Der Kampf gegen Krieg und die Perspektive für die Arbeiterklasse bei den türkischen Wahlen

Diesen Bericht hielt Ulaş Ateşçi, ein führendes Mitglied der Sosyalist Eşitlik Grubu (Sozialistische Gleichheitsgruppe) in der Türkei, auf der internationalen Online-Kundgebung zum 1. Mai 2023. Die vollständige Kundgebung kann hier abgerufen werden. Alle Reden finden Sie unter wsws.org/mayday.

Revolutionäre Grüße von der Sosyalist Eşitlik Grubu in der Türkei.

Dieser 1. Mai hat einen besonderen Hintergrund. Der Krieg in der Ukraine wird mehr und mehr zum direkten militärischen Konflikt zwischen den imperialistischen US-Nato-Mächten und der Russischen Föderation. Die Kampagne der IYSSE zum Aufbau einer globalen Massenbewegung gegen diesen Krieg, der die gesamte Menschheit mit einer nuklearen Katastrophe bedroht, stellt die einzige revolutionäre sozialistische Opposition gegen diese Gefahr weltweit dar.

Ulaş Ateşçi an der Internationalen Online-Kundgebung zum 1. Mai 2023

Innerhalb der herrschenden Eliten gibt es keine Antikriegsfraktion. Dies hat sich deutlich gezeigt, als das türkische Parlament für den Beitritt Finnlands zur Nato stimmte, obwohl damit eine neue Eskalation im Krieg gegen Russland einhergeht.

Sowohl der kapitalistische Regierungsblock unter Führung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan als auch das bürgerliche Oppositionsbündnis unter Führung der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) haben einstimmig für den Nato-Beitritt Finnlands gestimmt. Die kurdisch-nationalistische Demokratische Partei der Völker (HDP) nahm an der Abstimmung nicht teil, wiederholte jedoch das Argument der Nato-Mächte und erklärte, dass „die Sicherheitsbedenken Finnlands legitim“ seien.

Die Abgeordneten der pseudolinken Arbeiterpartei der Türkei (TİP) stellten sich hinter die bürgerliche Opposition. Es handelt sich bei ihnen weder um eine sozialistische, noch eine antiimperialistische Partei. Sie lehnt die Nato-Erweiterung nicht ab. Kurz gesagt, dieses Votum war ein offenes Bekenntnis aller politischen Vertreter der Bourgeoisie und der oberen Mittelschicht zum Imperialismus.

Leo Trotzkis Theorie der permanenten Revolution wird hier eindrucksvoll bestätigt. Vor fast 90 Jahren schrieb Trotzki in Prinkipo bei Istanbul, wohin die stalinistischen Bürokraten ihn verbannt hatten:

In Bezug auf die Länder mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung, insbesondere auf die kolonialen und halbkolonialen Länder, bedeutet die Theorie der permanenten Revolution, dass die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgaben und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation, vor allem ihrer Bauernmassen.

Leo Trotzki, Gründer der Vierten Internationale

Am 100. Jahrestag der Gründung der Türkischen Republik ist die Bourgeoisie völlig unfähig, grundlegende demokratische Probleme zu lösen, insbesondere die kurdische Frage und die Unabhängigkeit vom Imperialismus. Diese Aufgaben können nur im globalen Maßstab gelöst werden, und sie fallen der Arbeiterklasse zu, die auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms alle Unterdrückten hinter sich vereinen wird.

Die Erdbebenkatastrophe vom 6. Februar in der Türkei und in Syrien ist ein weiteres schreckliches Beispiel dafür, dass das kapitalistische Nationalstaatensystem und die bürgerliche Herrschaft ihre Zeit überdauert haben. Sie sind mit den Bedürfnissen der globalen Gesellschaft unvereinbar.

Das IKVI hat erklärt, dass man den Krieg in der Ukraine nicht verstehen kann, ohne die Auflösung der UdSSR durch die stalinistische Bürokratie 1991 zu berücksichtigen. Darauf folgten mehr als 30 Jahren imperialistischer Aggression unter Führung der USA im Nahen Osten und in Zentralasien.

