Brief der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten an das Internationale Komitee der Vierten Internationale

Den folgenden Brief schickte ein Vertreter der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten (YGBL) in Russland an das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI). Die YGBL hat ihre politische Unterstützung für das IKVI erklärt.

Liebe Genossen,

Die Entwicklung der letzten Woche wird auf den Nato-Krieg in der Ukraine gegen Russland einen großen Einfluss haben. Die Lieferung von Panzern durch die Nato-Länder kann den Verlauf des Kriegs verändern und dazu führen, dass aus einem indirekten, bzw. Stellvertreterkrieg ein direkter Konflikt zwischen den Nato-Ländern und Russland entsteht. Diese Entwicklung schließt den Einsatz von Atomwaffen nicht aus.

Während des gesamten Kriegs haben die Nato-Staaten ihre Hilfe für die Ukraine kontinuierlich ausgebaut. Wenn dies jetzt auch Panzer umfasst, woraus könnte dann die zukünftige Hilfe bestehen? Wie lange wird es dauern, bis die Nato-Länder beschließen, den Luftraum über der Ukraine mit Kampfjets zu sperren? Oder werden sie direkt die Eroberung der Krim oder sogar einen Atomschlag in Erwägung ziehen?

Die westlichen Medien versuchen, ihrem Publikum regelmäßig einzureden, dass die Nato nicht als Erste Atomwaffen einsetzen werde. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, und das vom Sturz bedrohte Putin-Regime zu Atomwaffen greifen würde, würde dies nichts an der Verantwortung der Nato ändern, deren Politik einen solchen Einsatz provoziert.

Die westlichen Medien versuchen, Russland als eine Gesellschaft von Monstern darzustellen, die sich am Wunsch nach der Annexion der ganzen Ukraine berauschen. Dieser Verleumdung muss ich widersprechen. Die russische Gesellschaft besteht genau wie die Gesellschaft der Nato-Länder im Wesentlichen aus zwei sich bekämpfenden Klassen: Den Arbeitern und den Kapitalisten. Russland ist bei Weitem nicht so monolithisch, wie die Medien es darzustellen versuchen.

Interessant ist, dass die pro-russischen Medien zu den gleichen Schlussfolgerungen kommen wie die westlichen Medien, nur dass für sie ganz Russland im „nationalen“ Kampf gegen „Globalismus und Liberalismus“ vereint ist. Auf diese Weise versuchen sie, die russische Gesellschaft zu konsolidieren, die keineswegs so gefestigt ist.

Ich möchte deutlich machen, dass die russische Gesellschaft in der Frage des Kriegs gespalten ist. Es gibt mindestens so viele Menschen, die ein Ende der Feindseligkeiten wünschen, wie es Menschen gibt, die die Feindseligkeiten in der Ukraine unterstützen. Und das sagen die Zahlen der Regierung selbst. Die tatsächlichen Zahlen werden zeigen, dass der Widerstand gegen Putins Regime und gegen diesen Krieg in Wahrheit noch viel größer ist.

Und selbst die Befürworter der Militäraktion sind sich in ihrer Unterstützung für das Putin-Regime keineswegs einig. Viele der Befürworter gehen von der Illusion aus, dass der gegenwärtige Krieg ein Krieg gegen den Imperialismus und eine unipolare Welt sei. Sie sind sich zwar bis zu einem gewissen Grad des reaktionären Charakters von Putins Regime bewusst, aber sie unterstützen den Krieg, weil sie glauben, dass dies die einzige Möglichkeit sei, dem Nato-Imperialismus Widerstand zu leisten.

Die reale Bedrohung durch die Nato, die ein großer Teil der Bevölkerung spürt, heizt zweifellos die Unterstützung für das Putin-Regime weiter an. Putins ganze Propaganda basiert auf einer Mischung aus Wahrheit und Lüge. Sie zielt darauf ab, die Arbeiter, die sich der Gefahr des westlichen Imperialismus bewusst sind, dazu zu bringen, dass sie Putin den Kampf dagegen anvertrauen, als ob er der Beschützer ihrer Interessen wäre.

Und indem die Arbeiter die Aufrüstung der Nato-Mächte und besonders Deutschlands Entsendung von Leopard-Panzern in die Ukraine wahrnehmen, werden sie sich der realen Gefahr eines umfassenden Kriegs mit der Nato bis hin zum Einsatz von Atomwaffen bewusst. Und weil die Arbeiter ein unterentwickeltes sozialistisches Bewusstsein haben, sehen sie zum Putin-Regime keine Alternative.

