Die Bedeutung der Finanzkrise des Vereinigten Königreichs

Die außerordentlichen Ereignisse des letzten Monats in Großbritannien enthalten für die Arbeiterklasse in allen Ländern tiefgreifende Lehren.

Die Tory-Regierung der gestern zurückgetretenen Liz Truss hatte am 23. September ihre Wirtschaftsagenda verkündet, die durch die Verabschiedung eines Mini-Haushalts mit umfangreichen Steuersenkungen für Unternehmen und Superreiche „Wachstum, Wachstum, Wachstum“ schaffen sollte. Nun liegt sie in Trümmern.

Bank of England, Threadneedle Street, London (England) (Flickr, Hongchou's Photography)

Nachdem sie nicht zur Fragestunde erschienen war, saß Truss am Montag stumm und ausdruckslos im Unterhaus. Kanzler Jeremy Hunt – der am vergangenen Freitag ernannt worden war, nachdem sie Kwasi Kwarteng aus dem Amt gedrängt hatte – zerriss die Wirtschaftsagenda, die sie und Kwarteng gemeinsam erarbeitet hatten.

Die Ereignisse haben die nackte Macht des Finanzkapitals und die Art und Weise, wie es seine Diktatur ausübt, in lebendiger Erfahrung enthüllt.

Der Zusammenbruch des Truss-Programms wurde mit der Ankündigung des Mini-Haushalts in Gang gesetzt. Der Wert des Pfund Sterling stürzte gegenüber dem US-Dollar ab und Staatsanleihen wurden verkauft, wodurch die Gefahr eines Zusammenbruchs der Pensionsfonds entstand und eine schwere Krise des britischen und des globalen Finanzsystems drohte.

Die Einwände der Geldmärkte richteten sich nicht dagegen, dass Milliarden Dollar an die Unternehmen und Superreichen verteilt werden sollten. Sie bestanden darin, dass diese Summen nicht durch Ausgabenkürzungen, sondern durch eine Erhöhung der Staatsverschuldung um mehr als 70 Milliarden Pfund finanziert wurden.

Hunt kündigte nicht nur an, die Steuersenkungen rückgängig zu machen, sondern begann auch gleich mit der Kürzung der Staatsausgaben – wobei er vor allem die Laufzeit der Energiesteuererleichterungen von zwei Jahren auf nur sechs Monate verkürzte. Er warnte, dass „atemberaubend schwierige“ Entscheidungen anstünden, um die „wirtschaftliche Stabilität“ wiederherzustellen. Nichts sei „vom Tisch“. Das bedeutet, dass Renten, Gesundheit, Bildung und andere soziale Dienste unmittelbar auf der Abschussliste stehen.

Auch wenn die Ereignisse im Vereinigten Königreich ihre eigenen nationalen Besonderheiten haben, sind sie nicht einfach das Ergebnis „britischer“ Verhältnisse. Wie Leo Trotzki einmal bemerkte, sind nationale Besonderheiten immer eine „eigenartige Vermengung“ der Grundzüge globaler Prozesse.

Die zugrundeliegenden internationalen Prozesse haben sich in den letzten 35 Jahren mit zunehmender Wucht entwickelt und wurzeln in einer immer tieferen Krise des globalen Finanzsystems, in der alle Widersprüche des globalen kapitalistischen Profitsystems in konzentrierter Form zum Ausdruck kommen.

Am Mittwoch berichtete die New York Times, dass die Federal Reserve und die Biden-Regierung Untersuchungen darüber angestellt haben, ob es in den USA zu einem ähnlichen Zusammenbruch kommen könnte. Dem Artikel zufolge schien ein Crash zwar nicht „unmittelbar“ bevorzustehen – für die herrschenden Klassen gibt es nie eine Krise, bis sie über ihren Köpfen zusammenbricht –, doch die Antwort lautete, dass er „wahrscheinlich“ eintreten „könnte“.

Der Artikel schlussfolgerte, dass der Schock zwar „spezifisch britisch“ sei, doch die heftige Reaktion „Ökonomen auf der ganzen Welt dazu veranlasst hat, sich zu fragen, ob die Situation einem Kanarienvogel in der Kohlenmine gleicht, da rund um den Globus Anzeichen von finanziellem Stress auftauchen“.

Die Ursprünge der Finanzkrise lassen sich zwar weit zurückverfolgen – mindestens bis zur Aufhebung der Golddeckung des US-Dollars im August 1971 und dem Übergang zu einem globalen Fiat-Währungssystem –, doch ein entscheidender Wendepunkt war der Wall-Street-Crash im Oktober 1987, der auf der ganzen Welt Widerhall fand.

