Perspektive

Henry Kissinger und die Verbrechen des US-Imperialismus

Unterwegs traf ich den Mord –
sah aus wie Castlereagh – aufs Wort –
aalglatt und zugleich durchtrieben,
hinter ihm Bluthunde: sieben
alle fett und fabelhaft
getrimmt; er hatte es geschafft,
dass jeder auf die Beute flog
und Kraft aus Menschenherzen sog,
die er aus seinem Mantel zog.

- Percy Bysshe Shelley, Die Maske der Anarchie

Ein Kommentar in der liberalen jüdischen Publikation The Forward argumentiert, dass diese Zeilen Shelleys – gerichtet gegen Lord Castlereagh, den reaktionären britischen Außenminister seiner Zeit – ebenso gut auf den ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger zutreffen, der am vergangenen Freitag 100 Jahre alt wurde.

Es ist ein mehr als berechtigter Vergleich zwischen zwei Feinden der menschlichen Freiheit und der sozialen Revolution. Castlereagh verteidigte das britische Empire und versuchte, die Revolution in seinen Kolonien – insbesondere in Irland – zu unterdrücken und das Erbe und den Einfluss der Französischen Revolution zu zerstören.

Kissinger hat sein langes Leben der Verteidigung des amerikanischen Imperialismus und der Zerstörung des Vermächtnisses und des Einflusses der russischen Revolution gewidmet. Er mag in Deutschland als Jude geboren worden sein und dem Holocaust entkommen sein, als seine Familie nach Amerika floh – doch er verbündete sich mit genau den Kräften, die Hitler gefördert und bejubelt hatten und Hitlers Epigonen in faschistischen und autoritären Regimen auf der ganzen Welt ermutigten.

Wie Kissinger einmal – mit dem Zynismus, der zu seinem Markenzeichen wurde und unter seinen Bewunderern in bürgerlichen Politik- und Medienkreisen als „Humor“ durchging – bemerkte: „Wenn da nicht der Zufall meiner Geburt gewesen wäre, wäre ich Antisemit gewesen.“

Bei einem Treffen hochrangiger türkischer und US-amerikanischer Regierungsvertreter in Ankara schlug Kissinger im Jahr 1975 vor, dass die Nixon-Regierung für die Belieferung der Türkei mit wichtigen Militärgütern durch Verbündete sorgen könnte, nachdem eine Kongressabstimmung die US-Unterstützung verboten hatte. „Das ist illegal“, platzte der damalige US-Botschafter heraus.

Kissinger antwortete ihm: „Vor dem Freedom of Information Act pflegte ich bei Besprechungen zu sagen: ‚Das Illegale tun wir sofort, das Verfassungswidrige dauert etwas länger. (Gelächter) Aber seit dem Freedom of Information Act habe ich Angst, so etwas zu sagen.“

Die geheime Aufzeichnung dieses Treffens wurde erst 2011 – 36 Jahre später – von WikiLeaks veröffentlicht.

Kissingers Verbrechen

In der kritischen Periode des weltweiten revolutionären Aufschwungs der Arbeiterklasse und der unterdrückten Völker war Kissinger von 1969 bis 1976 als nationaler Sicherheitsberater und dann als Außenminister direkt für die Außenpolitik der USA verantwortlich. In jedem Land, in dem der amerikanische Imperialismus intervenierte – sei es mit militärischer Gewalt, durch politische Unterwanderung oder der Unterstützung blutiger Diktaturen – spielte er eine unheilvolle Rolle.

Während der Zeit, in der Kissinger die amerikanische Politik leitete, starben in Vietnam, Laos und Kambodscha mindestens eine Million Menschen. Die meisten von ihnen wurden von US-Bomben getötet, durch US-amerikanisches Napalm verbrannt oder durch US-Chemikalien wie Agent Orange vergiftet. Viele wurden von den amerikanischen Truppen schlicht abgeschlachtet, während Nixon und Kissinger die üblichen Lügen verbreiteten, wonach Amerika „Freiheit“ und „Demokratie“ gegen den Kommunismus verteidige.

