Nach der Trauerfeier für die Queen kehrt der Klassenkampf zurück

Die Trauerfeier für Queen Elizabeth II. war voraussichtlich das meistgesehene Ereignis der Geschichte. Die Medienübertragung erreichte weltweit vermutlich eine Zuschauerzahl in Milliardenhöhe. Im Vereinigten Königreich säumten mehrere Millionen Menschen die Strecke des Trauerzugs durch London.

Schon in kurzer Zeit werden sich viele von ihnen im Rückblick fragen: „Was hab’ ich mir bloß dabei gedacht?“

Menschenschlange vor dem Hintergrund der Tower Bridge am frühen Samstagmorgen, noch kilometerweit entfernt von Westminster Hall, wo die verstorbene Queen Elizabeth II. aufgebahrt ist, 17. September 2022 [AP Photo/Martin Meissner]

Viele Menschen sind offenbar der Meinung, dass sie über den Tod einer 96-jährigen Monarchin trauern sollten, die Klassenunterdrückung und erbliche Privilegien verkörpert hat. Ein solches Massenphänomen bedarf einer Erklärung.

In Großbritannien misst die herrschende Klasse der verstorbenen Queen eine außerordentliche historische Bedeutung bei. Sie wird als Repräsentantin und sogar als „Großmutter“ der Nation bezeichnet, als Verkörperung von Pflichtbewusstsein und persönlicher Opferbereitschaft, die angeblich die schmerzlichen Erfahrungen von Generationen seit dem Zweiten Weltkrieg geteilt habe. Die Queen war „ein Fixpunkt an Anmut und Höflichkeit im Bewusstsein der Nation und des Commonwealth“, schreibt der Observer. Der Telegraph erklärt: „Die bemerkenswerte Reaktion der Öffentlichkeit auf den Tod von Elizabeth II. ist ein Korrektiv für den Mythos des britischen Niedergangs, für die Vorstellung, dass wir unversöhnlich gespalten seien.“

Solche Kommentare appellieren an verwirrte Emotionen mit dem Ziel, die Arbeiter hinter einem Mythos der nationalen Einheit und einer ebenso sagenhaften Darstellung der Queen zu sammeln. Die Herrschenden versuchen, angesichts der beispiellosen Klassenspaltung, die die Gesellschaft zerreißt, ihre eigene zerrüttete Herrschaft zu stützen.

Auch die Medien und Politiker der ganzen Welt messen dem Ereignis große Bedeutung bei. Elizabeth Windsor war 70 Jahre lang Monarchin und Staatsoberhaupt in Großbritannien, aber wer die TV-Berichte verfolgt oder die Zeitungen liest, könnte meinen, sie sei Ehrenkönigin der Welt.

Fast 100 Präsidenten und Regierungschefs nahmen an der einstündigen Trauerfeier in der Westminster Abbey teil, darunter auch US-Präsident Joe Biden und First Lady Jill Biden. Die Liste der Anwesenden verrät den imperialistischen Charakter der gesamten Angelegenheit.

US-Präsident Joe Biden und First Lady Jill Biden (ganz rechts) am Sarg von Queen Elizabeth II., aufgebahrt in der Westminster Hall im Palace of Westminster in London, 18. September 2022 [AP Photo/Joe Giddens/Pool Photo via AP]

Rechter politischer Abschaum wie der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro und der srilankische Präsident Ranil Wickremesinghe waren als Ehrengäste geladen, während Russland, Weißrussland, Myanmar, Syrien, Venezuela, Afghanistan und andere Regime nicht eingeladen waren, weil der britische, US-amerikanische und europäische Imperialismus mit ihnen verfeindet sind. Die Teilnahme des chinesischen Vizepräsidenten Wang Qishan löste innerhalb der Tory-Regierung und bei den Labour-Abgeordneten einen Aufschrei der Empörung über die angebliche „Beschwichtigungspolitik“ aus.

