TEIL 2

Die Verarmung der Ukraine und die Rolle, welche USA und EU seit 30 Jahren dabei spielen

Dies ist der zweite Teil einer zweiteiligen Serie. Der erste Teil wurde am 30. März 2022 veröffentlicht.

Die Sparmaßnahmen, die das globale Finanzkapital in der Ukraine diktierte, zielten nicht nur darauf ab, die Reste des verstaatlichten Eigentums und des Sozialstaates aus Sowjetzeiten zu zerschlagen. Es ging auch darum, die ukrainischen Oligarchen zu disziplinieren.

Zwar hatten diese Neureichen ihr Vermögen durch Integration in den Weltmarkt aufgehäuft, wo ihnen die Kapitalisten aus dem Westen bereitwillig den Weg ebneten. Dennoch zögerte das globale Finanzkapital, in die knallharte Welt des ukrainischen Big Business abzutauchen. Denn dort waren Bestechung, ständig variierende Wirtschaftsgesetze, fiktive hohe Steuersätze und Gewinnmaximierung durch Insolvenzen an der Tagesordnung.

„Die allgegenwärtige Gesetzlosigkeit stellte sich für die Außenbeziehungen, die Politik und den Handel als schädlich heraus. Westliche Investoren aus den USA, der Europäischen Union (EU) und insbesondere aus Deutschland (dem stärksten Befürworter einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine) waren ‚von dem Land enttäuscht‘“, stellte die Volkswirtschaftlerin Julia Jurtschenko 2018 fest. Dennoch leckten sie sich die Finger nach der Aussicht auf Millionen von Konsumenten und billigen, qualifizierten Arbeitskräften. Die Wissenschaftlerin zitierte Keith Richardson, den ehemaligen Generalsekretär des ERT [European Round Table of Industrialists], der in einem Interview sagte, der Untergang der UdSSR sei gerade so, als habe man „ein neues Südostasien vor der Haustür [der EU] entdeckt“.

Die Vereinigten Staaten und Europa waren nicht nur über den Verlust potenzieller Investitionsmöglichkeiten in der Ukraine besorgt, sondern auch über die geopolitische Zukunft des Landes. Sie reagierten darauf zunächst, indem sie eine Reihe von Wirtschaftsverbänden und Beratungsgruppen gründeten oder in Bewegung setzten: die American Chamber of Commerce (ACC), das Centre for US-Ukraine Relations (CUSUR), der US-Ukraine Business Council (USUBC), die European Business Association (EBA) und das Centre for International Private Enterprise (CIPE). Dies zielte in den Worten der EBA darauf ab, „Probleme des Privatsektors in der Ukraine zu diskutieren und zu lösen“.

Die 1999 gegründete European Business Association (EBA) bietet ihren Mitgliedern ein Forum, um Probleme, die die ukrainische Wirtschaft betreffen, zu diskutieren und zu lösen. Die Europäische Kommission unterstützte die Initiative, die sich zu einem der wichtigsten Wirtschaftsgremien des Landes entwickelt. Aktuell sind rund 970 europäische, ukrainische und multinationale Unternehmen in der EBA vertreten, die regionale Zweigstellen in Donezk, Dnipropetrowsk, Charkiw, Lwiw und Odessa unterhält.

Diese Gremien wurden mit Vertretern großer westlicher Unternehmen sowie der ukrainischen Wirtschaftselite besetzt, und viele von ihnen sitzen in mehr als nur einem Gremium. Im Jahr 2010 waren 105 der 500 weltweit größten transnationalen Unternehmen in diesen Wirtschaftsverbänden und Beratergruppen aktiv. Sie machten außerdem Lobbygruppen und Beratungsgremien ausfindig, die Einfluss auf die ukrainische Regierung ausüben, oder gründeten kurzerhand selbst welche.

Ein solches Gremium ist der Investorenrat, der dem Ministerkabinett der Ukraine unterstellt ist, ein anderes die Arbeitsgruppe für Justiz beim ukrainischen Justizministerium, in deren Leitung der EBA vertreten ist. Außerdem gibt es noch die Arbeitsgruppe für Steuer- und Zollpolitik, die dem Finanzministerium unterstellt ist und ebenfalls unter Co-Leitung der EBA steht. Hinzu kommt der dem ukrainischen Präsidenten unterstellte Foreign Investment Advisory Council (FIAC), sowie weitere, in verschiedenen Ministerien und staatlichen Ausschüssen tätige öffentliche Gremien.

