Armut in der Ukraine steigt sprunghaft an

Laut den jüngsten Daten der Weltbank hat sich die Zahl der Armen in der Ukraine seit dem Ausbruch des Nato-Kriegs gegen Russland verzehnfacht. Offiziell gilt heute ein Viertel der Bevölkerung als arm, während es vor Februar 2022 angeblich nur zwei Prozent waren.

Allerdings sind beide Zahlen eine starke Unterschätzung, da die Ukraine schon vor der russischen Invasion das niedrigste oder nahezu das niedrigste Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt aller europäischen Staaten hatte. Zudem hat die Regierung schon seit langem eine absurd niedrige Armutsgrenze festgelegt, um die Zahl der Menschen, die von der Hand in den Mund leben, zu niedrig angeben zu können.

Warteschlange vor einer Lebensmittelausgabe der Organisation World Central Kitchen im Zentrum von Mikolajiw am 24. Oktober 2022 [AP Photo/Emilio Morenatti]

Offizielle Stellen rechnen mit einem Anstieg der Armutsquote auf 60 Prozent oder mehr im Verlauf des kommenden Jahres. In der Ukraine zeichnet sich ein Ausmaß an Entbehrung ab, das es auf dem europäischen Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gab.

Die Arbeitslosenquote liegt derzeit bei 35 Prozent, und die Löhne in einigen Branchen sind seit Frühling und Sommer um bis zu 50 Prozent gesunken. Die am schlechtesten bezahlten Teile der Erwerbsbevölkerung, Studenten und Ungelernte, bewegen sich laut Schätzungen mit einem Monatslohn von etwa 291 Dollar am Rande des Existenzminimums. Laut dem Internationalen Währungsfonds wird die ukrainische Wirtschaft in diesem Jahr um 35 Prozent schrumpfen. Die öffentlichen Schulden sind auf 85 Prozent des BIP gestiegen.

Da die Inflation, die im September bei 24,4 Prozent lag, die Löhne und Renten der Arbeiter auffrisst, sind selbst grundlegende Waren und Dienstleistungen für Millionen von Menschen nicht verfügbar und unerschwinglich. Die Weltgesundheitsorganisation und das ukrainische Gesundheitsministerium veröffentlichten vor kurzem eine Studie, laut der 22 Prozent der ukrainischen Bevölkerung keinen Zugang zu wichtigen Medikamenten haben. Unter den 6,9 Millionen Binnenvertriebenen erhöht sich diese Zahl auf 33 Prozent.

Von den Befragten bezeichneten 84 Prozent die Preise als zu hoch, und 46 Prozent erklärten, die benötigten Waren seien nicht verfügbar. Am schwersten zu bekommen sind Medikamente zur Behandlung von Blutdruck, Herzproblemen und Schmerzen sowie Beruhigungsmittel und Antibiotika. Daraus ist zu ersehen, dass die Bevölkerung seit Jahrzehnten mit armutsbedingten Krankheiten und dem physischen und psychischen Trauma des Kriegs zu kämpfen hat.

Während die USA und die Nato innerhalb weniger Wochen riesige Mengen von Waffen an die ukrainische Front bringen konnten, ist die Lieferung lebensrettender humanitärer Hilfsgüter scheinbar eine logistisch unlösbare Herausforderung.

Gleichzeitig breitet sich Covid-19 weiter aus: Alleine zwischen dem 10. und 16. Oktober wurden weitere 23.000 Fälle gemeldet. Die Impfquote gegen das Coronavirus liegt in der Ukraine bei unter 45 Prozent, und nur ein kleiner Teil der Bevölkerung hat die erste oder zweite Boosterimpfung erhalten. Schon vor Kriegsbeginn war die Ukraine aufgrund der jahrelangen Austeritätsmaßnahmen, die ihr von ausländischen Gläubigern aufgezwungen wurden, „medizinisch nackt“, wie es Präsident Selenskyj selbst formulierte.

Mehr als sieben Prozent des Wohnungsbestands im Land sind beschädigt oder zerstört worden, und Millionen haben keinen Zugang mehr zu Heizung, Strom und Wasser. Letzte Woche wurden 30 Prozent der Kraftwerke des Landes vom Netz getrennt. Laut den Medien sammeln die Menschen als Vorbereitung auf den Winter Holz und bauen behelfsmäßige Öfen in verlassenen Gebäuden, die noch Dächer haben. Unter diesen Bedingungen hat die Regierung in Kiew vor kurzem den hilfreichen Vorschlag gemacht, alle sollten in Erwartung umfangreicher Stromausfälle ihre Akkugeräte aufladen und sich mit Batterien und Taschenlampen eindecken.

Besonders gefährdet sind alte, behinderte und in ihrer Beweglichkeit eingeschränkte Menschen. Von der Vorkriegsbevölkerung von 44,13 Millionen Einwohnern gelten 2,7 Millionen offiziell als behindert. Tausende von ihnen leben in stark unterfinanzierten und heruntergekommenen Waisenhäusern und Pflegeheimen. Sie sind den Kriegsfolgen besonders ausgesetzt. Human Rights Watch und andere gemeinnützige Organisationen veröffentlichten im August Erklärungen, laut denen die Behörden viele der Insassen dieser Einrichtungen bei ihren Evakuierungsplänen ignoriert haben und sie einfach zurückließen. Es kamen Berichte auf, laut denen psychisch kranke Menschen an Betten gefesselt wurden und unterernährte Kinder in den eigenen Ausscheidungen lagen. Im September berichteten westliche Medien, dass russische Streitkräfte diese Teile der Bevölkerung als „menschliche Schutzschilde“ missbrauchten – ohne dass erwähnt wurde, dass die ukrainische Regierung sie schon seit langem als menschlichen Abfall behandelt.

