Griechenland: Massenproteste und Streiks nach dem Zugunglück bedrohen die Regierung

Das Zugunglück im Tal von Tempi hat Proteste und Streiks in ganz Griechenland ausgelöst, die das Überleben der rechten Nea-Dimokratia-Regierung (ND) gefährden. Eine Woche nach dem Zusammenstoß, der mindestens 57 Menschenleben forderte – sechs Menschen kämpfen noch im Krankenhaus um ihr Leben – ist ein ursprünglich eintägiger Eisenbahnerstreik am Montag bis mindestens Mittwoch verlängert worden.

Protestversammlung auf dem Syntagma-Platz in Athen am Sonntag, 5. März 2023. Landesweit protestierten Zehntausende [AP Photo/Yorgos Karahalis]

Für den heutigen 8. März hat der griechische Gewerkschaftsverband des Öffentlichen Dienstes (ADEDY) einen 24-stündigen landesweiten Streik und am Mittag eine Massendemonstration auf dem Klafthmonos-Platz in Athen angekündigt. Millionen von Arbeiter sind so wütend, dass ADEDY so weit ging, ein „Ende der Privatisierungspolitik“ zu fodern. Wie es in ihrem Aufruf heißt, müssen „die wirklich Verantwortlichen für das tödliche, verbrecherische Zugunglück von Tempi beim Namen genannt werden“.

Ebenfalls für den heutigen Tag haben auch die Gewerkschaften der griechischen Seeleute (PNO) und der Grundschullehrer (DOE) Streiks angekündnigt.

Das Zugunglück ereignete sich letzten Dienstag kurz vor Mitternacht auf der Strecke von Athen nach Thessaloniki, als der Intercity-62-Personenzug mit rund 350 hauptsächlich jungen Passagieren frontal mit einem Güterzug zusammenstieß.

Es handelt sich um den tödlichsten Eisenbahnunfall in der Geschichte Griechenlands, der den bisher schlimmsten Unfall von 1968 weit in den Schatten stellt. Damals waren in der Nähe von Korinth 34 Menschen bei einem Frontalzusammenstoß zwischen zwei Personenzügen gestorben. Europaweit ist es das schlimmste Unglück seit 2013, als in Spanien 80 Menschen beim Entgleisen eines Zugs ums Leben kamen.

Am Wochenende demonstrierten tausende Eisenbahner, Jugendliche und Studierende im ganzen Land, und Zehntausende versammelten sich vor dem Parlament auf dem Athener Syntagma-Platz.

Protestversammlung am Sonntag, 5. März 2023, auf dem Syntagma-Platz in Athen. Auf dem Transparent der Eisenbahner im Vordergrund steht: „Es war kein menschliches Versagen“ [AP Photo/Yorgos Karahalis]

Eisenbahner trugen ein großes Transparent mit der Aufschrift „Es war kein menschliches Versagen.“ Ein Transparent der Attischen Metallarbeitergewerkschaft und der griechischen Werftarbeitergewerkschaft bezieht sich auf die „Entwicklungs“-Politik der letzten Regierungen, in deren Rahmen große Teile der staatlichen Industrie verkauft worden sind: „Die Schienen der Entwicklung sind von Blut getränkt. Der Kampf wird die Opfer des Zugunglücks verteidigen“. Auf anderen Transparenten stand „Nieder mit der Mörderregierung“ und „Ihre Politik kostet Menschenleben“.

In Thessaloniki trug ein Student ein Plakat, auf dem eine blutige Hand zu sehen war, mit dem Text „Wir sitzen alle im selben Waggon“.

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In beiden Städten ging die Bereitschaftspolizei mit Tränengas, Blendgranaten und Knüppeln brutal gegen die Demonstranten vor. In Athen warf die Bereitschaftspolizei während ihres Angriffs sogar einen Tränengaskanister in eine U-Bahnstation. Der zentrale Syntagma-Platz wurde innerhalb weniger Minuten von Demonstranten geräumt.

Am Montag gingen die Proteste weiter. Mehrere tausend Studierende demonstrierten in der Hafenstadt Piräus. Auf einem Transparent (siehe Tweet unten) des Koordinationskomitees der Studenten von Piräus wurde die Regierung gewarnt: „Wir werden die Stimme aller Toten sein. Die neue Generation verzeiht euch nicht.“

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In Athen stellten Studentenorganisationen 57 Stühle vor dem Verkehrsministerium auf, welche die Todesopfer symbolisierten.

Die ND-Regierung und ihre Unterstützer in den Medien versuchten bereits 24 Stunden nach dem Unglück, jede Verantwortung für die Todesopfer von sich zu weisen. Sie behaupteten, die Hauptursache sei das „menschliche Versagen“ des 59-jährigen Bahnhofsvorstehers in Larissa, Vassilis Samaras, gewesen.

Dies hat wütende Gegenreaktionen hervorgerufen. Millionen begreifen, dass ND und andere Regierungen wie die sozialdemokratische Pasok und die pseudolinke Syriza (Koalition der Radikalen Linken) für die unsicheren Bedingungen im Eisenbahnwesen verantwortlich sind: Sie haben es seit zehn Jahren mit ihrer Sparpolitik ausgeblutet, so dass es heute nur noch von einem Bruchteil des benötigten Personals betrieben wird. Am Sonntag sah sich Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis zu einer Entschuldigung gezwungen.