Im gemeinsamen Interesse der imperialistischen Mächte haben sich die führenden Politiker der Welt hinter die britische Bourgeoisie gestellt, die dem Tod der Queen eine weltgeschichtliche Bedeutung beimisst. Für sie verkörpert sie alles, was die Monarchie im Vereinigten Königreich schon immer symbolisierte. Sie repräsentiert nicht den Feudalismus, sondern die bestehende kapitalistische Gesellschaftsordnung, ererbten Reichtum und Privilegien inmitten enormer sozialer Ungleichheit, „Stabilität“, „Ordnung“, Patriotismus und jede Form politischer Rückständigkeit.

Das Zusammentreffen von Mitgliedern der meist längst abgesetzten „königlichen Familien“ aus ganz Europa und der Welt ist nicht nur ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, sondern der Beweis, dass „Monarchen“ auch im 21. Jahrhundert für die Bourgeoisie noch eine politische Rolle spielen.

Die hagiografische Berichterstattung, mit dem nötigen Ernst vorgetragen, hat Millionen Menschen zu Gefangenen der Medien gemacht. Das ganze Land musste, ob es wollte oder nicht, der Monarchie Respekt erweisen. Das Ableben der Queen musste von allen betrauert werden. So spielte die staatlich organisierte Überwältigung eine wesentliche Rolle dabei, den angeblichen „nationalen Konsenses“ zu stärken. Ein Beispiel dafür ist die Verhaftung mehrerer Personen, die friedlich gegen die Institution der Monarchie protestierten.

Hinzu kommt, dass alles getan wird, um die verwirrte Stimmung in der Bevölkerung zu manipulieren. Für die meisten Arbeiter, die sich mit dem Brimborium um ihren Tod identifizieren, sind Nostalgie, (unangebrachte) Empathie und Respekt für die Queen als Individuum wichtiger als Patriotismus, Nationalismus und Unterstützung für die Institution der Monarchie.

In einem Land, das mehr als 200.000 Menschen durch die Pandemie verloren hat, gibt es auch ein eindeutiges Element echter, aber fehlgeleiteter Trauer, die nichts mit der überspannten Staatstrauer für Elizabeth Windsor zu tun hat, die friedlich in ihrem Bett an Altersschwäche starb. Die hunderttausenden, die sich stundenlang in die Schlange stellten, um die aufgebahrte Tote zu sehen, passierten die 500 Meter lange Covid-Gedenkmauer. Dort sind 150.000 handgemalte Herzen zu sehen, die für durch Covid-19 unnötig verlorene Leben stehen.

500 Meter lange Gedenkmauer für Covid-Opfer, entstanden im Mai 2021. Die 150.000 handgemalten Herzen erinnern an Menschen, die ihr Leben durch Corona verloren haben. Die Mauer befindet sich gegenüber den Parlamentsgebäuden in London. In den Monaten seither ist die Zahl der Covid-Todesopfer im Vereinigten Königreich auf über 200.000 angestiegen

Allerdings stehen sehr viele Arbeiter dem gebotenen Spektakel gleichgültig oder gar ablehnend gegenüber. Und viele ärgerten sich über die Exzesse, die ihnen auferlegt wurden. Zum Beispiel wurden Flüge von und nach Heathrow gestrichen, und tausende medizinische Eingriffe, u. a. gegen Krebs und Herzkrankheiten, wurden verschoben, wie auch private Beerdigungen. All dies angeblich als „Zeichen des Respekts“.

Der politisch bedeutsamste Ausdruck des Widerstands ist die Wut, die klassenbewusstere Arbeiter über die Aussetzung der nationalen Streiks durch die Gewerkschaften äußerten. Die Eisenbahn- und die Postgewerkschaft haben für den gesamten September alle Streiks abgesagt. Diese Maßnahme, die ohne Rücksprache innerhalb einer Stunde nach dem Tod der Queen getroffen wurde, folgt auf einen Sommer der explosivsten Klassenkämpfe seit fast 40 Jahren. Angeführt von der Eisenbahn-, Schifffahrts- und Verkehrsgewerkschaft hat die Bürokratie alles getan, um den sozialen Unmut zu unterdrücken und einzudämmen, indem sie die Arbeiter auf sporadische und isolierte Streiks beschränkte und gleichzeitig Millionen Arbeiter durch endlose Urabstimmungen am Handeln hinderte.

