Mindestens 29 Flüchtende vor Tunesien ertrunken

In der vergangenen Woche sind bei drei Bootsunglücken mindestens 29 Flüchtende vor der tunesischen Küste ertrunken, weitere 67 Menschen werden nach Angaben von Hilfsorganisationen vermisst.

Diese neuerlichen Tragödien ereigneten sich inmitten eines wahren Exodus von Flüchtenden aus Tunesien. Die überwiegend aus den Ländern Zentral- und Westafrikas sowie aus Pakistan und Bangladesch stammenden Menschen sind Opfer einer rassistischen Kampagne der tunesischen Regierung und der verbrecherischen Flüchtlingsabwehr der Europäischen Union.

Die tunesische Küstenwache konnte nur elf Flüchtende aus einem der gekenterten Boote nördlich der Stadt Mahdia retten, ein anderes Patrouillenboot zog acht Leichen aus dem Wasser. Zwei Fischkutter bargen rund 60 Kilometer vor der Küste der Hafenstadt Sfax weitere 21 Leichen aus dem Meer. Die tatsächliche Zahl der Todesopfer dürfte aber weit höher liegen. Gegenüber Sky News erklärte einer der Schmuggler, der die Überfahrten organisiert, in der letzten Woche 130 Todesopfer gezählt zu haben. „Es gab viele Katastrophen diese Woche,“ ergänzte er.

Die tunesische Küstenwache berichtete von mindestens 80 aufgebrachten Booten in der letzten Woche mit rund 3000 Flüchtenden an Bord, die nach Italien übersetzen wollten und nun zurück nach Tunesien gebracht worden sind.

In Italien selbst sind im gleichen Zeitraum 6564 Flüchtende an der Küste registriert worden, und damit fast genauso viele wie in den ersten drei Monaten 2022. Insgesamt sind in diesem Jahr bereits 27.000 Flüchtende an Italiens Küste gestrandet, wobei nach Angaben der Vereinten Nationen 12.000 von Tunesien aus gestartet sind. Das sind zehn Mal so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres, als nur 1300 Flüchtende aus Tunesien registriert worden waren.

Die Hilfsorganisation Forum für Soziale und Ökonomische Rechte (FTDES) berichtete zudem, dass die tunesische Küstenwache insgesamt 14.000 Flüchtende an der Überfahrt nach Italien gehindert habe. Tunesien hat damit Libyen als Hauptausgangspunkt der Flüchtlingsüberfahrten über das Mittelmeer in Richtung Europäische Union abgelöst.

Allerdings haben nur 1771 der bislang in Italien registrierten Flüchtenden aus Tunesien auch die tunesische Staatsbürgerschaft. Einem Bericht der Süddeutschen Zeitung zufolge gaben 3660 Personen die Elfenbeinküste als Herkunftsland an, 3177 Guinea, 1986 Pakistan, 1896 Bangladesch und 1195 nannten Ägypten.

Der unmittelbare Auslöser für diesen dramatischen Anstieg der Flüchtlingszahlen aus Tunesien war eine rassistische Hetzrede des tunesischen Präsidenten Kais Saied am 21. Februar dieses Jahres. Vor den Generälen des Nationalen Sicherheitsrates erklärte Saied Flüchtende und Einwanderer zu Sündenböcken für die tiefe Wirtschaftskrise des Landes, die zu grassierender Armut und zur Verelendung der breiten Masse der Bevölkerung geführt hat.

Saied erklärte: „Es kommen immer noch Horden illegaler Einwanderer aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahara, mit all der Gewalt, der Kriminalität und den inakzeptablen Praktiken, die damit einhergehen.“ Er verbreitete dabei die auch unter rechtsextremen und faschistischen Organisationen in Europa weit verbreitete These eines bewusst gesteuerten „Bevölkerungsaustauschs“. Wörtlich sagte er: „Das unausgesprochene Ziel der aufeinanderfolgenden Wellen illegaler Einwanderung besteht darin, Tunesien in ein weiteres afrikanisches Land zu verwandeln, das nicht mehr zu den arabischen und islamischen Nationen gehört.“

Tatsächlich stammen bei insgesamt 12 Millionen Einwohnern nur rund 21.000 Menschen in Tunesien aus Zentral- und Westafrika. Doch der mit diktatorischen Befugnissen regierende Saied entfachte mit seiner Ansprache vor allem unter den Sicherheitskräften, aber auch bei den rückständigsten Schichten der Bevölkerung pogromartige Hetzjagden auf Migranten.