Die Parlamentswahlen in Griechenland müssen vor Juli stattfinden, und als Termin für die erste Runde war der 9. April vorgesehen. Doch dies fällt nun mit einem geplanten 40-tägigen Gedenken an die Opfer zusammen. Auf der Website Euractiv heißt es nun: „Nea Dimokratia ... lag bisher in allen Umfragen vorne. Aber die Tragödie wird voraussichtlich erheblichen Einfluss auf die Wahlen haben.“

Am Sonntag wurde der Bahnhofsvorsteher Samaras wegen fahrlässiger Tötung angeklagt und bis zu seinem Prozess in Untersuchungshaft genommen, nachdem er siebeneinhalb Stunden lang vor einem Untersuchungsrichter ausgesagt hatte. Sein Anwalt, Stephanos Pantzartzidis, erklärte später: „Mein Klient hat wahrheitsgemäß ausgesagt, ohne Angst, sich selbst zu belasten.“

Pantzartzidis machte deutlich, wie gefährlich das griechische Eisenbahnnetz ist. Er erklärte, sein Mandant sei „20 Minuten lang für die gesamte Sicherheit [der Züge] in Zentralgriechenland verantwortlich gewesen“.

Der Greek Reporter  schrieb am Montag, der Bahnhofsvorsteher „Samaras soll erklärt haben, seine Kollegen hätten in der Nacht des Unfalls um etwa 23 Uhr ihre Posten verlassen, sodass er das Netz allein verwalten musste“.

Am Montag veröffentlichte Reuters ein wertvolles Exposé von Angeliki Koutantou und Michele Kambas mit dem Titel „Griechisches Zugunglück entlarvt Vernachlässigung des Eisenbahnnetzes“. Es bestätigt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ein so schweres Unglück wie in Tempi passieren würde. Darin hieß es: „Einige Eisenbahner und Informanten aus der Branche wiesen im Gespräch mit Reuters darauf hin, dass die ferngesteuerten Überwachungs- und Signalsysteme, die den Zugverkehr kontrollieren und die Zugführer leiten, seit Jahren nicht mehr richtig funktionieren.“

Die Autoren erklärten: „Der Bahnhof von Larissa hatte ein lokales Signalsystem, das Züge über eine Entfernung von etwa fünf Kilometern verfolgt ... Das bedeutet, die Bahnhofsvorsteher mussten per Funk untereinander und mit den Zugführern kommunizieren, um die Lücken zu schließen, und die Signale wurden manuell bedient.“

Laut einer „Eisenbahn-Quelle“ war der Streckenabschnitt, in dem die Züge zusammengestoßen sind, „ein schwarzes Loch. Ferngesteuerte Überwachungs- und Signalsysteme waren noch nicht eingerichtet worden.“

Reuters schilderte die verheerende Tatsache, dass dieser Teil der Strecke – zwischen den beiden größten Städten des Landes, die Millionen Menschen miteinander verbindet – früher, als die Betreibergesellschaft TrainOSE noch staatlich war, über ferngesteuerte Überwachungssysteme kontrolliert worden war. Das System fiel jedoch der brutalen Sparorgie von EU, IWF und Europäischer Zentralbank zum Opfer, deren Diktate alle Regierungen seit 2008 umgesetzt haben.

Demonstration gegen den Austeritätskurs auf dem Syntagma-Platz in Athen 2015

In dem Bericht heißt es: „OSE verfügte von 2007 bis 2010 über ein Fernüberwachungssystem für den Abschnitt, in dem sich der Unfall ereignete, sagte Yiannis Kollatos, ein ehemaliger Bahnhofsvorsteher des Unternehmens, der die Technologie in Larissa eingerichtet und betrieben hatte, gegenüber Reuters.

Doch in den Jahren nach 2010 verfiel das System nach und nach. Laut dem Informanten führten Unterfinanzierung und Stellenabbau zu fehlerhafter Wartung der Ausrüstung.“

Panagiotis Terezakis, ein Unternehmensberater der OSE, bestätigte dies: „Nach 2011 begann das System nach und nach zu kollabieren. Es wurde nicht gewartet, bis zu dem Punkt, an dem das Fernsteuerungssystem fast vollständig zusammenbrach.“

Reuters weist darauf hin, dass TrainOSE „im Jahr 2010 gemäß den Bedingungen des ersten Rettungspakets“ – dem ersten von drei „Schocktherapie“-Austeritätspaketen – aufgeteilt worden sei: „Im Jahr 2014 ordnete OSE eine Umgestaltung der ferngesteuerten Verkehrskontroll- und Signalsysteme an, die 2016 beendet sein sollte. Doch fast ein Jahrzehnt später sind die Geräte noch immer nicht im gesamten 2.500 km langen Eisenbahnnetz installiert.“

Die Autoren weisen auch auf das Ergebnis des brutalen Stellenabbaus im griechischen Eisenbahnwesen hin. Ehe die Sparmaßnahmen begannen, waren dort noch mehr als 6.000 Menschen beschäftigt. Seither haben mehrere Regierungen Tausende von ihnen entlassen, und Syriza hat TrainOSE im Jahr 2017 für 45 Millionen Euro an ein italienisches Unternehmen verkauft. Heute zählt die gesamte nationale Belegschaft nur noch 750 Mitarbeiter.

Im Bericht heißt es: „Die Eisenbahner, die letzte Woche als Reaktion auf die Katastrophe in  Streik getreten sind, haben sich immer wieder über Unterbesetzung beschwert.“ Ein OSE-Vertreter habe bestätigt: „Es gibt derzeit 133 Bahnhofsvorsteher, aber es sollten eigentlich 411 sein.“ Die Unterbesetzung habe ein derart kriminelles Ausmaß angenommen, dass „die OSE laut einem Dokument des Unternehmens schon Wochen vor dem Unfall versucht hat, 73 Bahnhofsvorsteher mit sechsmonatigen befristeten Verträgen ab April einzustellen.“

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