Vor allem muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Tatsache, dass sich Teile der Arbeiter für die Propaganda der Bourgeoisie als empfänglich zeigen, das Ergebnis eines jahrzehntelangen Angriffs der Bürokratie auf das Klassenbewusstsein ist. Die Labour- und Gewerkschaftsbürokratie haben die sozialistischen Traditionen der Arbeiterbewegung angegriffen, und der weltweite Einfluss des Stalinismus hat erst den Sozialismus diskreditiert und dann die Restauration des Kapitalismus durchgesetzt. Kein einziger Labour-Politiker, von Sir Keir Starmer bis Jeremy Corbyn, hat sich seit dem Tod der Queen geweigert, vor der königlichen Familie seinen Kotau zu machen.

Königliche Leibgarde der Yeomen beim Einzug von King Charles III. und Camilla, Westminster Hall, London. Am Sarg von Queen Elizabeth II. waren beide Parlamentskammern versammelt. Im Kreis unten links im Bild: Der ehemalige Vorsitzende der Labour Party, Jeremy Corbyn. 12. September 2022 [AP Photo/Ben Stansall/Pool Photo via AP]

Letztendlich werden die 9 Millionen Pfund, die für die Beerdigung ausgegeben wurden, und die zahllosen Millionen, die für die Förderung der „nationalen Einheit“ rund um die Monarchin aufgewendet wurden, jedoch umsonst gewesen sein. Es sei daran erinnert, dass viele, die beim Tod von Prinzessin Diana im Jahr 1997 – der letzten vergleichbaren Inszenierung nationaler Trauer – ihre Kritikfähigkeit verloren hatten, heute mit einem Gefühl der Ratlosigkeit darauf zurückblicken.

Das Projekt wird an den Klippen der sozialen Realität zerschellen, denn das Vereinigte Königreich ist mit der größten Inflationskrise seit der Großen Depression und einer grassierenden sozialen Ungleichheit konfrontiert. Die Rekordzahl von 177 Milliardären besitzt ein Gesamtvermögen von 653 Milliarden Pfund, was einem Anstieg von 10 % im letzten Jahr entspricht. Die Arbeiter haben den längsten anhaltenden Lohnrückgang seit der Schlacht von Waterloo im Jahr 1815 erlitten.

Kein Wunder, dass die Unterstützung für die Monarchie auf einem historischen Tiefstand ist und weiter abnimmt. Das National Centre for Social Research (NCSR) untersucht seit 1994 die Einstellung zur Monarchie. Die jüngste Umfrage ergab, dass die Kerngruppe, die die Monarchie für „sehr oder ziemlich wichtig“ hält, auf 55 Prozent gesunken ist. In Schottland sprachen sich weniger als die Hälfte der Menschen für die Beibehaltung der Monarchie aus. Bezeichnenderweise vertraten nur 40 Prozent der 18- bis 24-Jährigen und 37 Prozent der Angehörigen ethnischer Minderheiten diese Meinung. Von den letzteren hatten viele unter der brutalen Herrschaft des britischen Imperialismus zu leiden.

In einer YouGov-Umfrage aus dem Jahr 2021 waren 41 Prozent der 18- bis 24-Jährigen der Meinung, dass es jetzt ein gewähltes Staatsoberhaupt geben sollte. Während der Wochen der offiziellen Trauer wurden die Hashtags #AbolishTheMonarchy und #NotMyKing auf TikTok millionenfach aufgerufen und waren auf Twitter ständig im Trend.

Umfragen zur öffentlichen Meinung über die Einstellung zur Monarchie berücksichtigen nie den wichtigsten sozialen Unterschied, nämlich die Klassenzugehörigkeit. Dennoch spiegeln die jungen, auf die Zukunft orientierten Menschen die gegenwärtigen sozialen Beziehungen am besten wider. Ihre wachsende Feindschaft gegenüber der Monarchie beruht auf der Erkenntnis, dass die Gesellschaft für Millionen Menschen hauptsächlich Entbehrungen, lange Arbeitszeiten bei geringen Löhnen und die Aussicht auf eine weitere Verschlechterung bereithält. Von jungen Arbeitern zu verlangen, dass sie sich mit einer verknöcherten Kaste von Schmarotzern identifizieren, die ein Leben in sagenhaftem, unverdientem Reichtum und Privilegien führen, kommt einer Beleidigung und einem bizarren Anachronismus gleich.