Als Reaktion auf den Absturz – mit mehr als 22 Prozent immer noch der historisch größte Einbruch an einem einzigen Tag – verpflichtete der damalige Vorsitzende der US-Notenbank Alan Greenspan die Fed, den Aktienmarkt mit der gesamten benötigten Liquidität zu versorgen.

Diese Entscheidung war keine einmalige Angelegenheit. Der „Greenspan-Put“, wie er später genannt wurde, war für den Finanzmarkt eine Garantie, dass die Fed immer zur Stelle sein würde, wenn seine spekulativen Aktivitäten zu einer Krise führten – um die Märkte zu retten und noch mehr Geld zur Verfügung zu stellen, mit dem die neuen Spekulationen finanziert werden konnten.

So antwortete die Fed auf jeden finanziellen Sturm in den 1990er Jahren und in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts.

Gleichzeitig wurden die Regulierungen aufgehoben, die als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren eingeführt worden waren. Die City of London hatte sich zu einem Zentrum der globalen Spekulation entwickelt und war kein passiver Zuschauer. Tatsächlich wurden Regulierungsmaßnahmen in den USA häufig nicht zuletzt deshalb aufgehoben, weil die Bedingungen in London viel lockerer waren und die Wall Street in der Lage sein musste, mit ihrem transatlantischen Rivalen zu konkurrieren.

Die Maßnahmen der Fed wurden oft zur Abwendung einer potenziellen Krise ergriffen, schufen jedoch nur die Voraussetzungen für eine noch größere Katastrophe, die in der globalen Finanzkrise von 2008 ausbrach. Die Reaktion der Fed bestand darin, das Geldangebot noch weiter auszudehnen.

Gemeinsam mit der US-Regierung rettete sie Unternehmen und Banken und leitete dann unter dem Vorsitz von Ben Bernanke das Programm der quantitativen Lockerung (Quantitative Easing, QE) ein, bei dem die Zentralbanken Staatsanleihen aufkauften, um die Zinssätze auf einem historischen Tiefstand zu halten.

Die Fed stockte ihre Bestände an Staatsschulden von rund 800 Milliarden Dollar auf etwa 4 Billionen Dollar auf, was zu einem Berg von Schulden und fiktivem Kapital führte. Dies spiegelte sich wiederum im Anstieg der Wall Street auf Rekordhöhen wider, nachdem sie im März 2009 ihren Tiefpunkt erreicht hatte.

Als die Covid-19-Pandemie zu Beginn des Jahres 2020 ausbrach, weigerten sich die US-Regierung und Regierungen auf der ganzen Welt, die notwendigen Gesundheitsmaßnahmen zur Beseitigung des Virus zu ergreifen. Sie wollten einen Zusammenbruch der Wall Street verhindern, der sich auf das gesamte globale Finanzsystem ausweiten würde.

Diese Gefahr zeigte sich, als der Markt für Staatsanleihen – die Grundlage des globalen Finanzsystems – im März 2020 zusammenbrach. Mehrere Tage lang fanden nicht einmal US-Staatsanleihen, die angeblich die sichersten Finanzanlagen der Welt sind, einen Käufer.

Die Fed und andere Zentralbanken reagierten, indem sie das QE-Programm potenzierten. Allein die Fed hat ihre Bestände an Finanzanlagen fast über Nacht von 4 Billionen Dollar auf fast 9 Billionen Dollar mehr als verdoppelt und wurde zum Bürgen für alle Arten von Staats- und Unternehmensschulden. Der Gesamtbetrag, den die Zentralbanken dem Finanzsystem zugeführt haben, wird auf rund 13 Billionen Dollar geschätzt.

Doch diese Maßnahmen, die zum Schutz der Wall Street und zur „Rettung“ des Finanzsystems ergriffen wurden, führten zu einer neuen Krise. Die Weigerung, Covid-19 zu eliminieren, leitete eine Lieferkettenkrise ein. Verbunden mit der Spekulation auf alle Finanzwerte einschließlich Rohstoffen – ein Ergebnis des Zuflusses von Billionen Dollar der Zentralbanken – und der Profitgier der großen Unternehmen hat dies die höchste Inflationsrate seit vier Jahrzehnten ausgelöst.

Die QE-Maßnahmen der Vergangenheit konnten durchgeführt werden, weil die Inflation niedrig war – weit unter 2 Prozent – und die Kämpfe der Arbeiterklasse von der Gewerkschaftsbürokratie unterdrückt wurden. Dies führte dazu, dass die Streikaktivität weltweit auf einen historischen Tiefstand sank und die Reallöhne kontinuierlich schrumpften.

