„Zeitenwende“ in der Flüchtlingspolitik: Bundesregierung plant EU-Grenzverfahren, Abschottung und Massendeportationen

Auf dem „Flüchtlingsgipfel“ vom 10. Mai offenbarten die Ministerpräsidenten der Länder und die Bundesregierung ihre zutiefst ausländerfeindliche Politik. Während das Treffen vordergründig als ein Gefeilsche darüber präsentiert wurde, ob Bund, Länder oder Kommunen für die Versorgung und Unterbringung von Schutz suchenden Menschen aufkommen, ging es tatsächlich darum, sich über die Aushebelung des Asylrechts in Deutschland und EU-weit zu verständigen.

Flüchtlinge 2018 im Mittelmeer während einer Rettungsaktion von Sea-Watch [Photo by Tim Lüddemann / flickr / CC BY-NC-SA 2.0]

Nach dem Gipfel beherrschte die Zusage der Bundesregierung, den Ländern in diesem Jahr eine Milliarde Euro für die Versorgung von Flüchtenden zusätzlich bereitzustellen, die Schlagzeilen der Medien. Die wichtigen Beschlüsse, die die Axt an die Überreste des einst im Grundgesetz verankerten Rechts auf Asyl legen und dieses praktisch beseitigen, wurden von den Haus- und Hofjournalisten der Regierung dagegen nur stiefmütterlich in den hinteren Absätzen behandelt.

Dabei stellt der Beschluss über eine gemeinsame Flüchtlingspolitik von Bund und Ländern eine dramatische Abkehr von den bescheidenen humanitären Versprechungen dar, die im Koalitionsvertrag der Ampelregierung noch zu finden waren. Mit den Beschlüssen vom Mittwoch schlägt die Ampelkoalition nicht nur einen „Seehofer-Kurs“ ein, wie die Flüchtlingshilfsorganisation ProAsyl erklärt, weil einige der geplanten Maßnahmen aus dem Arsenal des Innenministers der letzten Großen Koalition stammen. Die Ampelregierung setzt vielmehr zentrale Forderungen der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) um.

Auf europäischer Ebene sind laut Beschlüssen des Flüchtlingsgipfels folgende Maßnahmen vorgesehen:

  • Asylanträge von Flüchtenden sollen bereits an den EU-Außengrenzen in Schnellverfahren mit drastisch reduziertem Rechtsschutz bearbeitet werden.
  • An den EU-Außengrenzen sollen dazu Haftlager geschaffen werden, um die Flüchtenden daran zu hindern, auf eigene Faust in die EU einzureisen.
  • Im Falle einer Ablehnung sollen die Flüchtenden aus den Haftlagern unmittelbar wieder in die Herkunftsländer deportiert werden.
  • An den EU-Außengrenzen sollen „Grenzschutzkapazitäten“ und eine „zielführende Grenzschutzinfrastruktur zur Bekämpfung irregulärer Migration“ ausgebaut werden.
  • Die Grenzschutzagentur Frontex, die an massiven Menschenrechtsverletzungen beteiligt ist, soll weiter ausgebaut werden.

Und auch in Deutschland soll den Flüchtenden das Leben mehr und mehr zur Hölle gemacht werden. Die Beschlüsse sehen vor:

  • Flüchtende müssen für eine Mindestverweildauer für Antragstellung und Anhörung in den Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben. Damit werden die AnkER-Zentren wiederbelebt, die Seehofer 2018 aus der Taufe gehoben hatte. AnkER steht dabei für „Ankunft, Entscheidung, Rückführung“.
  • Die Möglichkeiten der Abschiebehaft und die Befugnisse der Bundespolizei beim Aufspüren von Flüchtenden, die deportiert werden sollen, werden ausgeweitet.
  • Es soll ein „effektives Rückführungsmanagement“ für Geflüchtete ohne Bleiberecht errichtet werden. Die damit gemeinten Massendeportationen sollen durch erpresserische Abkommen mit den mutmaßlichen Herkunftsländern verwirklicht werden, die dazu verpflichtet werden, Personen wieder aufzunehmen, die diese Länder aus Verzweiflung über Elend und Verfolgung verlassen haben.
  • Die Liste der sicheren Herkunftsstaaten, bei denen Asylanträge bereits im Schnellverfahren als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt werden, soll erweitert werden und zunächst auch die Länder Georgien und Moldau umfassen.

Diese Vorhaben zeigen den extrem rechten Charakter der Ampel-Regierung auch in der Flüchtlingspolitik. Im Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Grünen war noch die Rede davon, „das Leid an den EU-Außengrenzen zu beenden“ und „bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren“ einzuführen. Das Konzept der AnkER-Zentren sollte nicht weiterverfolgt werden, und die Liste der so genannten „sicheren Herkunftsstaaten“ ist insbesondere von den Grünen offiziell immer abgelehnt worden.

