Verhärtete Fronten im Streik von Kanadas öffentlichem Dienst

Arbeiter in Kanada und auf der ganzen Welt müssen ihre mehr als 100.000 streikenden kanadischen Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst unterstützen.

Die Bundesbeschäftigten, die am 19. April die Arbeit niederlegten, kämpfen für Themen, die für Arbeiter überall von entscheidender Bedeutung sind: Schutz vor der grassierenden Inflation, mehr Arbeitsplatzsicherheit und Änderungen der Rahmenbedingungen, um eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen.

Ihr Kampf ist Teil eines wachsenden Aufschwungs der globalen Arbeiterklasse. Dieser äußert sich in Frankreich seit drei Monaten in Massenprotesten und Streiks gegen die brutalen, antidemokratischen Rentenkürzungen von Präsident Emmanuel Macron. In ganz Europa wächst eine Streikwelle an, die durch Preiserhöhungen und Angriffe auf soziale Rechte angeheizt wird. In den USA lehnten die Eisenbahner von ihren Gewerkschaften gebilligte Einigungsvorschläge in Tarifverhandlungen ab, die viele Zugeständnissen enthielten. Die US-Regierung unter Präsident Biden und der Kongress haben jedoch den bevorstehenden Streik verboten.   

Streikende Kolleginnen des kanadischen öffentlichen Dienstes in Kitchener, Ontario

Die herrschende Klasse in Kanada setzt sich unerbittlich dafür ein, dass die angeblich „fortschrittliche“, von den Gewerkschaften unterstützte liberale Bundesregierung den Beschäftigten im öffentlichen Dienst reale Lohnkürzungen auferlegt. Auf diesem Weg soll ein regressiver Maßstab für alle Beschäftigten des Landes, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor, gesetzt werden.

Zu Beginn des Streiks erklärte die Zeitung Globe and Mail, die der reichsten Familie Kanadas gehört, unverblümt: „Ottawa muss an der Position festhalten, die Lohnerhöhungen unterhalb der Inflationsrate vorsieht.“

Die herrschende Elite hat mit Wut und Gehässigkeit auf die Forderung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst des Bundes reagiert und verweigert ihnen sogar das Recht, einen Teil der Arbeitszeit im Homeoffice zu leisten. Sie werten dies als Bedrohung der „Direktionsrechte“ und prangern es als „Minderung der Produktivität“ an, wie der Chef der Royal Bank of Canada, der größten Bank des Landes, sich ausdrückte.

Der kanadische Premierminister Justin Trudeau und seine liberale Regierung machen sich die Forderung zu eigen, an den Bundesbeschäftigten ein Exempel zu statuieren, um die wachsende Militanz der Arbeiter im Keim zu ersticken. Auf provokative Weise ziehen sie die Tarifverhandlungen schon seit über zwei Jahren in die Länge. Es geht um neue Tarifverträge für die bei Service Canada beschäftigten Verwaltungsangestellten und Wartungs- und Notfallmitarbeiter einschließlich der Feuerwehrleute, sowie für die Beschäftigten der Steuerverwaltung Revenue Canada und verschiedener staatlicher Behörden.    

Am Montag hat Finanzministerin Chrystia Freeland das überarbeitete Lohnangebot der Regierung von 3 Prozent pro Jahr in einem Dreijahresvertrag rückwirkend bis 2021 erneut als „sehr fair“ bezeichnet. Und dies unter Bedingungen, in denen die offizielle Inflationsrate im vergangenen Jahr bei über 8 Prozent lag und die Lebensmittelpreise gleichzeitig um weit über 10 Prozent gestiegen sind. Zuvor hatte Freeland erklärt, die Forderungen der Streikenden bedrohten den „postpandemischen“ Sparkurs der Regierung.

Trudeau und Freeland behaupten zwar, dass sie sich um eine Verhandlungslösung zur Beendigung des Streiks bemühten. Sie strecken aber keineswegs die Hand aus, sondern ballen vielmehr die Faust in der Tasche.

Die Arbeiter, die ein Recht auf „Arbeit aus der Ferne“ (Homeoffice) durchsetzen wollen, werden mit Misstrauen betrachtet. Gleichzeitig übt die Regierung ihr „Direktionsrecht“ aus, indem sie Arbeiter aktiv ermutigt, den Streik durch Homeoffice zu unterlaufen. Ende der letzten Woche gerieten die Verhandlungen ins Stocken, als die Regierung die Gewerkschaft, die die Beschäftigten vertritt, die Public Service Alliance of Canada (PSAC), als „unflexibel“ bezeichnete

Die Kernaussagen der Regierung sind in Wirklichkeit nur abgemilderte Versionen der Schmähungen und Lügen, welche die Leitmedien seit Woche gegen die Streikenden verbreiten. In ganz Kanada haben Leitartikler und Kolumnisten die Forderungen der Streikenden als „lächerlich“ bezeichnet. Die Beschäftigten werden als gierig und bestversorgt dargestellt - obwohl die überwiegende Mehrheit der streikenden Beschäftigten weniger als 70.000 Dollar im Jahr verdient und viele sogar nur 40.000 Dollar. Es wird versucht, die Arbeiter gegeneinander auszuspielen mit der Behauptung, dass alle Lohnerhöhungen für die Bundesbeschäftigten aus den Steuern der anderen Arbeiter bezahlt werden müssten.

