2022: Das Jahr der explodierenden Wirtschafts- und Finanzkrise

Das Jahr 2022 hat die Weltwirtschaft und das globale Finanzsystem grundlegend verändert und dabei Prozesse in Gang gesetzt, die 2023 nicht nur weiterwirken, sondern sich zuspitzen werden. Besonders markant war der explosionshafte Anstieg der globalen Inflationsrate auf den höchsten Stand seit vier Jahrzehnten sowie die Reaktion der Zentralbanken, insbesondere der US-Notenbank.

Nikkei-225-Index in einer Wertpapierhandelsfirma in Tokio, Dezember 2022 [AP Photo/Eugene Hoshiko]

Unter dem Deckmantel der „Inflationsbekämpfung“ haben die Zentralbanken die drastischste Erhöhung der Zinssätze seit der Amtszeit von US-Notenbank Chef Paul Volcker Anfang der 1980er Jahre vorgenommen. Damals war diese Maßnahme Teil des Feldzugs gegen die Arbeiter, der in den USA von der Reagan-Regierung und in Großbritannien von Premierministerin Thatcher angeführt wurde.

Damals wie heute geht es den Zentralbankern bei ihrem Kurswechsel nicht um die Senkung der Inflation– sie wissen, dass ihre Politik nicht zur Preissenkung beiträgt –, sondern darum, eine Konjunkturflaute oder sogar eine Rezession hervorzurufen, um Lohnkämpfe der Arbeiter zu vereiteln.

Zahlreiche Prognosen gehen von einer Rezession im Jahr 2023 aus, wenn die Auswirkungen der Zinserhöhungen voll zum Tragen kommen, und zwar sowohl in den großen Volkswirtschaften wie auch weltweit.

Das Londoner Zentrum für Wirtschafts- und Unternehmensforschung (Centre for Economics and Business Research) hält eine weltweite Rezession in diesem Jahr für „wahrscheinlich“. Das Zentrum geht davon aus, dass die Zentralbanken ihre geldpolitischen Straffungsmaßnahmen „trotz der volkswirtschaftlichen Schäden“ fortsetzen und dass „die Wachstumsaussichten für etliche Jahre rückläufig bleiben werden“.

Diese Einschätzungen sind pessimistischer als die Prognosen des Internationalen Währungsfonds vom Oktober, wonach im Jahr 2023 mehr als ein Drittel der Weltwirtschaft schrumpfen wird. Die Rezessionsentwicklung in Verbindung mit dem Zinsanstieg wird beträchtliche negative Veränderungen auf den Finanzmärkten nach sich ziehen.

John Plender, Kolumnist der Financial Times, schrieb kürzlich in einem Kommentar mit dem Titel „The Central Bank horror story“ (Horrorgeschichten aus der Zentralbank): „Ein Abgleiten in eine Rezession im Jahr 2023 kann die Anfälligkeit der Finanzmärkte offenlegen, die in der langen Phase extrem niedriger Zinsen entstanden ist – einer Periode, in der die Investoren ohne Rücksicht auf Verluste nach Profit jagten“.

Die im März 2020 intensivierte Niedrigzinspolitik, mit der ein Kollaps des Finanzsystems zu Beginn der Coronapandemie verhindert werden sollte, löste eine neue Welle der Finanzspekulation aus, die die Börsenkurse auf Rekordhöhen katapultierte. Durch den jetzigen abrupten Kurswechsel der Zentralbanken nimmt die Instabilität dieses finanziellen Kartenhauses zu.

Die Zinswende der amerikanischen Notenbank und anderer Zentralbanken ist nicht Ausdruck einer veränderten Weltsicht der Gralshüter des Kapitalismus. Vielmehr beruht sie auf der Einschätzung, dass der destabilisierende Faktor schlechthin der globale Protest der Arbeiterklasse ist, die gemeinsam Lohnforderungen gegen die steigende Inflation erhebt: ein Schulterschluss also, den es um jeden Preis zu unterdrücken gilt.

2022 endete mit einem leichten Rückgang der Güterinflation und einer geringfügigen Verlangsamung der Zinserhöhungen – die US-Notenbank beschränkte auf ihrer letzten Sitzung die Erhöhung des Leitzinses auf 0,5 Prozentpunkte, nachdem sie ihn jedoch zuvor viermal in Folge um jeweils 0,75 Prozentpunkte erhöht hatte. Die großen Zentralbanken machten jedoch deutlich, dass die Erhöhungen weitergehen müssen, und verwiesen zur Begründung auf die „angespannte Lage“ auf den Arbeitsmärkten.

Die US-amerikanische Notenbank erklärte, sie habe „mehr Arbeit“, die Europäische Zentralbank sprach von einem „weiten Weg vor sich“, und die britische Zentralbank, die mit dem Lohnkampf von Millionen Arbeitern konfrontiert ist, bestand darauf, dass sie „energische“ Maßnahmen ergreifen müsse.

Bereits bevor die Zinserhöhungen ihre volle Wirkung entfalten, sind die Auswirkungen auf den Finanzmärkten zu spüren. Besonders deutlich wurde dies in der September-Oktober-Krise im britischen Finanzsystem, die auf den Haushaltsentwurf der vorübergehenden Premierministerin Liz Truss folgte. Ihre Entscheidung, den Unternehmen und Vermögenden durch eine höhere Verschuldung massive Steuergeschenke zu machen, löste einen Zusammenbruch der Märkte aus, der die Finanzierung des gesamten, auf 1,5 Billionen Pfund geschätzten Rentensystems gefährdete.

