Zahl der Erdbebenopfer in der Türkei könnte laut Gouverneur auf 150.000 steigen

Bei zwei Nachbeben der Stärke 6,4 und 5,8 sind am Montag in Hatay an der türkisch-syrischen Grenze mindestens acht Menschen getötet und etwa 300 verletzt worden. Die Hauptursache dürfte der Mangel an Zelten und Containern sein, die als Notunterkünfte für die Erdbebenopfer dienen. Denn aus diesem Grund kehrten einige Menschen zwei Wochen nach den verheerenden Erdbeben in Häuser zurück, die „leichte“ oder „mittlere“ Schäden aufwiesen.

Unterdessen bestätigt sich der Verdacht, dass die Zahl der Todesopfer weit über den offiziellen Zahlen liegt, die nach den Beben vom 6. Februar genannt wurden. In einer Rede vom 13. Februar, die in den sozialen Medien die Runde machte, sagte der Gouverneur von Şırnak, Osman Bilgin, dass die tatsächliche Zahl der Todesopfer fünfmal höher sein könnte als offiziell verlautbart. Bilgin ist staatlicher Koordinator für den erdbebengeschädigten Bezirk Nurdağı in der Provinz Gaziantep. Am 13. Februar wurde die Zahl der Todesopfer in der Türkei von der Regierung mit rund 31.000 angegeben.

Luftaufnahme vom Erdbeben-zerstörten Hatay, 7. Februar 2023 [AP Photo/IHA]

In einer Ansprache an die Opfer des Bebens in Nurdağı räumte Bilgin ein, dass der Staat zu spät eingegriffen habe: „Es tut mir leid, vielleicht sind wir zu spät gekommen, aber die Situation ist viel schlimmer als das, was Sie gesehen haben und wussten. Vielleicht 3-4 Mal, vielleicht 5 Mal schlimmer als die herausgegebenen Zahlen.“

Bilgin fuhrt fort: „Wir werden den Bezirk Nurdağı vollständig abreißen, diese Entscheidung haben wir gestern mit dem Umweltminister getroffen. Es wird alles abgerissen. Ich sage Ihnen das, damit Sie die Katastrophe verstehen... Es gibt ein Wohnhaus, in dem 150 Menschen gestorben sind. Natürlich, es war der Wille Gottes. Aber wir müssen unsere Verantwortung als Menschen wahrnehmen.“

Die wirkliche Verantwortung des Staates hätte darin bestanden, Vorkehrungen gegen die Erdbebengefahr zu treffen, vor der Wissenschaftler und staatliche Institutionen seit Jahren in offiziellen Berichten gewarnt hatten. Siedlungen an der Verwerfungslinie und Gebäude, die bei größeren Erdbeben als unsicher gelten, hätten evakuiert werden müssen. Anstatt diese Maßnahmen zu ergreifen, die die Gewinne der Bau- und Immobilienunternehmen geschmälert hätten, hat die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Menschen in der Region ihrem Schicksal überlassen.

Seit gestern liegt die offizielle Zahl der Todesopfer in der Türkei bei über 47.000. Die Zahl der Todesopfer im schwer getroffenen Syrien wird seit zehn Tagen unverändert mit 5.800 angegeben. Da Syrien seit 2011 durch den Nato-Krieg für einen Regimewechsel und imperialistische Sanktionen verwüstet wurde, dürfte die wirkliche Zahl tragischerweise weit höher liegen.

Die genannten Schätzungen zeigen, dass die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien weitaus schrecklicher ist, als bisher angenommen. Und es ist eine soziale Katastrophe, da die Folgen hätten verhindert werden können. Der Verlust an Menschenleben beläuft sich auf die Größenordnung der bislang größten Naturkatastrophen des 21. Jahrhunderts: des Erdbebens und des Tsunamis im Indischen Ozean im Jahr 2004 mit etwa 228.000 Toten und des Erdbebens in Haiti 2010 mit schätzungsweise 316.000 Toten, .

Das türkische Ministerium für Umwelt, Urbanisierung und Klimawandel gab bekannt, dass bis gestern 927.000 Gebäude in dem betroffenen Gebiet inspiziert wurden, von denen etwa 118.000 eingestürzt oder stark beschädigt waren. Letzte Woche erklärte Erdoğan, dass 2,2 Millionen Erdbebenopfer aus der Region geflohen seien. Man geht davon aus, dass diese Zahl inzwischen bei über 4 Millionen liegt.

Erdoğan sagte: „Diejenigen, die außerhalb der Container-Städte unterkommen, erhalten einen monatlichen Mietzuschuss von 5.000 Lira für Hausbesitzer und 2.000 Lira für Mieter.“ Die Unterscheidung zwischen Mietern und Hausbesitzern hat zu sozialem Unmut geführt, und für 2.000 Lira bekommt man in der Türkei sowieso keine Mietwohnung.

In Syrien sind Schätzungen der UN zufolge über 5 Millionen Menschen nach den Erdbeben obdachlos. Nur wenig internationale Hilfe hat das von den imperialistischen Mächten blockierte Land erreicht. Die anhaltende Besetzung Nordsyriens durch US-amerikanische und türkische Truppen sowie durch islamistische dschihadistische Kräfte verhindert eine zentralisierte Reaktion der syrischen Regierung.