Das Putin-Regime versucht, diesen Patriotismus, zu dem es angeblich „keine Alternative“ gibt, mit der Erfahrung des „Großen Vaterländischen Krieges“ zwischen der UdSSR und Deutschland zu untermauern. Dazu gehört aber auch eine echte antikommunistische Propaganda. Putin versucht, das derzeitige Regime der kapitalistischen Restauration mit der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs gleichzusetzen, die noch ein Arbeiterstaat war, wenn auch ein degenerierter. Und dies, obwohl das derzeitige Regime einen offenen Hass auf die Oktoberrevolution und die Bolschewiki schürt. Für Putin geht es in erster Linie darum, „die Massen“ im Sinne des großrussischen Chauvinismus zu beeinflussen.

Es ist bemerkenswert, wie die russische Propaganda gegen die Ukraine arbeitet. Putins gesamte „Spezialoperation“ beruht auf folgenden zwei Prinzipien: „Entmilitarisierung“ und „Entnazifizierung“. Der zweite Grundsatz dient dazu, zu verschleiern, dass der erste auf einem Deal mit dem Imperialismus beruht. Außerdem haben sich beide Prinzipien in ihr Gegenteil verkehrt: Die Militarisierung der Ukraine hat sich verschärft, und die Neonazis haben vor dem Hintergrund des Kriegs ihre Stellung im Apparat gestärkt und die oppositionellen Kräfte ausgeschaltet.

Wenn Putin sich um die Neonazis kümmert, die im ukrainischen Staatsapparat großen Einfluss haben, dann nur in dem Sinne, dass sie den Interessen der Nato dienen und sowohl an der ideologischen als auch an der militärischen Front die antirussische Kampagne unterstützen. Wenn sich die Neonazis neutral verhielten, würde Putin ihre Existenz akzeptieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass sein Idol der reaktionäre monarchistische Philosoph Iwan Iljin ist, der Hitlers Aufstieg zur Macht und seinen „Kampf gegen den Bolschewismus“ unterstützte.

Letztlich geraten alle diese Illusionen, die von Putins Propaganda genährt werden, umso stärker unter Druck, als das Abenteuer des Putin-Regimes zu Scheitern droht und seinen reaktionären Charakter immer offener erweist.

Jeder Arbeiter muss verstehen, dass es unmöglich ist, den Imperialismus auf der Grundlage des bürgerlichen Nationalismus zu besiegen. Die Bourgeoisie ist sich trotz ihrer inneren Konflikte in einer grundlegenden Frage völlig einig: dass sie die Kämpfe der Arbeiterklasse unterdrücken muss. Aber das wird noch nicht vollständig verstanden.

Die russische Gesellschaft ist gespalten. Die Armen haben eine negativere Einstellung zum Krieg als die Wohlhabenden. Der Krieg zieht immer mehr Familien in Mitleidenschaft. Im Herbst 2022 stärkte die Mobilisierung noch die Verbindung zwischen der Front und der Arbeiterklasse. Auch wenn der Krieg heute noch nicht offen abgelehnt wird, weil die Menschen die Repressalien des Putin-Regimes fürchten, macht sich doch Unzufriedenheit breit. Viele Menschen wissen einfach nicht, wie es weitergehen soll und was sie in einer solchen Situation tun sollen.

Der Bankrott von Putins „Spezialeinsatz“, der durch die Niederlagen der russischen Truppen in Cherson und in der Nähe von Charkow deutlich wurde, schürt diese Gefühle nur noch. Selbst in offiziellen staatlichen Umfragen äußern sich viele Menschen offen gegen den Krieg. Die russische Arbeiterklasse hat verwandtschaftliche, intellektuelle und freundschaftliche Beziehungen zur ukrainischen Arbeiterklasse. Sie ist von diesem Krieg angewidert.

Der wahre Stand der Dinge ist stärker als jede Propaganda. Die verblendeten, ausgebeuteten Arbeiter Russlands machen langsam, im Zickzackkurs, Fortschritte beim Verständnis des gegenwärtigen Krieges. Ihre Situation beflügelt diese Vorwärtsbewegung. Da die Massen nicht wissen, was sie tun sollen, suchen sie nach einem vernünftigen Ausweg aus einer unvernünftigen Situation.