Nur zwei Stunden nach Saieds Rede begann die Polizei in der Hafenstadt Sfax mit ihren 300.000 Einwohnern eine Verhaftungswelle. Migranten aus Zentral- und Westafrika wurden willkürlich und wahllos ins Gefängnis gesteckt. Vermieter und Arbeitgeber kündigten den Migranten Wohnungen und Jobs, oftmals aus Angst davor, kriminalisiert zu werden, weil sie Menschen aus Zentralafrika Wohnraum und Arbeit gegeben hatten.

Hunderte Migranten haben sich in Tunis außerhalb des Gebäudes der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mit Zelten und Planen versammelt in der Hoffnung, Schutz vor Überfällen und Übergriffen zu finden. Sie vegetieren dort ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen und ausreichend Nahrungsmitteln.

Mehr als die Hälfte der zuvor 10.000 in Sfax lebenden Migranten aus Zentral- und Westafrika haben die Stadt inzwischen verlassen. Ein Teil ist in die Herkunftsländer zurückgekehrt, aber Tausende Menschen versuchen, in Europa Schutz vor dem Terror der tunesischen Sicherheitsbehörden zu finden.

Der tiefere Grund für die Massenauswanderung aus dem kleinen nordafrikanischen Land liegt in der verheerenden Wirtschaftskrise, die viele Länder Afrikas erfasst hat. Die Covid-19-Pandemie hat zu einem massiven Einbruch der Wirtschaftsleistung geführt und vor allem den Tourismus- und Dienstleistungssektor getroffen. Der vor einem Jahr veröffentlichte OECD-Report Tunesien 2022 erklärte, „dass die Tunesier vor der schlimmsten Wirtschaftskrise seit einer Generation stehen“.

Seither hat der von den Nato-Mächten provozierte Krieg in der Ukraine die Situation dramatisch verschlechtert. Energie und Nahrungsmittelpreise sind regelrecht explodiert, Grundnahrungsmittel kaum noch zu bekommen und die offizielle Inflationsrate beträgt 10,4 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 40 Prozent. Gleichzeitig sind die Zustimmungswerte für die Regierung von Präsident Saied dramatisch eingebrochen. Bei den letzten Parlamentswahlen haben nur noch 11 Prozent der Wahlberechtigten überhaupt ihre Stimme abgegeben, während gleichzeitig Proteste und Streiks zugenommen haben.

Der drohende wirtschaftliche Zusammenbruch Tunesiens hat in der Europäischen Union Alarmstimmung ausgelöst. Der italienische Minister für Zivilschutz und Meer, Sebastiano Musumeci von der faschistischen Partei Brüder Italiens (Fratelli d’Italia), erklärte Tunesien zu einer Zeitbombe und meinte in Bezug auf die steigende Zahl der Schutzsuchenden: „Der Strom schwillt an.“ Ministerpräsidentin Giorgia Meloni erklärte vor einer Woche, dass „Tunesiens ernsthafte finanzielle Probleme eine neue Migrationswelle entfachen“ könnten.

Ins gleiche Horn stieß der Vizepräsident der Europäische Kommission Josep Borell, der befürchtet, dass ein ökonomischer Kollaps Tunesiens einen neuen Migrationsstrom nach Europa auslöst. Die EU hat daher vorsorglich schon zusätzliche 110 Millionen Euro für die Staaten Nordafrikas bereitgestellt, mit denen Überfahrten von Flüchtenden über das Mittelmeer nach Europa verhindert werden sollen.

