Bund und Länder beenden die letzten Corona-Schutzmaßnahmen

Am vergangenen Freitag endeten mit der Maskenpflicht für Besucher in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Arztpraxen die letzten Corona-Schutzmaßnahmen. Das Infektionsschutzgesetz lief aus und wurde zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie durch kein neues ersetzt.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nahm das zum Anlass, die Pandemie für beendet zu erklären. „In Anbetracht auch der letzten Erkenntnisse im Corona-Expertenrat und Auswertung der Entwicklung der Krankheitslast durch neue Varianten kann man sagen, dass die Pandemie auch für Deutschland beendet ist“, schrieb er auf Twitter.

In verschiedenen Interviews und öffentlichen Statements erklärte Lauterbach den Umgang mit der Pandemie zum Erfolg: „Wir haben in Deutschland die Pandemie erfolgreich bewältigt und auch mit einer guten Bilanz“, behauptete er am Mittwoch in Berlin. Diese Aussage ist nicht nur zynisch. Sie zeigt den kriminellen Charakter der herrschenden Klasse, die in der Pandemie sprichwörtlich über Leichen gegangen ist und das menschliche Leben und die Gesundheit der Bevölkerung dem Profit der Banken und Großkonzerne untergeordnet hat. Die Konsequenzen sind dramatisch.

Hier einige Zahlen und Fakten:

• Über 170.000 Todesfälle wurden im Verlauf der Pandemie gemeldet, darunter 124 Kinder und Jugendliche. Noch immer werden durchschnittlich rund 100 Todesfälle pro Tag registriert.

• Die tatsächlichen Todeszahlen liegen noch weiter darüber. Laut dem ifo-Institut lag die Übersterblichkeit in den Jahren 2020 bis 2022 bei 180.000. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) lag sie allein in den Jahren 2020 und 2021 bei 195.000. Die Lebenserwartung ist in Deutschland um 5,7 Monate zurückgegangen.

• Mindestens eine Million Menschen leiden unter Long-Covid. Die tatsächlichen Zahlen sind nicht erfasst Die Folgen können fast sämtliche Organe betreffen, Menschen arbeitsunfähig machen und ein Leben lang anhalten.

• Durch die ungehinderte Ausbreitung des Virus konnten sich neue Varianten entwickeln, die infektiöser und resistenter sind als die ursprüngliche Form des Virus. Die sich derzeit ausbreitende Variante XBB.1.16 hat das Potenzial, die Immunabwehr von Geimpften und Genesenen zu unterlaufen.

Wenn Lauterbach all dies als „Erfolg“ feiert, tut er dies als ruchloser Vertreter des deutschen Kapitalismus. Während die Pandemie für viele Arbeiter und ihre Familien Krankheit, Tod und massive soziale Angriffe bedeutete, war sie für die herrschende Klasse eine Bereicherungsorgie. Dank der „Corona-Notpakete“ zu Beginn der Pandemie und dem Offenhalten der Betriebe konnten Großkonzerne, Banken und Superreiche Rekordprofite einfahren.

Wenn Lauterbach die bisherige Pandemiepolitik kritisiert, dann von rechts. Er erklärte erneut, dass die langen Schulschließungen nicht notwendig gewesen seien. Dieser Standpunkt wird mittlerweile von allen bürgerlichen Parteien vertreten. So bezeichnet etwa die Linkspartei die Schul- und Kitaschließungen als „unverständlich“, und die CDU schwadroniert von „verheerende[n] Kollateralschäden“.

Führende Politiker aus Regierung und Opposition fordern zudem eine „Enquete-Kommission“, die die getroffenen Maßnahmen evaluieren und auf „ihre Verhältnismäßigkeit prüfen“ soll. Es ist offensichtlich, dass eine solche Kommission die Maßnahmen nicht wissenschaftlich untersuchen, sondern sie rückwirkend kriminalisieren wird.

Das verdeutlichen unter anderem die Äußerungen der parlamentarischen Geschäftsführerin der FDP-Fraktion, Christine Aschenberg-Dugnus. Es sei „wichtig, dass die Hürden für Grundrechtseingriffe künftig höher angesetzt werden und der parlamentarischen Kontrolle unterliegen“, erklärte sie.

Das ist das Narrativ der extremen Rechten. Schutzmaßnahmen als Grundrechtseingriffe darzustellen, war eines der Hauptargumente der AfD und Corona-Leugner während der Pandemie. Dass Regierungsmitglieder diese Argumentation nun eins zu eins übernehmen, macht deutlich, dass die herrschende Klasse bei einer erneuten Pandemie von Anfang an keinerlei Schutzmaßnahmen mehr ergreifen wird.

Dabei ist auch die Corona-Pandemie bei weitem nicht „beendet“. Die Zahl der mit Corona infizierten Menschen wird vom Robert Koch-Institut (RKI) auf derzeit 300.000 bis 500.000 geschätzt. Da diese Zahlen jedoch hauptsächlich auf freiwilligen PCR-Tests basieren, liegt die Dunkelziffer noch weitaus höher.

„Das Meldewesen von Corona ist vorbei. Aber Corona selbst ist nicht vorbei“, erklärte der Pharmakologe Thorsten Lehr gegenüber der Deutschen Presse Agentur (dpa). Er gehe davon aus, dass die Inzidenz aktuell im vierstelligen Bereich liegt. Dies würde bedeuten, dass sich jede Woche über ein Prozent der Bevölkerung infiziert.

Schon die verfügbaren Daten zeigen, wie dramatisch die Lage in Wirklichkeit ist. In 102 medizinischen Behandlungseinrichtungen und in 25 Alten- und Pflegheimen wurden in den letzten Wochen aktive Ausbrüche gemeldet. Jede Woche werden zudem zwischen 3000 und 5000 Menschen mit Corona hospitalisiert. Die Zahl der Corona-Patienten, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen, liegt bei 932. Jeden Tag sterben noch fast 100 Menschen an Corona.

Hinzu kommt die Ausbreitung neuer Corona-Mutationen. Die bisher schon sehr infektiösen Omikron BA Sublinien, auf die die jüngsten Impfstoffe angepasst sind, wurden mittlerweile durch Omikron XBB.1 verdrängt. Die XBB-Sublinien, die mittlerweile 72 Prozent des Infektionsgeschehens ausmachen, zeichnen sich zusätzlich zur hohen Infektiösität durch ihre große Immunresistenz aus.

Äußerst alarmierend ist hierbei die Variante XBB.1.16, die auch unter dem Namen „Arcturus“ bekannt ist. Die Sublinie zeichnet sich durch drei zusätzliche Mutationen (im Vergleich zur „Kraken“-Variante XBB.1.5) im Spikeprotein aus. Die technische Leiterin für Covid-19 bei der Weltgesundheitsorganisation WHO, Dr. Maria Van Kerkhove, bezeichnete sie bereits Ende März als die bisher am schnellsten übertragbare Variante des Virus. In Indien sorgt ihre Ausbreitung aktuell für einen massiven Anstieg sowohl der Infektionen als auch der Todesfälle.

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