Junge Menschen sind wie überall die Hauptvertreter des Antikriegsflügels in der russischen Gesellschaft. Doch trotz einer gewissen Fortschrittlichkeit weist die junge Generation noch eine Reihe von Mängeln auf. Ein übermäßiger Widerstand macht Jugendliche zu einer guten Zielscheibe für die Propaganda der Nato-Staaten. Doch selbst unter diesem Druck von allen Seiten entstehen unter den Jugendlichen die Keimzellen einer künftigen massenhaften Antikriegsbewegung auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.

Putins Propaganda versucht auch, die junge Generation unter Druck zu setzen. Alle Aktivitäten seines Regimes zielen darauf ab, in der Jugend den „Geist des Patriotismus“ zu fördern. Der Beginn der „Spezialoperation“ hat diesen Prozess auf ein unglaublich hohes Tempo beschleunigt. Die junge Generation weiß über den Zweiten Weltkrieg Bescheid, aber das Regime will ihr Wissen auf den Kampf „gegen Faschismus“ und „für das Vaterland“ beschränken. Die ältere Generation ist schon lange in dieser Propaganda gefangen, während die jüngere Generation eine gewisse Unabhängigkeit besitzt.

Allerdings hat Putins Propaganda, die sich auf die Erfahrungen des Kriegs zwischen der UdSSR und Deutschland beruft, eine wahre Büchse der Pandora geöffnet. Die Jugendlichen werden von der Geschichte des 20. Jahrhunderts in Bann gezogen, und ihre fortschrittlichsten Elemente weigern sich, der Methodik des russischen Chauvinismus zu folgen. Sie gehen den Dingen auf den Grund und geben sich mit keiner oberflächlichen Betrachtung mehr zufrieden. Interessant ist dabei ein Vergleich mit historischen Perioden in der Entwicklung des Landes.

Die Haltung der breiten Masse gegenüber der Oktoberrevolution war immer widersprüchlich; aber seit 1991 ist im Allgemeinen ein positiver Trend zu verzeichnen, bei dem die Revolution an Unterstützung gewinnt. Im Jahr 2005 schaffte das Putin-Regime sogar den 7. November als Feiertag ab und führte einen neuen Feiertag ein, den 4. November als „Tag der Einheit des Volkes“. Dennoch setzte sich der Trend weiter fort. Gegenwärtig haben mehr Menschen eine positive Einstellung zur Oktoberrevolution als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte des modernen Russlands.

Was die Sowjetunion betrifft, so hat die ältere Generation ihr gegenüber immer eine positive Einstellung gehabt. Die jungen Leute haben eine nüchterne Einstellung zur UdSSR und versuchen, sich einen Reim auf die Geschichte zu machen. Aus einer kürzlich durchgeführten Umfrage zum hundertjährigen Bestehen der Sowjetunion geht hervor, dass fast jeder dritte junge Mensch eine positive Einstellung zur Sowjetunion hat. Und das nach all den Jahren, in denen seit der Restauration des Kapitalismus die Massen mit Haufen von Lügen überschüttet worden sind.

Die Restauration des Kapitalismus selbst ist vor allem mit negativen Folgen, mit Katastrophen für die Bevölkerung, verbunden. Nur die wohlhabenden Bevölkerungsschichten sehen sie positiv und rechtfertigen den Übergang zum Kapitalismus mit dem Wunsch nach „wirtschaftlicher Freiheit“. Im Allgemeinen lassen sich in der einen oder anderen Meinung Spuren eines Klassenstandpunkts erkennen. Die Arbeiter haben die beste Einstellung sowohl zur Revolution als auch zur UdSSR, während die bürgerlichen Schichten eine negative Einstellung zu allem haben, außer zur Restauration des Kapitalismus, die ihnen das „Recht auf Eigentum“ verschaffte.

Trotz der von mir erwähnten positiven Entwicklung leidet die russische Gesellschaft nach wie vor an Unwissenheit und Unkenntnis über die Geschichte des eigenen Landes. Auch wenn die Stimmungen von Arbeitern und Jugendlichen gewisse positive Tendenzen aufweisen, so sind ihre Köpfe doch noch immer von vielen Klischees der stalinistischen Propaganda oder derjenigen von Gorbatschow, Jelzin und Putin vergiftet. Und wegen dieses Durcheinanders sind viele einfach verwirrt in ihrem Verständnis der Oktoberrevolution, der Sowjetunion und der Restauration des Kapitalismus. Dies trägt auch dazu bei, wie der aktuelle Krieg wahrgenommen wird, und spaltet die Arbeiterklasse.