Tatsächlich verfügt die Gesellschaft über reichlich Ressourcen. Als es darum ging, die Banken und Finanzmärkte zu Beginn der Pandemie zu retten, waren die Regierung und die Bank of Canada in der Lage, innerhalb weniger Tage 650 Milliarden Dollar aufzubringen. Dagegen ist der öffentliche Dienst ein Scherbenhaufen, die Inanspruchnahme von Lebensmittelhilfen hat ein Rekordhoch erreicht, und viele, wenn nicht sogar die meisten Erwerbstätigen hangeln sich von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck durch. Das liegt daran, dass eine Finanzelite die Ressourcen der Gesellschaft monopolisiert und für ihre räuberischen wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen vergeudet.

Die Trudeau-Regierung erklärt, dass die Arbeiter Reallohnkürzungen hinnehmen müssten, und lässt die öffentlichen Dienste ausbluten. Gleichzeitig steckt die Regierung zig Milliarden in einen Krieg an der Seite der Nato gegen Russland und bereitet sich auf einen Krieg mit China vor, indem sie die Feuerkraft des kanadischen Militärs durch die Anschaffung neuer Kriegsflotten und 88 F35-Kampfjets sowie die „Modernisierung“ des mit den USA gemeinsamen Nordamerikanischen Verteidigungskommandos (NORAD) drastisch ausbaut.

Die streikenden Bundesbeschäftigten im kanadischen öffentlichen Dienst müssen Klarheit darüber schaffen, dass ihr Kampf sich gegen die Kriegs- und Sparpolitik der herrschenden Klasse richtet. Sie können große Unterstützung mobilisieren, wenn sie zu einer Gegenoffensive der Arbeiterklasse aufrufen, die sich gegen Militarismus, inflationsbedingte Lohnkürzungen und den Abbau öffentlicher Dienste richtet und für soziale Gleichheit kämpft. Dies hat schon das Beispiel der Lehrerinnen und Lehrer im vergangenen November gezeigt, die sich im Bildungsstreik in Ontario einem üblen Anti-Streik-Gesetz widersetzten.

Doch die Führer der Gewerkschaft der Beschäftigten im öffentlichen Dienst (PSAC) und des Gewerkschaftsdachverbandes Canadian Labour Congress (CLC) sind enge Verbündete der Trudeau-Regierung. Sie sind begeisterte Befürworter des „Vertrauensabkommens“, mit dem die von den Gewerkschaften unterstützte New Democratic Party (NDP) zugesagt hat, die liberale Minderheitsregierung bis Juni 2025 im Amt zu halten.

Die Gewerkschaftsbürokratie und ihre sozialdemokratischen NDP-Verbündeten sind entschlossen, den Kampf der öffentlichen Bediensteten in der Zwangsjacke des gewerkschaftlichen Tarifkampfs und der Politik des kapitalistischen Establishments gefangen zu halten.

Es sind dieselben Kräfte, die den Streik der Beschäftigten im Bildungswesen von Ontario im Keim erstickten, als dieser zu einem Generalstreik zu werden drohte und eine direkte Herausforderung für die verhasste konservative Regierung unter Dug Ford im Bundesstaat Ontario darstellte. In geheimen Gesprächen hinter verschlossenen Türen erklärten sich die Gewerkschaftsführer bereit, die streikenden Hilfskräfte wieder an die Arbeit zu schicken, wenn Ford im Gegenzug sein drakonisches Anti-Streik-Gesetz aufheben würde. Nachdem die Arbeiter demobilisiert worden waren, setzten die Funktionäre einen Tarifvertrag durch, der große Zugeständnisse machte.

Der PSAC-Vorsitzende Chris Aylward mag zwar gelegentlich feurige Reden halten und sogar feststellen, dass die Regierung mit dem Niedrighalten der Bundesbeschäftigten-Gehälter „die Löhne aller Beschäftigten im ganzen Land unterdrückt“. Doch die PSAC-Bürokratie wird weiterhin alles tun, um den Kampf der öffentlichen Bediensteten im Bund zu begrenzen und zu isolieren.