Alle diese Lobbygruppen und Beratergremien haben, so Julia Jurtschenko, mit der Zeit in eine Vielzahl von Bereichen eingegriffen, die der ukrainischen Regierung unterstehen. Dazu zählen ihr zufolge „die Verringerung staatlicher Kontrolle über die Wirtschaftstätigkeit und Vermarktung, die Vereinfachung von Import- und Exportverfahren, die Harmonisierung von Vorschriften mit der EU im IT- und Elektroniksektor, die Aufhebung des Verbots der Medikamentenwerbung, die Schaffung eines staatlichen Landkatasters zur Vorbereitung der Privatisierung, ein vereinfachter Markteintritt für Pharma- und Versicherungsunternehmen aus der EU“, sowie auch eine „Marktreform und Eingriffe in die Steuer- und Finanzpolitik, bei Banken und Finanzinstituten außerhalb des Bankensektors und auf dem Kapitalmarkt“.

Da die Gremien in Regierungsbehörden untergebracht sind, unterbreiten sie nicht nur Vorschläge, wie die ukrainische Wirtschaft umgestaltet werden sollte. Vielmehr sind sie aktiv an der Ausarbeitung von Gesetzen und Strategiedokumenten zur Festlegung staatlicher Politik beteiligt. Kurz gesagt: Jegliche Trennung zwischen der ukrainischen Regierung und den westlichen Konzernen, Finanzhäusern und staatlichen Machtorganen ist fiktiv.

Zwischen 2006 und 2013 konnte Julia Jurtschenko mehr als 50 Fälle von „erfolgreichem Lobbying“ allein durch die EBA feststellen. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass die von der EBA vorgeschlagenen Maßnahmen in das ukrainische Recht einflossen. Auch die Vereinigten Staaten haben ihren direkten Einfluss geltend gemacht. Das Centre for International Private Enterprise, eine der vielen in Kiew aktiven Lobbyorganisationen, „dient als Brücke zwischen dem US-Kongress und den ukrainischen Behörden in Vertretung der ACC (American Chamber of Congress). Das Zentrum wird zwar von der ACC geleitet, ist aber in Wirklichkeit eins der vier Programme des National Endowment for Democracy (NED), das vom US-Kongress finanziert wird“, so die Wissenschaftlerin.

Während die politischen und wirtschaftlichen Interessen des Westens zunehmend in der Ukraine verankert wurden, nutzten der IWF, ausländische Kreditgeber und die EU die anhaltende Wirtschaftskrise im Land, um ihren Druck zu verstärken. Regelmäßig wurden Kredite zurückgehalten oder Handelsabkommen nicht unterzeichnet, weil Kiew nicht genug Unternehmen privatisiert hatte oder nicht sparsam genug war. Setzte die Regierung die geforderten Maßnahmen durch, um das versprochene Geld zu erhalten, folgten verheerende Konsequenzen für die Bevölkerung.

Im April 2009 befasste sich die New York Times in einem Artikel mit dem erneuten Scheitern der Ukraine, die Anforderungen ausländischer Kreditgeber zu erfüllen. Zwar waren in den östlichen Industriestädten des Landes Zehntausende Arbeitsplätze gestrichen worden, für die Geldgeber war dies jedoch immer noch nicht ausreichend.

In Donezk, so hieß es in dem Artikel, „hat sich die Arbeitslosigkeit auf 67.500 in den letzten zwei Monaten offiziell fast verdoppelt. Behörden vermuten, dass bis zu einem Drittel der 1,2 Millionen gemeldeten Arbeiter für einen Bruchteil ihres Nominallohns schuften.“ Anschließend heißt es: „In der Stadt Makijiwka mit 400.000 Einwohnern, die direkt vor den Toren von Donezk liegt, hat die Kirov-Fabrik im Dezember und Januar nahezu alle Arbeiter entlassen. Jetzt konkurrieren durchschnittlich vier Personen um einen Arbeitsplatz. Beamte sprechen davon, dass dieses Verhältnis in nahegelegenen Städten auf 70 bis 80 Personen pro freie Stelle steigt.“

Sich auf die Aussage eines Bankanalysten aus Kiew berufend, stellt die Times jedoch fest, dass die Erwartungen noch höher lagen. Ein weiterer Stahlproduzent in Donezk, so der Analyst, „könnte mühelos 20.000 bis 25.000 Menschen entlassen und hätte keine Produktionseinbußen.“

Fabrikruine in Kostjantyniwka in der Oblast Donezk (Juli 2008) (Creative Commons)

Um die ukrainische Wirtschaft „wettbewerbsfähiger“ zu machen, forderten der IWF und die EU die Anhebung des Rentenalters, die Abschaffung von Brennstoffsubventionen, die es Haushalten ermöglicht, zu heizen und Mahlzeiten zu kochen, sowie den Verkauf der hochprofitablen Holz- und Agrarflächen des Landes. Vor allem letzteres gilt als lukrativ, da die Ukraine über etwa 25 Prozent der weltweiten „Schwarzerde“ verfügt, die zu den fruchtbarsten Böden der Welt zählt.