Diese Marktturbulenzen waren nicht Ausdruck des Widerstands gegen eine weitere Bereicherung der Superreichen. Es ging darum, dass die Maßnahmen nicht durch größere Ausgabenkürzungen finanziert wurden. Der Schuldenanstieg erschien den Börsianern angesichts des höheren Zinsniveaus nicht mehr tragbar.

Die Verwerfungen an der Wall Street sind zwar noch nicht so heftig wie die im Vereinigten Königreich, aber nicht weniger bedeutend. Der Hauptindex, der S&P 500, ist im Laufe des Jahres um fast 20% gefallen, auch wenn die Börsianer weiterhin mit der Annahme spekulieren, dass die US-Notenbank irgendwann im Jahr 2023 mit Zinssenkungen beginnen muss.

Ungeachtet dieser Hoffnungen ist die Marschrichtung, zumindest in einigen Kreisen, klar – was erklärt, warum einer der Hauptprofiteure der supergünstigen Geldpolitik, das Autounternehmen Tesla von Elon Musk, einen so dramatischen Kurssturz verzeichnete.

Zu Jahresbeginn lag der Marktwert des Unternehmens noch bei 1,2 Billionen Dollar. Kurz vor der Weihnachtspause lag Teslas Börsenkapitalisierung bei unter 400 Milliarden Dollar, nachdem die Aktie innerhalb einer einzigen Woche um 18 % abgestürzt war, was einem Kapitalverlust von 85 Milliarden Dollar entsprach.

Aufgrund der rapiden Veränderungen auf den Finanzmärkten wurde die Forderung laut, die US-Zentralbank müsse ihre Zinserhöhungen zurücknehmen, damit sie nicht das gesamte Finanzsystem in Mitleidenschaft ziehe.

In der Financial Times forderte Bill Gross, einst der weltweit führende Anleihenmarkthändler, einen Zinserhöhungs-Stopp und verwies auf die „gefährlichen Verschuldungsniveaus“, die Anfang des Monats von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) festgestellt worden waren. Das Verschuldungsniveau ist eine Messgröße, über die allerdings nahezu nie berichtet wird oder tiefgreifendere Analysen angestellt werden.

„Nicht bilanzierte Dollar-Schulden“, warnte die BIZ, „können zwar aus den Augen und aus dem Sinn bleiben, aber nur so lange, bis die Dollar-Liquidität das nächste Mal verknappt wird.“ Laut Gross berechnete die BIZ, dass diese „versteckten ‚Schattenbank‘-Schulden bis zu 65 Billionen Dollar betragen könnten, mehr als zweieinhalb Mal so viel wie der gesamte Markt für Staatsanleihen. Und größtenteils handelt es sich um Schulden gegenüber Banken“.

Er verwies darauf, dass die historisch niedrigen Weltmarktzinsen zu „massiven Fehlallokationen von Kapital“ geführt hätten, welches größtenteils „in Beteiligungskapital, das nicht börsennotierten Unternehmen zur Verfügung gestellt wird, versteckt“ sei und letztlich „drastisch herabgeschrieben“ werden müsse.

Der Aufschwung und Aufstieg der Kryptowährungen wurden durch die Bereitstellung von praktisch kostenlosem Geld angeheizt, das alle Bereiche des Finanzsystems ankurbelte. Daher ist das Platzen der Krypto-Blase keine Ausnahmeerscheinung; und der „32-Milliarden-Dollar-Zusammenbruch“ der FTX-Börse ist nur die Spitze des Eisbergs. Gegen den Besitzer von FTX, Sam Bankman-Fried, laufen nun mehrere Strafverfahren.

Das Jahr endet mit einer weiteren bedeutenden Veränderung – der Entscheidung der Japanischen Zentralbank (Bank of Japan, BoJ), ihre sogenannte Zinskurvenkontrolle zu lockern. Im Rahmen dieser Maßnahme wurden praktisch alle neuen Staatsanleihen aufgekauft, wodurch die Zinssätze nahe Null gehalten wurden.

Zwar hat die BoJ diese Politik noch nicht offiziell aufgegeben, doch es besteht kein Zweifel an den Auswirkungen ihrer Pläne: Steigende japanische Zinssätze bedeuten, dass Gelder, die zuvor im Ausland angelegt wurden, wieder zurückfließen.

In einem Artikel mit dem Titel „Why Japan's bombshell risks another global credit crunch“ (Warum mit Japans Paukenschlag eine weitere globale Kreditklemme droht) stellte der Finanzkolumnist des britischen Telegraph, Ambrose Evans-Pritchard, fest, dass Japan mit einem Nettoauslandsvermögen von 3,6 Billionen Dollar der größte Gläubiger der Welt ist.

„Wenn sich die Geldströme umkehren und die Japaner ihr Geld zurückholen – wie sie es Ende 2007 und 2008 getan haben – kann dies sehr schnell zu einer systemweiten Kreditverknappung und einer finanziellen Kettenreaktion führen“.

Er zitierte die Äußerungen eines Finanzanalysten, der darauf hinwies, dass die extrem lockere Geldpolitik die Zinsen im Rest der Welt niedrig hielt, aber „die Kontinentalplatten verschieben sich“.

Der exakte Ablauf der Geschehnisse lässt sich nicht vorhersagen, der allgemeine Tenor der Entwicklungen ist jedoch klar.

Die einsetzende weltweite Rezession, die Aussicht auf eine weitere große Finanzkrise und die Entschlossenheit der Regierungen und Zentralbanken, die Arbeiter für die sich vertiefende Krise des Profitsystems zahlen zu lassen, werden die Entwicklung des Klassenkampfs im kommenden Jahr weiter forcieren.

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