Die „Kehrtwende“ in der Migrationspolitik ist keine Folge gestiegener Zahlen von Asylanträgen in Deutschland. In den ersten vier Monaten sind zwar mit insgesamt rund 110.000 Erst- und Folgeanträgen etwa 78 Prozent mehr Asylanträge gestellt worden als im gleichen Vorjahreszeitraum, aber damals waren noch die Reiseeinschränkungen und Kontaktbeschränkungen der Covid-19-Pandemie wirksam. Gegenüber Januar 2023 sind die Asylantragszahlen im April dagegen um ein Drittel gesunken. Die etwas mehr als eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine, die einen Sonderstatus genießen, sind in diesen Zahlen nicht berücksichtigt.

Die Verschärfung der Migrationspolitik wird seit Monaten vorbereitet. Das Gezänk um die Kosten für die Versorgung und Unterbringung der Geflüchteten bot jetzt nur den Anlass, diese menschenverachtende Politik als alternativlos darzustellen.

So hatte die Innenministerin Nancy Faeser (SPD) bereits im März erklärt, dass zur europäischen Asylpolitik „zu einem Teil“ auch „hohe Zäune und Mauern“ an den Außengrenzen gehören. Zu diesem Zeitpunkt waren die Verhandlungen in der EU über die so genannte Screening-Verordnung bereits weit fortgeschritten. Mit dieser Verordnung wurde der Einstig in Asylverfahren an den EU-Außengrenzen bereits vollzogen. Oder wie Faeser Anfang Mai dem Handelsblatt sagte: „Wir werden für eine verlässliche Identifizierung, Registrierung und Überprüfung von Menschen bereits an den EU-Außengrenzen sorgen.“

Die Grenzverfahren gehen dann noch einen Schritt weiter, indem, analog zum Flughafenverfahren in Deutschland, die Einreise in die EU als rechtlich noch nicht vollzogen betrachtet wird. Die Haftlager, in denen die Geflüchteten untergebracht werden sollen, werden juristisch als Niemandsland behandelt, wodurch von der EU anerkannte, international gültige Standards bei den Asylverfahren systematisch unterlaufen werden können. Die Geflüchteten werden gewissermaßen völlig entrechtet.

Die Bundesregierung will sich zwar zunächst noch dafür einsetzen, dass diese Grenzverfahren nur bei Geflüchteten angewendet werden, die aus Ländern stammen, bei denen die Anerkennungsquote der Asylanträge unter 15 Prozent liegt. Doch mit dem Einstieg in die Grenzverfahren ist die Büchse der Pandora geöffnet.

So erklärte Österreichs Innenminister Gerhard Karner von der konservativen ÖVP am 5. Mai gegenüber dem Deutschlandfunk, dass er sich auch ein komplettes Asylverfahren an den Außengrenzen vorstellen könne. „Wenn man einen funktionierenden Außengrenzschutz hat, dann kann man auch sicherstellen, dass an diesen Grenzen ordentlich kontrolliert wird und dass auch schnelle Verfahren durchgeführt werden können,“ so Karner.

Die Ampelregierung hatte sich bereits vor dem letzten Koalitionsausschuss Ende April auf eine gemeinsame Position für die EU-Verhandlungen über ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) geeinigt und explizit Grenzverfahren und Grenzzäunen zugestimmt sowie eine Verschärfung des Dublin-Verfahrens vorgeschlagen. Die Verhandlungen gehen jetzt in die entscheidende Runde. Aufgrund der Zustimmung der Bundesregierung zu den Grenzverfahren ist die EU-Kommission „optimistisch“, dass sie noch vor den nächsten Wahlen zum Europaparlament 2024 abgeschlossen sind und ein Abkommen steht.

In den letzten Tagen hat insbesondere die FDP Faesers Kurs in der Öffentlichkeit unterstützt und sich für die Abschaffung des Asylrechts, wie es bislang praktiziert wurde, eingesetzt.

Innenministerin Faeser selbst sagte am 5. Mai dem Handelsblatt, die Grenzverfahren eröffneten die Möglichkeit, „abgelehnte Asylbewerber schnell bereits von den EU-Außengrenzen aus zurückzuführen“. Einen Tag später bestätigte sie in der ARD, dass es jetzt in der EU möglich sei, ein „gemeinsames Asylsystem auf den Weg zu bringen, wo an den Grenzen die Asylverfahren stattfinden“.