Die Nixon-Regierung verkündete eine Politik der „Vietnamisierung“ und begann einen langwierigen Verhandlungsprozess mit Nordvietnam und der Nationalen Befreiungsfront. Während dieser sieben Jahre starben weitere 30.000 amerikanische Soldaten, die fast alle aus der Arbeiterklasse rekrutiert wurden.

Die Kriegsverbrechen in Südostasien sind zahllos, aber zu den wichtigsten gehören die heimlichen Bombardierungen von Kambodscha und Laos, die Invasion in Kambodscha 1970, die den Weg für den Aufstieg der Roten Khmer und Pol Pot ebnete, und das „Weihnachtsbombardement“ von Hanoi und Haiphong, den wichtigsten städtischen Zentren Nordvietnams.

1973 wurde der Friedensnobelpreis gemeinsam an Kissinger und Le Duc Tho verliehen, den nordvietnamesischen Chefunterhändler bei den Pariser Gesprächen. Kissinger reiste nicht nach Norwegen, um seinen Preis entgegenzunehmen, da er die zu erwartenden Massenproteste fürchtete. Le Duc Tho lehnte seine Auszeichnung rundheraus ab.

In Lateinamerika beaufsichtigte Kissinger eine Welle von Militärputschen und die Einführung von Diktaturen, insbesondere in Chile im September 1973, als Augusto Pinochet mit Unterstützung der CIA das reformistische Regime von Salvador Allende stürzte. Der Putsch endete mit dem Tod Allendes und der Folterung und Ermordung von zehntausenden chilenischen Arbeitern und politischen Aktivisten.

Zu Chile machte Kissinger eine seiner berüchtigtsten und am häufigsten zitierten Äußerungen. Auf einer Sitzung des streng geheimen „40 Committee“ vor den chilenischen Wahlen von 1970, die Allende gewann, sagte er: „Ich sehe nicht ein, warum wir zusehen sollten, wie ein Land wegen der Verantwortungslosigkeit seiner eigenen Leute kommunistisch wird.“ Später schrieb er über den blutigen Staatsstreich von 1973: „Das chilenische Militär hatte Chile vor einem totalitären Regime und die Vereinigten Staaten vor einem Feind gerettet.“

Eine mit Augusto Pinochet verbündete Panzereinheit nähert sich dem Regierungspalast während des Putsches von 1973 [Photo by @goodvibes11111 / CC BY-SA 4.0]

Ähnliche Putsche folgten in Argentinien, Uruguay und Bolivien. Zusammen mit den schon länger bestehenden Militärregimen in Brasilien und Paraguay lancierten diese Diktatoren mit vereinten Kräften die Operation Condor, ein gemeinsames Unternehmen der Geheimpolizei der Region und der amerikanischen CIA, um revolutionäre Exilanten und Linke aller Art zu jagen und zu töten.

In anderen Teilen der Welt fanden ebenso reaktionäre Ereignisse statt, in die Kissinger verstrickt ist: die indonesische Invasion Osttimors von 1975; die militärische Schlächterei in Bangladesch von 1971; die Unterstützung und Hilfe der USA für diktatorische Regime in Spanien, Portugal, Griechenland, Saudi-Arabien und Iran; die Unterstützung der USA für die ultrarechten Aufstände gegen nationalistische Regime in Angola und Mosambik; die Unterstützung der USA für den Canberra-Putsch, durch den die gewählte Regierung der Labor Party des australischen Premierministers Gough Whitlam gestürzt wurde.

Im Nahen Osten trug Kissinger dazu bei, die militärische Niederlage Israels im arabisch-israelischen Krieg von 1973 abzuwenden, indem er den zionistischen Staat mit riesigen Mengen an Rüstungsgütern versorgte und anschließend das ägyptische Regime von Anwar Sadat bestach, im Kalten Krieg die Seite zu wechseln und sich von einem sowjetischen zu einem amerikanischen Klienten zu wandeln.