Die Gewerkschaft hat zugelassen, dass die Regierung die Verhandlungen über Jahre hinausgezögert hat, nachdem die vorherigen Verträge ausgelaufen waren. Sie hat die Gesetzgebung der Regierung zum „systemrelevanten Dienst“ akzeptiert, was bedeutet, dass etwa 45.000 der 155.000 Beschäftigten in den fünf bestreikten Tarifeinheiten weiterarbeiten müssen. Und die Gewerkschaft hat bereits signalisiert, dass sie sogar von ihrer angesichts der Inflation völlig unzureichenden Forderung nach einer jährlichen Lohnerhöhung von nur 4,5 Prozent für die meisten der betroffenen Beschäftigten abrücken wird.

Vom ersten Tag des Streiks an hat die rechtsgerichtete Presse, die mit den oppositionellen Konservativen verbündet ist, die Regierung aufgefordert, den Streik zu verbieten. Das Streikrecht wird seit Jahrzehnten systematisch angegriffen, wobei alle Parteien, einschließlich NDP, Notstandsgesetze zur Wiederaufnahme der Arbeit erlassen haben. Im Jahr 1991 kriminalisierte die konservative Regierung Mulroney einen dreiwöchigen Streik der Bundesbeschäftigten. Die derzeitige liberale Regierung griff auf Notstandsgesetze zurück, um einen Streik der kanadischen Post im Jahr 2018 und einen Streik der Hafenarbeiter in Montreal im Jahr 2021 zu brechen, und hat Eisenbahner und andere Arbeiter wiederholt mit solchen Maßnahmen bedroht.

Trudeau zieht es jedoch vor, seine Partner in der Gewerkschaftsbürokratie und der NDP zu benutzen, um ein Ausverkaufsabkommen zu erzwingen. Schließlich spielen sie eine entscheidende Rolle für die Stützung seiner Regierung und die Unterdrückung des Klassenkampfs. Sie haben die ruinöse „Profit-vor-Leben“-Politik seiner Regierung in der Pandemie voll unterstützt, die zu einer Welle von Masseninfektionen und Tod führte, und sie sind überzeugte Befürworter des Ukraine-Kriegs und der Wiederaufrüstung. Bezeichnenderweise kritisierten Aylward und andere PSAC-Führer zwar schnell die gigantische Subvention von 13 Milliarden Dollar, die Trudeau letzte Woche für die im Bau befindliche VW-Batteriefabrik im Süden Ontarios ankündigte, aber sie verloren kein Wort über die weitaus größeren Summen, die Ottawa für den Krieg aufwendet.  

Die streikenden öffentlichen Bundesbediensteten müssen sich in Acht nehmen. Der korporatistische Gewerkschaftsapparat wird ihren Streik ausverkaufen, wenn sie den Kampf nicht selbst in die Hand nehmen. Dies setzt voraus, dass sie das arbeiterfeindliche Bündnis zwischen Gewerkschaft, NDP und Liberalen zurückweisen und in jedem Betrieb vom Gewerkschaftsapparat unabhängige Aktionskomitees bilden.

Die erste Aufgabe solcher Aktionskomitees besteht darin, den Kampf auszuweiten, indem andere Arbeitergruppen in ganz Kanada und international erreicht werden. Der Streik muss zur Speerspitze einer Gegenoffensive der Arbeiterklasse werden, die den Widerstand gegen alle Angriffe auf die sozialen und demokratischen Arbeiterrechte mobilisiert. Diese Offensive wird eine Massenbewegung für eine Arbeiterregierung und für die sozialistische Neuorganisation der Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln. Die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse - nicht die Erwirtschaftung von Profiten für eine Handvoll aufgeblähter Oligarchen - wird ihr grundlegendes Prinzip sein. 

Ein besonderer Appell muss an die Arbeiter in den Vereinigten Staaten gerichtet werden, wo die Medien systematisch alle Kämpfe der internationalen Arbeiterklasse, einschließlich der Kämpfe im nördlichen Nachbarland, totschweigen.

Vor fast genau einem Monat, am 23. und 24. März, kam US-Präsident Biden nach Ottawa, um die militärisch-sicherheitspolitische Partnerschaft zwischen dem kanadischen und dem US-Imperialismus und dem Wirtschaftsblock Kanada-USA-Mexiko für einen Handelskrieg, einen Weltkrieg und den Klassenkrieg im eigenen Land zu stärken. Im Gegensatz zu dieser räuberischen Allianz müssen die Arbeiter in den USA und Kanada ihre lange Tradition des gemeinsamen Kampfs wiederbeleben und mit einer sozialistischen Perspektive versehen. Erinnert sei an die Massenerhebungen der 1930er und 1940er Jahre.

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