Gleichzeitig üben die Regierungen Italiens und Frankreichs Druck auf den Internationalen Währungsfonds aus, die Verhandlungen über einen 2-Milliarden-Dollar-Kredit für das Land abzuschließen. Doch mit dem Kredit würde der Regierung Saieds ein Spardiktat auferlegt, das sie zwingt, die letzten verbleibenden Subventionen zu streichen und den öffentlichen Sektor drastisch zu verkleinern. Der Verwaltungsapparat und insbesondere die Sicherheitsbehörden sind jedoch die letzte Machtbasis Saieds. Die Verhandlungen sind daher unterbrochen.

Die Süddeutsche Zeitung wiederum berichtete, dass am Montag der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune angeboten habe, Tunesien gemeinsam mit mehreren Golfstaaten einen Kredit zu gewähren. Außerdem sollen Kreditverhandlungen Saieds mit den Regierungen Russlands und Chinas kurz vor dem Abschluss stehen.

Das will die Europäische Union jedoch um jeden Preis verhindern, da sie Tunesien für eine strategische Partnerschaft bei ihrer Flüchtlingsabwehr auserkoren hat. Unter anderem sollen in Tunesien „Asylzentren“ errichtet werden. Damit sind Internierungslager gemeint, in denen die Europäische Union über Asylanträge von Flüchtenden entscheiden kann, ohne an die Regeln, die innerhalb der Europäischen Union noch gelten, gebunden zu sein. Zusätzlich soll die tunesische Küstenwache ähnlich ausgebaut werden, wie es die EU bereits mit der libyschen vorexerziert hat.

Die Technik der illegalen Pushbacks, die die libysche Küstenwache ebenso anwendet wie die griechische, haben sich die tunesischen Grenzschützer bereits angeeignet. Gegenüber Sky News berichteten Flüchtende aus der Elfenbeinküste, wie ihr Boot von der tunesischen Küstenwache gestoppt wurde. „Sie haben unsere Smartphones genommen, wir waren mitten auf hoher See, und sie haben unsere Motoren geklaut und uns einfach dem Meer überlassen. Sie sind eine Bande von Räubern und Rassisten.“

Die in Tunesien lebenden Migranten sind zwischen Hammer und Amboss geraten: zwischen eine rassistische Regierung in Tunesien auf der einen Seite, die sie zu Sündenböcken der Wirtschaftskrise erklärt, und eine nicht minder menschenverachtende Europäische Union auf der anderen, die eine gnadenlose Flüchtlingsabwehr verfolgt.

Ein Bericht des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen hat jüngst nachgewiesen, dass die Europäische Union der so genannten libyschen Küstenwache Beihilfe zu Straftaten leistet. Der von unabhängigen Menschenrechtsexperten verfasste Bericht stützt sich auf mehr als 400 Interviews, Dokumente und Besuche in Libyen.

Bei der Veröffentlichung des Berichts in Genf erklärte der Mitverfasser Chaloka Bayani, es seien schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die Zivilbevölkerung und vor allem gegen Migranten aufgedeckt worden, die in Zusammenhang mit den Aktivitäten der von der Europäischen Union finanzierten und ausgebildeten libyschen Küstenwache stehen. Er betonte: „Wir sagen nicht, dass die EU diese Straftaten begangen hat, aber ihre Unterstützung ist eine Beihilfe zur Ausführung dieser Straftaten.“

In den Haftanstalten unter der Kontrolle der Küstenwache und anderer staatlicher Einrichtungen würden Menschen gefoltert, erpresst, vergewaltigt und ermordet, andere würden wie Sklaven verkauft und teils sexuell ausgebeutet. Im Bericht heißt es dazu: „Diese Einrichtungen erhielten technische, logistische und finanzielle Unterstützung von der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten, unter anderem für das Abfangen und die Rückführung von Migranten.“ Diese Pushbacks sind illegal und ein schwerer Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.

Die Europäische Union behauptet hingegen, dass es bei der Unterstützung der libyschen Küstenwache darum gehe, im Mittelmeer Menschenleben zu retten. Das ist angesichts der alleine in diesem Jahr bereits mindestens 500 Flüchtenden, die im Mittelmeer ertrunken sind, und weiteren Tausenden, die von der libyschen, tunesischen und griechischen Küstenwache illegal zurückgedrängt wurden, der Gipfel des Zynismus.

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