Finanzminister Christian Lindner legte am 9. Mai im heute-journal des ZDF nach, indem er erklärte, dass der Einstieg in eine völlig andere Migrationspolitik notwendig sei. Er sagte: „Wir haben es zu lange den Menschen schwer gemacht, nach Deutschland zu kommen, die wir brauchen als kluge Köpfe und fleißige Hände. Und zu lange schon machen wir den Menschen es leicht zu bleiben, die eigentlich verpflichtet sind auszureisen, weil sie irregulär nach Deutschland eingereist sind. Und das muss sich ändern. … Gewiss wird es eine Einigung geben. Aber die Einigung muss im Zentrum haben: Andere Migrationspolitik, Vollzug von Ausreiseverpflichtungen.“

Einen Tag zuvor hatte der Generalsekretär der FDP Bijan Djir-Sarai gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärt: „Uns als FDP ist besonders wichtig, dass wir mit diesem Treffen nicht nur eine Zeitenwende einleiten, sondern auch die verfehlte Migrationspolitik von Frau Merkel beenden. Wir als FDP wollen eine Migrationspolitik, die im Einklang steht mit der Realität, die die Interessen unseres Landes berücksichtigt und die vor allem die Sorgen der Menschen in unserem Land ernst nimmt.“

Djir-Sarai machte sich dabei nicht nur die Rhetorik der AfD zu eigen, sondern übernahm gleich deren Forderungen, dass auch die Maghreb-Staaten (Marokko, Algerien, Tunesien) zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden und Asylbewerber statt Geldleistungen zukünftig nur noch Sachleistungen erhalten.

Die Grünen haben in Person von Parteichef Omid Nouripour und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir dem ausländerfeindlichen Kurs der Regierung mittlerweile auch offiziell ihre Zustimmung gegeben. Özdemir sagte etwa am Donnerstag dem ZDF: „Wir müssen an der europäischen Grenze wissen, wer die EU betritt, wo die Menschen herkommen und wie hoch die Bleibewahrscheinlichkeit ist.“

Es ist kein Zufall, dass aus Regierungskreisen die Hinwendung zu einer menschenverachtenden, ausländerfeindlichen Flüchtlingspolitik als „Zeitenwende“ bezeichnet wird. Mit diesem Begriff hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Februar 2022 ein reaktionäres und nationalistisches Programm verkündet, in dessen Zentrum die drastische Aufrüstung der Bundeswehr und eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik stehen.

In der Flüchtlingspolitik bedeutet die Zeitenwende ein reaktionäres Programm für mehr Abschottung, mehr Internierung, Kriminalisierung von Flucht und mehr Toten an den Grenzen. Geflüchtete werden als „irreguläre Migranten“ denunziert und kriminalisiert. Dabei haben sie gar keine Chance, legal nach Deutschland zu kommen, dass um sich herum ein Cordon sanitaire so genannter sicherer Drittstaaten geschaffen hat.

Während die Bundesregierung über die Finanzierung der Versorgung von Flüchtlingen streitet und behauptet, die Kassen seien leer, stellt sie gleichzeitig hunderte Milliarden Euro für die Kriegsmaschinerie bereit und schickt Waffen im Wert von Milliarden in die Ukraine. Sie hat die imperialistischen Kriege in Afghanistan, in Syrien und im Irak unterstützt und schickt immer mehr Soldaten nach Afrika. Diese Kriege haben die katastrophalen Zustände geschaffen, die Millionen Menschen zur Flucht zwingen und nach Europa treiben.

Seit 2014 sind mehr als 25.000 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer grausam ertrunken, weil die Europäische Union die Festung Europa immer weiter ausgebaut hat. Zuletzt wurde bekannt, dass die EU im bosnischen Lipa vor den Toren der EU ein Haftlager errichtet hat. In Litauen sind „Pushbacks“, die illegale Zurückweisung von Flüchtenden, gesetzlich legitimiert worden. Zivile, selbsternannte „Grenzschützer“ haben die Erlaubnis, die Grenzen Litauens bewaffnet zu kontrollieren. Ähnliche Maßnahmen in Ungarn haben Neonazis aus ganz Europa angezogen, die dort Jagd auf Flüchtende machen.

Die Angriffe auf Flüchtende, die Schwächsten der Gesellschaft, sind untrennbar mit den Angriffen auf die gesamte Arbeiterklasse verbunden, die durch Reallohnsenkungen und Sozialabbau die Kosten von Krieg und Militarismus tragen soll. Die Hetze gegen Einwanderer und Flüchtlinge dient dazu, die Arbeiterklasse zu spalten und vom Kampf gegen den Kapitalismus, die Ursache von Krieg und sozialer Ungleichheit, abzulenken. Arbeiter müssen Flüchtende und das Recht auf Asyl bedingungslos gegen diese Angriffe verteidigen.

Loading