Nach den Kriegen in Afghanistan, Irak und Libyen haben die Nato-Mächte – auch die Türkei – seit 2011 einen Krieg für einen Regimewechsel in Syrien geführt, der mindestens eine halbe Million Menschen getötet und Millionen weitere zu Flüchtlingen gemacht hat. Dies hatte die Zerstückelung des Landes und die Zerstörung seiner Infrastruktur zur Folge.

Die Erdbebenkatastrophe hat die Folgen dieser imperialistischen Aggression in Syrien noch verschlimmert. Während die imperialistischen Mächte der USA und Europas über 100 Milliarden Dollar in den Krieg in der Ukraine und Billionen in den Militarismus steckten, überließen sie Millionen von Erdbebenopfern ihrem Schicksal. Von symbolischen Hilfen abgesehen, leisteten sie fast keine Nothilfe.

Auch Wissenschaftler bestätigen, dass dies eine soziale Katastrophe war, die vorhersehbar war und hätte verhindert werden können. Sie hat schätzungsweise 150.000 Menschen in der Türkei und in Syrien getötet. Die Politik stellt Profite über das Leben. Das galt bei der Covid-19-Pandemie, und das gilt auch bei dieser und ähnlichen Katastrophen.

Luftaufnahme vom Erdbeben-zerstörten Hatay, 7. Februar 2023 [AP Photo/IHA]

Weder die Erdoğan-Regierung noch die bürgerliche Opposition, hinter der sich die Pseudolinken versammeln, sind daran interessiert, die Bevölkerung vor Katastrophen wie Erdbeben, Pandemien und dem Klimawandel zu schützen, deren verheerende Folgen durchaus vermeidbar sind.

Daher ist der Kampf für die demokratischen und sozialen Rechte auf Leben, angemessenen Wohnraum und Gesundheitsversorgung ein integraler Bestandteil des Kampfs für die Übertragung der Macht an die Arbeiterklasse und des Kampfs, weltweit eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen.

Das Erdbeben vom 6. Februar war eine historische Katastrophe, die viele Millionen Menschen zutiefst betroffen hat. Sie ereignete sich inmitten großer Klassenspannungen und wachsender sozialer Wut, sowohl in der Türkei als auch im Rest der Welt. Und die Katastrophe hat diese Spannungen weiter verschärft.

Die reale jährliche Inflationsrate liegt hier immer noch bei über 110 Prozent. Es hat einen massiven Vermögenstransfer von der Arbeiterklasse zum Finanzkapital gegeben, insbesondere im Zuge der Covid-19-Pandemie. Alle Gewerkschaftsapparate und das kapitalistische Establishment sind sich einig, dass eine soziale Explosion um jeden Preis verhindert werden muss.

Das ist der Grund, warum das bürgerliche Oppositionsbündnis, zu dem auch die kurdische nationalistische Bewegung und die Pseudolinke zählen, jetzt behaupten, dass der einzige Weg vorwärts in ihrem Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai und einem Regierungswechsel bestehe.

Die Sosyalist Eşitlik Grubu weist dies als Lüge zurück. Die bürgerliche Opposition steht im Dienste des Imperialismus und der herrschenden Klasse, ganz wie das Rechtsbündnis von Erdoğan. Sie ist nicht in der Lage, die grundlegenden sozialen und demokratischen Probleme der Arbeiterklasse und der Jugend zu lösen.

Welche Regierung auch immer am 15. Mai gebildet wird, eins ist sicher: Unter den Bedingungen der weltweiten Krise demokratischer Herrschaftsformen und unter dem Druck wachsender geopolitischer und klassenspezifischer Spannungen ist es unvermeidlich, dass die neue Regierung der Banken und des Großkapitals in der Türkei eine Politik verfolgen wird, die sich auf den Militarismus im Ausland stützt und im eigenen Land den Klassenkampf verschärft.

Die dringendste Aufgabe für die Arbeiterklasse und die Jugend besteht darin, die politische und organisatorische Unabhängigkeit vom Imperialismus und der Bourgeoisie zu erreichen und sich auf revolutionäre Massenkämpfe gegen Krieg und Kapitalismus vorzubereiten.

Das bedeutet, die Sosyalist Eşitlik Partisi als türkische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale zu gründen, das die vor 100 Jahren gegründete trotzkistische Bewegung repräsentiert. Wir rufen alle, die mit dieser Perspektive übereinstimmen, dazu auf, sich diesem Kampf anzuschließen.

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