All das und noch viel mehr wurde rücksichtslos durchgesetzt. In der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Journal for Labour and Social Affairs in Europe erschien 2017 eine Studie über die ukrainische Bekleidungsindustrie. Darin wird festgestellt, welchen Forderungen der internationalen Finanzgremien und EU-Vertreter die Regierung in Kiew in den letzten Jahren nachgekommen war:

  • Der gesetzliche Mindestlohn wurde eingefroren und Lohnanpassungen an die Lebenshaltungskosten blieben aus.
  • Die Indizierung der Lebenshaltungskosten wurde abgeschafft und folglich Sozialleistungen und Renten gekürzt.
  • Das Arbeitsgesetz wurde geändert, um den Zugang der Gewerkschaften zu den Betrieben einzuschränken. Das Offenlegen von „Geschäftsgeheimnissen“ wurde zu einem Entlassungsgrund erklärt. Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter mussten einer Überstundenvereinbarung zustimmen. Die Begrenzung der Überstunden wurde aufgehoben. Fabrikbesitzern wurde es gestattet, Arbeiter durch Kameras und andere Technologien zu überwachen. Die Regel, das Gewerkschaften einer Entlassung zustimmen müssen, wurde aufgehoben.
  • Nebenkosten wurden drastisch erhöht.
  • Ein Moratorium schränkte Kontrollen in Kleinbetrieben z.B. durch die Gewerbeaufsicht ein. (Dies führte zu einem Anstieg der Lohnrückstände von 1,3 Millionen Griwna [ca. 40.000 Euro] im Jahr 2015 auf 1,9 Millionen Griwna [ca. 60.000 Euro] im September 2016.)
  • Die Pflichtbeiträge der Arbeitgeber für die Sozialversicherung wurden gesenkt, wodurch weniger Geld für Sozialleistungen und Renten zur Verfügung steht.
  • Die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Sektor wurde gekürzt.
  • Familienbeihilfen für Geburten, Kinderbetreuung und Schulen wurden gekürzt.
  • Hunderte Krankenhäuser wurden geschlossen.
  • Mittel für Hochschulen und Kultureinrichtungen wurden gestrichen.

Die Autoren der Studie erläutern, dass sämtliche Maßnahmen auf die Ablehnung der Bevölkerung stießen. Umfragen ergaben, dass 70 Prozent der Bürger verärgert seien über die zunehmende Ungleichheit, 58 Prozent über den Verlust von Arbeitsplätzen und 54 Prozent hinsichtlich „westlicher Länder, die sich in die Politik der Ukraine einmischen“.

Jedoch werden derartige Maßnahmen ungehindert bis heute fortgesetzt. Besonders schwerwiegend sind die anhaltenden Angriffe auf das ukrainische Gesundheitssystem. Die Reformen im Gesundheitswesen waren sowohl durch den IWF, als auch durch die EU mittels ihres Assoziierungsabkommen mit der Ukraine veranlasst. Unter dem Vorwand einer „Effizienzsteigerung“ werden medizinische Einrichtungen nicht mehr nach der Anzahl ihrer Betten vergütet, sondern gemessen an der Zahl der behandelten Patienten. Folglich wurden schätzungsweise 50.000 Ärzte entlassen und 332 Krankenhäuser geschlossen, wobei ländliche Gebiete besonders stark betroffen waren und praktisch ohne medizinische Versorgung dastanden.

Das ukrainische Gesundheitsministeriums gibt an, dass 2020 die Hälfte der verbliebenen 2.200 Krankenhäuser unterfinanziert waren. In einem Artikel der Online-Ausgabe von Current Time heißt es, dass die Direktorin der Rehaklinik Dnipropetrowsk Ende April desselben Jahres aus Protest in den Hungerstreik trat. „In diesem Monat kürzte der staatliche Gesundheitsdienst die Mittel für die Einrichtung um mehr als das Fünffache“, so die Direktorin gegenüber Current Time. Weiter sagte sie: „Wir sprechen von einer Kürzung von zwei Millionen Griwna, was etwa 75.224 US-Dollar entspricht, auf 237.000 Griwna oder 8.914 US-Dollar.“

Die Ukraine war somit „medizinisch aktionsunfähig“, als es darum ging, das Corona-Virus zu bekämpfen, so der ukrainische Präsident Selenskyj. Über fünf Millionen Ukrainer infizierten sich mit dem Virus, 112.000 Menschen fielen ihm zum Opfer. Selenskyj bat die Vereinigten Staaten um Impfstoff, woraufhin die Biden-Regierung im Sommer 2021 zwei Millionen Dosen sandte. Gerade einmal vier Prozent der ukrainischen Bevölkerung konnten damit versorgt werden.