Die Regierung in Kiew beantragt große Summen an Hilfsgeldern von internationalen Organisationen und ausländischen Staaten, da der überwiegende Teil des Staatshaushalts von Militärausgaben und Schuldentilgung sowie der Zahlung von Gehältern und Pensionen aufgezehrt wird. Laut Premierminister Denys Schmyhal wendet die Ukraine 60 Prozent ihres Budgets für Verteidigungsausgaben auf. Der Regionaldirektor der Weltbank für Osteuropa, Arup Banerji, erklärte vor kurzem, wenn die Ukraine nicht bald zusätzliche Mittel erhalte, müsse sie entweder die Sozialausgaben kürzen oder einfach Geld drucken und damit die Inflationsrate in die Höhe treiben.

Der ukrainische Präsident Selenskyj forderte letzte Woche bei einer Rede auf dem jährlichen Treffen des Internationalen Währungsfonds weitere 55 Milliarden Dollar von der internationalen Staatengemeinschaft: 38 Milliarden Dollar zur Deckung des Haushaltsdefizits im nächsten Jahr und 17 Milliarden Dollar für die Infrastruktur. Doch laut Schätzungen der Weltbank werden die Gesamtkosten für den Wiederaufbau der Ukraine mehr als das Sechsfache betragen, nämlich 349 Milliarden Dollar.

Allerdings sind die ausländischen Regierungen mit ihrem Geld nicht annähernd so großzügig wie mit ihren Waffenlieferungen. Während Financiers und Politiker immer wieder von der Notwendigkeit eines Finanzierungsmodells nach dem Vorbild des Marshallplans sprechen, wird ein Großteil der dem Land derzeit zugesagten Mittel in Form von Krediten oder überhaupt nicht gewährt.

Der rechte Ökonom Anders Aslund schrieb am 12. Oktober in einem Kommentar in der South China Morning Post, der IWF habe von den 35 Milliarden Dollar, die er der Ukraine zugesagt hat, um die Regierung handlungsfähig und die Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen offen zu halten, erst 20 Milliarden freigegeben. Und von den neun Milliarden Euro, die die EU dem Land im Mai zugesagt hat, ist gerade einmal eine Milliarde angekommen.

Die geschäftsführende Direktorin des IWF, Kristalina Georgijewa, sprach von einem „sehr großen“ Finanzierungsbedarf der Ukraine und erklärte Mitte Oktober, ihre Organisation bereite Gespräche mit ukrainischen Regierungsvertretern vor, um „die Haushaltspläne der Ukraine und ein neues Überwachungsinstrument des IWF zu diskutieren, das den Weg für ein vollwertiges IWF-Programm ebnen soll, sobald die Bedingungen es zulassen“.

Mit anderen Worten: Wenn von der Ukraine überhaupt etwas übrigbleibt, will der IWF die physische Zerstörung des Landes nutzen, um seine Kontrolle über die Regierung und die Wirtschaft zu stärken und Privatisierungen und massive Kürzungen der Sozialausgaben durchzusetzen. Vor kurzem wurde der ukrainische Finanzminister Scherhi Martschenko in das rotierende Amt des Vorsitzenden des IWF-Gouverneursrats ernannt. Dies zeigt, dass die ukrainische Bourgeoisie nach wie vor uneingeschränkt zu diesem seit langem bestehende IWF-Projekt steht. Die internationalen Gläubiger lassen die Ukraine bereits seit Jahrzehnten ausbluten.

Und selbst wenn das Land nicht bloß Kredite, sondern Zuschüsse erhalten wird, wird es doch an der kurzen Leine gehalten. Eine aktuelle Analyse von Deloitte Insights, einer Online-Publikation des internationalen Finanzmanagements, betonte zuerst die Bedeutung der „Korruptions- und Betrugsbekämpfung“ bei allen Finanzierungsabkommen mit der Ukraine. Wenn es der internationalen Staatengemeinschaft passt, wird sie wieder einmal entdecken, dass die Kiewer „Freiheitskämpfer“ ein Pack von Dieben sind.

Beispielhaft dafür, was vorbereitet wird, ist eine Reihe von „Reformen“, welche die ukrainische Regierung im Sommer mit tatkräftiger Unterstützung ihrer westlichen Verbündeten durchgesetzt hat. Die Verhängung des Kriegsrechts im Land wird dabei benutzt, um die Löhne und Rechte der Arbeiter auszuhöhlen. So sind so genannte „Null-Stunden-Arbeitsverträge“ jetzt legal. Zudem wird allen Beschäftigten bei kleinen und mittleren Unternehmen, d.h. etwa 70 Prozent der Erwerbsbevölkerung, der Schutz durch das nationale Arbeitsrecht verwehrt, das für ihre Beschäftigungskategorie nicht mehr gilt. Diese Maßnahmen sollen zwar angeblich nur vorläufig sein, doch die Regierung will sie eindeutig auf unbestimmte Zeit fortsetzen.

Selenskyjs Partei, die den irreführenden Namen „Diener des Volkes“ trägt, erklärte als Begründung für die Verabschiedung der neuen Gesetze, die Ukraine leide an „extremer Überregulierung des Arbeitsmarkts“, welche „bürokratische Hindernisse (...) für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Arbeitgebern schafft“. Parlamentsminister Danylo Hetmantzew kritisierte die arbeitsrechtlichen Vorschriften und erklärte, sie seien nicht passend für ein Land, das „frei, europäisch und marktorientiert“ ist.

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