Laut Euronews fallen darunter neben niedrigen Sonderhilfen für Geringverdiener, Familien, Rentner, Bauern und Studenten auch Entlastungen für Unternehmen, Mittel für die Tourismusbranche sowie höhere Gehälter der Streitkräfte.

Die offizielle Inflationsrate lag im August bei 11,4 Prozent. Laut aktuellen Zahlen des griechischen Statistikamts kosten Brot und Getreideprodukte 18,5 Prozent mehr, Milcherzeugnisse 18 Prozent, Öle 25,5 Prozent. Auch die Fahrtkosten stiegen rasant: Flugtickets waren 71 Prozent, Schiffstickets 25,4 Prozent und Taxis rund 33 Prozent teurer – und das in einem Land mit unzähligen Inseln, wo viele Menschen auf Schiff- und Flugverkehr angewiesen sind. Schon vor dem Krieg bewegten sich die Preise für die meisten Lebensmittel auf demselben Niveau wie in Deutschland, während der offizielle Mindestlohn bei nur 663 Euro liegt.

Wie in den anderen europäischen Ländern sind die Preisexplosionen im Energiebereich besonders krass: Der Preis für Erdgas stieg innerhalb eines Jahres um 261,3 Prozent, für Heizöl um 65 Prozent und für Strom um 38,5 Prozent.

Adonis Georgiadis, Minister für Entwicklung und Investition, warnte Anfang September im Fernsehsender Mega TV vor dem „schlimmsten Winter seit 1942“ und machte den „Energiekrieg Putins gegen Europa“ für die Situation verantwortlich. Georgiadis – ein bekannter Rechtsextremer, der seine Karriere als Historiker und Verleger begann und vor seinem Wechsel zur ND Abgeordneter der ultrarechten Laos-Partei war – weiß genau, wovon er spricht.

Unter dem Joch der nationalsozialistischen Besatzung in Griechenland während des Zweiten Weltkriegs starben im Hungerwinter 1941–1942 mehrere Zehntausend Menschen. Die Nazis hatten für ihre Feldzüge die Wirtschaft geplündert und ließen die Bevölkerung aushungern. In dem ungewöhnlich kalten Winter erfroren auch viele Menschen, weil Brennstoffe beschlagnahmt wurden. Die grauenvollen Bilder von ausgemergelten Hungertoten und Leichenbergen in der Hauptstadt Athen lassen einen noch heute erschaudern.

Hungertote in Athen, 1941 (Athens National Museum)

Mit seinem Vergleich zum Hungerwinter von 1941/1942 richtet Georgiadis eine offene Drohung an die griechische Bevölkerung. Nicht Putin, sondern der Sanktions- und Aufrüstungswahn der Nato-Mächte hat zum Einbruch der Gaslieferungen aus Russland und den Preisspekulationen mächtiger Konzernmonopole geführt.

Griechenland ist einer der engsten Verbündeten der USA und Deutschlands in diesem Krieg und gab laut Nato-Angaben 2021 schon vor dem Kriegsausbruch 3,59 Prozent des BIP für seinen Militärapparat aus – mehr als alle anderen Nato-Länder einschließlich der USA. Am Freitag bestätigte das griechische Verteidigungsministerium den Beginn eines sogenannten Ringtausches mit Deutschland. Athen liefert der Ukraine 40 Panzer vom Typ BMP-1 sowjetischer Bauart. Im Gegenzug erhält Griechenland von Berlin 40 Marder-Schützenpanzer.

Die Lasten der Kriegspolitik sollen die Arbeiter schultern. Deshalb werden sie schon jetzt auf einen neuen „Hungerwinter“ eingestimmt.

Mit welcher faschistoiden Haltung die Regierung auf die Not der Menschen reagiert, bewies am Dienstag auch der stellvertretende Innenminister Stelios Petsas. In der Morgensendung des Fernsehkanals ANT verwies er auf den gigantischen Preisanstieg beim Erdgas und forderte die Haushalte mit Erdgasversorgung auf, einen teuren Wechsel zu Heizöl durchführen (dessen Preis allerdings ebenfalls stark zunimmt). Auf die Nachfrage eines Journalisten, ob es für die betroffenen Haushalte Lösungen geben wird, erklärte er: „In diesen Fällen ist die Hauptsache, dass wir Anpassung zeigen. Wer sich nicht anpassen will, wird leider sterben.“

Das ist die sozialdarwinistische Logik des Überlebens des Stärkeren im „Kampf ums Dasein“, wie sie die herrschende Klasse in den letzten drei Pandemiejahren mit ihrer Durchseuchungspolitik und in den vorangegangenen Jahren mit der Sparpolitik unter dem Troika-Diktat verfolgt hat.

Petsas’ Aussagen lösten einen Aufschrei in den sozialen Medien und einen Schlagabtausch mit der Oppositionspartei Syriza im Parlament aus. Tatsächlich sprach er aber nur unumwunden aus, was seit Jahren die Denkweise der griechischen Elite und des internationalen Kapitals ist. Damit die Aktiengewinne weiter im Höhenflug sind, sollen die Arbeiter hungern, frieren und sterben. Oder wie Marx einst schrieb: „Der Klage über physische und geistige Verkümmerung, vorzeitigen Tod, Tortur der Überarbeit, antwortet [das Kapital]: Sollte diese Qual uns quälen, da sie unsre Lust (den Profit) vermehrt?“

Mit derselben Entschlossenheit, mit der die Kapitalistenklasse ihre Profite verteidigt, müssen Arbeiter den Kampf aufnehmen und einen Kriegs- und Hungerwinter verhindern. Dafür brauchen sie eine sozialistische Perspektive und ihre eigene Partei. Kontaktiert die WSWS, um die Gründung einer griechischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale vorzubereiten.

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