Ein Haupthindernis für die Entwicklung eines Antikriegsbewusstseins in der russischen Arbeiterklasse und Jugend ist das Fehlen einer echten sozialistischen und revolutionären Stimme. Der durch und durch verrottete russische Parlamentarismus vertritt in keiner Weise die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung. Alle derzeitigen Parteien, von der Rechten bis zur Linken, betreiben eine kriegstreiberische Politik, die ihren „westlichen Gegenspielern“ nachempfunden ist Sie versuchen mit allen Mitteln, die Stabilität von Putins Regime in einem sehr instabilen Umfeld zu sichern.

Von der illegalen Opposition kann keine der Parteien oder Organisationen ein klares revolutionäres Programm für die Arbeiterklasse vorlegen. Vielmehr verwirrt jede von ihnen das Verständnis der aktuellen Situation und spaltet die Arbeiterklasse. Und das schwächt sie. Von den „sozialistischen“ und „kommunistischen“ Gruppen und Organisationen, die sich gegen Putins Regime stellen, kann keine ein klares Programm für die Arbeiterklasse vorlegen.

Die Stalinisten, die Maoisten, die Pablisten und andere, all diese politischen Kräfte stellen keine historisch fortschrittliche Bewegung gegen Kapitalismus und Krieg dar. Jede einzelne von ihnen hat ihren Verrat an der Arbeiterklasse bereits unter Beweis gestellt.

Die Stalinisten sind die Hauptschuldigen an der gegenwärtigen Situation, denn der Krieg ist eine langfristige Folge der Restauration des Kapitalismus in der UdSSR, die auf Initiative der stalinistischen Bürokratie durchgeführt wurde. Der wichtigste Erbe der KPdSU, die KPRF, unterstützt Putins militärisches Vorgehen in der Ukraine.

Die Maoisten versuchen, die Arbeiterklasse zu verwirren. Einige von ihnen haben den Klassenkampf durch Identitätspolitik ersetzt. Für andere ist die Verehrung Maos und seines Guerillakampfes wichtiger als das Verständnis der modernen Gesellschaft und des zentralen Schauplatzes in den Städten, auf dem sich der Kampf zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie abspielt.

Die Pablisten haben allgemein den Stalinismus von links abgedeckt, aber heute sind sie indirekte Verteidiger des amerikanischen Imperialismus. Einige von ihnen verteidigen ganz offen die korrupte bürgerliche Selenskyj-Regierung. Andere schaffen Verwirrung über den Krieg, indem sie seine Risiken und Folgen auf jede erdenkliche Weise herunterspielen und eine passive Beobachtung fördern, anstatt auf der Grundlage eines revolutionären Programms einzugreifen. Ihre Praxis beruht auf der Unterordnung der Arbeiterklasse unter die legalen parlamentarischen Parteien, vor allem unter die Kommunistische Partei (KPRF).

Die russische Arbeiterklasse unterstützt den Antikriegskampf in den Nato-Ländern auf jede erdenkliche Weise. Diese Unterstützung kann eine Brücke zur Stärkung der internationalen Einheit der Arbeiterklasse in Russland, der Ukraine, Europa, Amerika, Asien und Australien werden. In Russland, wie in jedem kapitalistischen Land, gibt es Opposition gegen den Krieg, und sie wird sich noch ausweiten. Aber dieser Widerstand kann nur auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Programms des sozialistischen Internationalismus wirklich an Stärke gewinnen.

Wir haben erkannt, dass ein echter Kampf für den Aufbau des Internationalen Komitees der Vierten Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution nur möglich ist, wenn die Arbeiterklasse eines jeden Landes über die Geschichte der Oktoberrevolution, der Sowjetunion und der Restauration des Kapitalismus unterrichtet ist. Und das ist nicht möglich, ohne die Geschichte des Kampfs des Trotzkismus gegen den Stalinismus und Pablismus zu studieren. Das bedeutet, dass wir bei unseren Aktivitäten zum Aufbau einer Sektion in Russland und in der gesamten ehemaligen Sowjetunion mit einer sehr wichtigen Aufgabe konfrontiert sind: Das Bewusstsein der Arbeiterklasse muss von allem stalinistischen und putinistischen Schmutz befreit und mit revolutionärer Klarheit erfüllt werden.

Mit revolutionären Grüßen
Andrei Ritsky
Im Namen der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten (YGBL)

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