Beerdigung eines verstorbenen Covid-19-Patienten in Czernowitz (Westukraine) im Jahr 2020 (Creative Commons)

Laut den Zahlen des Datenanalyseunternehmens CEIC hat die Ukraine allein zwischen 2008 und 2019 über 1,4 Millionen Arbeitsplätze in der Industriebranche verloren. Die konstant in US-Dollar gemessenen Werte der Weltbank zeigen, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes im Vergleich zum Jahr 1989, als es noch eine Sowjetrepublik war, um 56 Prozent gesunken ist.

Laut Präsident Selenskyj „zahlt [die Ukraine] jährlich Milliarden US-Dollar an internationale Organisationen zurück“. Dennoch hat das Land in diesem Jahr „notleidende Kredite“ in Höhe von 40 Milliarden US-Dollar, also Schulden, deren Tilgung nicht wie vereinbart erfolgt. Für 2022 sollte die Ukraine im Februar zusätzlich zu den Zinsen, die sie für das Darlehen des IWF bezahlt, weitere 35 Millionen US-Dollar für „Zuschläge“ des IWF entrichten; im März waren es noch einmal 29 Millionen US-Dollar.

Diese finanzielle Katastrophe beruht nicht nur auf dem ausländischen Kapital, das die ukrainische Wirtschaft beherrscht, sondern auch auf den unmittelbaren politischen Eingriffen der USA und Europas. In den letzten 15 Jahren hat das Land zwei sogenannte „Revolutionen“ erlebt – eine im Jahr 2004 und eine weitere im Jahr 2014. Washington und Brüssel waren in beiden Fällen direkt involviert und unterstützten jene Kräfte, die das Land aus der Einflusssphäre Russlands herauslösen und seine Beziehungen zum Westen festigen sollten. Um das gewünschte Ergebnis herbeizuführen, scheuten sie sich nicht davor, neonazistische Straßenkämpfer die Drecksarbeit erledigen zu lassen.

Während dem „Euromaidan“ 2014, der jüngsten Übung in Sachen „Massendemokratie“, wurde eine Anweisung der damaligen US-Außenministerin Victoria Nuland an den amerikanischen Botschafter in der Ukraine zur Zusammensetzung der neuen Regierung in Kiew aufgezeichnet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Wie man feststellen kann, wurde der Wunschkandidat Washingtons, Arsenij Jazenjuk, als Premierminister eingesetzt. Er unterzeichnete sofort ein Abkommen, das den Grundstein für die spätere EU-Assoziierung der Ukraine legte. Dessen Umsetzung führte zu den bereits erwähnten Maßnahmen.

Die westlichen Medien bezeichnen diese historischen Tatsachen als „russische Desinformation“. Und sicher hat der Kreml seine eigenen Gründe, die Aufmerksamkeit auf die schmutzige Rolle der USA und der EU in den sogenannten „Revolutionen“, die nichts mit Freiheitskämpfen zu tun haben, zu lenken. Aber auch wenn die Putin-Regierung diese Fakten verwendet, um russischen Nationalismus zu fördern und ihre verbrecherische Invasion in der Ukraine zu rechtfertigen, sind sie dennoch wahr.

Seit 30 Jahren verletzen die USA und ihre Nato-Verbündeten die Souveränität der Ukraine. Die demokratischen und sozialen Rechte ihrer Bevölkerung werden systematisch mit Füßen getreten. Weder in Washington noch in Brüssel oder irgendwo sonst hatte jemand auch nur eine schlaflose Nacht, wenn ein Ukrainer, eine Ukrainerin oder eins ihrer Kinder infolge von Armut, Krankheit, Arbeitsplatzverlust oder Covid-19 sterben musste.

Vielmehr wurde das soziale Elend in der Ukraine bewusst herbeigeführt und begrüßt, und seine Früchte wurden fleißig geerntet. Für Regierungen in Washington und Europa sind die Ukrainer kaum mehr als Kriegsmaterial, das im Kampf gegen Russland verheizt wird. Und die russische Arbeiterklasse, deren Unterdrückung durch den bösen Diktator Putin jahrelang beklagt wurde, wird nun durch Wirtschaftssanktionen erdrosselt.

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