Dies trifft nicht nur auf die jungen zu. Sehr bald werden sich die Realitäten des kapitalistischen Lebens durchsetzen, die vorübergehend unter einer Flut von königlicher Propaganda begraben wurden.

Eine besondere Warnung muss vor der unaufhörlichen Verherrlichung des Militärs ausgesprochen werden. Um die Rolle des Monarchen als Oberhaupt der Streitkräfte zu betonen, treten Mitglieder der königlichen Familie ständig in Uniform auf, die Brust mit Orden behängt. An dem Staatsbegräbnis am Montag nahmen rund 6.000 Angehörige der Streitkräfte in voller Montur teil.

King Charles III., Prinz William und Prinzessin Anne salutieren zusammen mit Prinz Andrew vor dem Sarg der Queen mit der königlichen Standarte und der kaiserlichen Staatskrone. Prozession vom Buckingham Palace in den Palace of Westminster, Mittwoch, 14. September 2022 [AP Photo/Ben Stansall]

Gleichzeitig eskaliert Großbritannien seine Beteiligung am Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland in der Ukraine. Die britische Arbeiterklasse wird immer tiefer in einen Konflikt hineingezogen, der zu einem Weltkrieg führt, und das unter einer Regierung, die sie verachtet. Regierungschefin ist eine Psychopathin, die damit prahlt, dass sie bereit sei, ein nukleares Armageddon auszulösen. Politiker und Generäle diskutieren in aller Ruhe über die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Schlagabtauschs in der Ukraine, und die Medien stacheln sie weiter an.

Wissenschaftler und Gesundheitsbehörden warnen vor einem Wiederaufflammen der Pandemie im Winter, das mit einer frühen und doppelt so starken Grippesaison zusammenfällt: Eine „Zweifach-Pandemie“, die das ohnehin schon überlastete nationale Gesundheitssystem verwüsten wird.

Die Lage der Arbeiterklasse wird immer unerträglicher, da sich die Wirtschaftskrise verschärft. Millionen sind gezwungen, die Kosten für die Rettungsaktionen für Pandemieprofiteure, für den Krieg in der Ukraine und für die Sanktionen gegen Russland zu tragen. Der jüngste Bericht der Living Wage Foundation ergab, dass von den 4,8 Millionen Menschen, die weniger als den angeblich „existenzsichernden Lohn“ von 9,90 Pfund pro Stunde (bzw. 11,05 Pfund in London) verdienen, schon 42 Prozent aus finanziellen Gründen auf Mahlzeiten verzichtet haben und mehr als die Hälfte im letzten Jahr eine Tafel in Anspruch nehmen mussten.

Die Gewerkschaftsbürokratie und ihre parlamentarischen Verbündeten in der Labour Party werden nicht in der Lage sein, den kommenden Ausbruch des Klassenkampfs zu unterdrücken. Die kampfbereite Stimmung in der Arbeiterklasse zeigt sich darin, dass am 19. und 27. September die Streiks von 2.500 Hafenarbeitern in Liverpool und Felixstowe beginnen. Am 1. Oktober werden sich ihnen zehntausende Bahn- und Postbeschäftigte anschließen. Eine neue Runde eintägiger Streiks wird beginnen, an denen sich 170.000 Beschäftigte beteiligen werden.

Streikposten am ersten Streiktag im Hafen von Felixstowe, 21. August 2022 [Photo: Unite/WSWS]

Diese neue Bewegung wird die Arbeiter im Kampf für soziale Gleichheit, gegen Kapitalismus, Krieg und Klassenprivilegien direkt mit der Labour- und Gewerkschaftsbürokratie konfrontieren. Und sie wird international sein.

Auf die rührselige und abstoßende Verherrlichung des Königshauses folgt der unvermeidliche Kater. Großbritanniens Machthaber müssen sich ihrem Erzfeind stellen: der Arbeiterklasse.

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