Auf einem Türkeibesuch am Sonntag versprach US-Außenminister Antony Blinken in einer weiteren Zurschaustellung imperialistischer Heuchelei noch einmal 100 Millionen Dollar an Erdbebenhilfe für die Türkei und Syrien. Es ist nicht bekannt, welcher Anteil der insgesamt 185 Millionen US-Dollar an „Hilfsgeldern“ in Syrien ankommen und die Erdbebenopfer erreichen wird. Die Summe verblasst außerdem im Vergleich zu den Milliarden von Dollar, die die Nato für Waffen ausgegeben hat, um Syrien zu zerstören und in der Ukraine Krieg zu führen.

Darüber hinaus hat Israel am Sonntag zivile Gebiete in der syrischen Hauptstadt Damaskus bombardiert, wobei mindestens fünf Menschen getötet und 15 verletzt wurden. „Der Angriff vom Sonntag ist der bislang tödlichste israelische Angriff in der syrischen Hauptstadt“, sagte Rami Abdel Rahman von der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Al Jazeera berichtete, dass der Luftangriff „ein dicht besiedeltes Viertel in der Nähe des Umayyaden-Platzes traf“.

Vergangenen Monat griff Israel den internationalen Flughafen von Damaskus an, wobei vier Menschen getötet wurden.

Während es zwei Wochen nach dem Beben nur wenige Berichte über die Not der Erdbebenopfer in Syrien gibt, ist die Lage in den betroffenen Gebieten der Türkei nach wie vor katastrophal. Die Erdoğan-Regierung brüstet sich mit den von ihr gesammelten und bereitgestellten Hilfsgütern, doch auf Bildern aus der Region sieht man Massen von Menschen, die nachts draußen in der Kälte schlafen.

Nach Angaben der Tageszeitung Evrensel gibt es im erdbebengeschädigten Bezirk Yeşilyurt in Malatya noch immer keine staatliche Reaktion oder Hilfe. Ein Überlebender wird mit den Worten zitiert: „Seit dem Erdbeben sind 14 Tage vergangen, aber der Staat sieht diesen Bezirk nicht. Vom Graben in den Trümmern bis hin zu allem anderen haben wir hier alles mit unseren eigenen Mitteln gemacht. Es gibt keine Toiletten; wir benutzen seit Tagen leere Felder. Wir haben seit 13 Tagen nicht mehr geduscht und sind mit Schmutz und Dreck bedeckt. Hier gibt es keinen Staat.“

Eine ältere Frau sagte: „Seit Tagen kommt die Hilfe nur von den Menschen. Vom Staat hat sich niemand blicken lassen. Warmes Essen gibt es sowieso nicht. Wir bekommen nur einmal am Tag Suppe. Wir wissen nicht, was wir tun sollen, wir haben kein Haus und wir wissen nicht, wo wir bleiben sollen.“

Es gibt schwerwiegende Probleme, insbesondere droht der Ausbruch von Epidemien in den Zeltstädten, die von der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD eingerichtet wurden. In einem Gespräch mit Evrensel am Sonntag im Bezirk Pazarcık in Maraş sagte Prof. Dr. Sibel Perçinel von der Gewerkschaft der Beschäftigten im Gesundheitswesen (SES): „Der Bedarf an Toiletten und Bädern ist nicht gedeckt. Das AFAD-Team kümmert sich nicht ausreichend um die Erdbebenopfer. Wir haben einen Patienten gesehen, dessen Beine mit Wundbrand infiziert waren und bei dem keine Amputation durchgeführt wurde.“

Sie wies auch auf die schreckliche Situation der syrischen Flüchtlinge in der Türkei hin: „Die Situation der syrischen Familien ist hier noch schwieriger. Sie leben in größeren Gruppen und haben Kommunikationsprobleme. Freiwillige können hier weitere präventive Gesundheitsdienste anbieten. Wenn die Hygienebedingungen nicht so schnell wie möglich verbessert werden, kann es zum Ausbruch von Infektionen kommen, die die Arbeit noch schwieriger machen.“

Die Regierung Erdoğan bezeichnet die beiden schweren Erdbeben der Stärke 7,8 und 7,6 am 6. Februar als „Jahrhundertkatastrophe“, leugnet jedoch weiterhin ihre Verantwortung für die vermeidbaren Auswirkungen. Bislang wurden 133 Personen, zumeist Vertreter von Bauunternehmen, verhaftet. Aber kein einziger Regierungsvertreter ist zurückgetreten.

Allerdings hat Hüseyin Cimşit von der Anwaltskammer Samsun Strafanzeige eingereicht gegen Präsident Erdoğan, den Minister für Umwelt, Urbanisierung und Klima Murat Kurum, den Innenminister Süleyman Soylu, den Verteidigungsminister Hulusi Akar, den Gesundheitsminister Fahrettin Koca und den Minister für Verkehr und Infrastruktur Adil Karaismailoğlu.

Die Strafanzeige bezieht sich Berichten zufolge auf Bürgermeister, Gemeinderatsmitglieder, Projektleiter und Manager von Mobilfunknetzbetreibern, die zwischen 1999 und 2023 in den vom Erdbeben verwüsteten Provinzen tätig waren.

Die Klageschrift enthält Vorwürfe wie „Verursachung des Todes von mehr als 36.000 Menschen durch Untätigkeit und Amtsmissbrauch“, „Ermöglichung des Einsturzes von Tausenden von Gebäuden“ und „Verursachung eines Engpasses für die Wirtschaft des Landes“.

Nur durch eine unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse können die Hauptverantwortlichen für dieses kolossale soziale Verbrechen, sowohl im politischen Establishment als auch im privaten Sektor, juristisch zur Verantwortung gezogen werden.

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