Nun hat sich die Situation dramatisch verändert. Überall auf der Welt kämpft die Arbeiterklasse für Lohnerhöhungen gegen die grassierende Inflation, die durch den Stellvertreterkrieg noch verschärft wird, den die USA und die Nato in der Ukraine gegen Russland führen. In Schulen, Krankenhäusern, dem Gesundheitswesen und der gesamten Industrie fordern Arbeiter ein Ende der zunehmend unerträglichen Arbeitsbedingungen, die über Jahrzehnte eingeführt und während der Pandemie noch verschärft wurden.

Das Wiederaufleben des Klassenkampfes hat zu einem grundlegenden Wandel in der Geldpolitik der Zentralbanken geführt – allen voran der US-Notenbank –, der eine kontinuierliche Anhebung der Zinssätze umfasst. Das neue Regime wird unter dem Vorwand der „Inflationsbekämpfung“ durchgesetzt. Es wird jedoch nichts zur Senkung der Preise beitragen, wie Sprecher der Zentralbank bereits zugegeben haben.

Das Ziel besteht darin, eine Rezession herbeizuführen und damit in die Fußstapfen des Fed-Vorsitzenden Paul Volcker zu treten, der die Zinssätze in den frühen 1980er Jahren auf ein Rekordhoch anhob. Die Volcker-Maßnahmen schufen die bis dahin tiefste Rezession seit den 1930er Jahren, in deren Verlauf die Lohnkämpfe der Arbeiterklasse zerschlagen und die Beziehungen zwischen den Klassen umstrukturiert wurden.

Doch die Unterdrückung der Lohnkämpfe der Arbeiterklasse – die immer eine große Gefahr für die Stabilität des Finanzkapitals darstellen – ist keineswegs das einzige Ziel. Der Klassenkrieg geht weit darüber hinaus.

Der Berg an fiktivem Kapital, der durch die Explosion der Aktienkurse und das Wachstum der Schulden entsteht, verkörpert an und für sich keinen Wert. Letztlich ist er ein Anspruch auf den Mehrwert, der der Arbeiterklasse im kapitalistischen Produktionsprozess entzogen wird.

Dieser Pool von Mehrwert, von dem sich das Finanzkapital wie ein Vampir ernährt, muss um jeden Preis vergrößert werden.

Dies beinhaltet nicht nur die Unterdrückung der Löhne, sondern auch die Zerstörung sozialer Sicherungssysteme, die vom Standpunkt des parasitären Finanzkapitals betrachtet einen Abschlag vom Mehrwert darstellen, der ansonsten zu seiner Aneignung verfügbar wäre.

Verdeutlicht werden das Ausmaß und die Tiefe der treibenden Kraft des Klassenkrieges, der nun entfesselt wird, durch die Tatsache, dass die weltweite Verschuldung der Regierungen und der Unternehmen inzwischen auf mehr als 350 Prozent des weltweiten BIP oder rund 300 Billionen Dollar geschätzt wird. Die Forderung des Finanzkapitals lautet, dass der Arbeiterklasse mehr Mehrwert entzogen werden muss, um diese Verschuldung zu bezahlen.

Das ist die Bedeutung der Krise am britischen Anleihemarkt – nicht nur für britische Arbeiter, sondern für Arbeiter auf der ganzen Welt. Diese Agenda wurde im „Fiscal Monitor Report“ des IWF dargelegt, der für die IWF-Halbjahrestagung letzte Woche in Washington erstellt wurde.

In den Worten des Hauptverfassers des Berichts, Vitor Gaspar: „Im Kontext hoher Inflation, hoher Verschuldung, steigender Zinssätze und erhöhter Unsicherheit ist die Kohärenz zwischen Geld- und Fiskalpolitik von größter Bedeutung... Dies bedeutet, dass der Haushalt auf seinem Straffungskurs gehalten werden muss.“

Sollten Regierungen unabhängig von ihrer politischen Couleur diesen Forderungen nicht nachkommen, werden sie von den Anleihemärkten bestraft werden, bis sie es tun.

Die herrschenden Klassen haben – angeführt vom Finanzkapital – eine klare Agenda. Sie wollen Arbeiter in die Armut treiben, um ihre unersättlichen Bedürfnisse zu stillen. Die Arbeiterklasse muss darauf mit einem eigenen, unabhängigen Programm antworten, das von der Einsicht ausgeht, dass sie nicht nur gegen verschiedene ihr auferlegte Plünderungen kämpft – sondern gegen das gesamte kapitalistische System und für die notwendige sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft.

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