Kissingers Vermächtnis

In der internationalen Geopolitik wird Kissinger vor allem mit der Politik identifiziert, die Spaltung zwischen der Sowjetunion und China auszunutzen, als diese stalinistisch beherrschten bürokratischen Polizeistaaten miteinander um globalen Einfluss wetteiferten. Es war ein reaktionärer nationalistischer Konflikt, der sogar in militärischen Zusammenstößen an der Grenze zwischen der chinesischen Mandschurei und dem sowjetischen Fernen Osten ausbrach.

Die zentrale Stoßrichtung von Kissingers Entspannungspolitik mit Moskau und der gleichzeitigen Beendigung der jahrzehntelangen US-Politik der Nichtanerkennung Pekings bestand darin, die Hilfe der Stalinisten zu gewinnen, um gegen revolutionäre Kämpfe in Südostasien und der ganzen Welt vorzugehen. Diese Politik wird in imperialistischen Kreisen der USA am meisten gefeiert und ist der Grund dafür, dass Kissinger auch Jahrzehnte nach seinem Ausscheiden aus dem Amt noch Einfluss ausüben kann.

Als die Nixon-Ford-Regierung ihre achtjährige Amtszeit beendete und der Demokrat Jimmy Carter ins Weiße Haus einzog, verpflichtete er sich öffentlich, die Verteidigung der „Menschenrechte“ zur Grundlage der amerikanischen Außenpolitik zu machen. Damit wollte er dem Gestank von Kissingers Verbrechen entgegenwirken. Doch außer der Verpackung änderte sich nichts: Die Verbrechen des amerikanischen Imperialismus wurden nun mit zynischen Verweisen auf die „humanitären“ Anliegen ausgeschmückt, die angeblich das Handeln der CIA, des Pentagons und des Außenministeriums bestimmten.

In späteren Jahren bildeten Kissingers Komplizen in der Nixon-Ford-Regierung ein „Who is Who“ der amerikanischen Kriegsverbrecher. Während Kissingers Zeit als Außenminister war George H. W. Bush, der spätere Präsident, Direktor der CIA. Donald Rumsfeld, Stabschef im Weißen Haus und anschließend Verteidigungsminister, kehrte 2001 ins Pentagon zurück, wo er die US-Interventionen im Irak und in Afghanistan überwachte. Richard Cheney wurde Rumsfelds Nachfolger als Stabschef im Weißen Haus und war 2001 Vizepräsident von George W. Bush und der wichtigste Kriegstreiber in dieser Regierung.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington ernannte George W. Bush Kissinger zum Leiter einer parteiübergreifenden Untersuchungskommission, deren stellvertretender Vorsitzender der ehemalige demokratische Senator George Mitchell war. Die Demokraten im Kongress stimmten dieser Vereinbarung zu, doch öffentliche Proteste drohten die Kommission zu diskreditieren, noch bevor sie ihre Arbeit aufnehmen konnte, und Kissinger musste zurücktreten.

Die WSWS bemerkte damals: „Kissinger zum Leiter dieses Gremiums zu wählen, kommt einem Eingeständnis gleich, dass die US-Regierung bezüglich des 11. September viel zu verbergen hat und dass die Bush-Regierung in Zusammenarbeit mit den Kongressdemokraten und den Medien entschlossen ist, die Wahrheit zu begraben.“

Wir haben auch darauf hingewiesen, dass Kissinger auf internationaler Ebene einen schlechter werdenden Ruf genießt:

Kissinger kann in Europa und Lateinamerika nicht mehr frei reisen. Letztes Jahr musste er eine Reise nach Brasilien aufgrund von Menschenrechtsprotesten absagen. Während eines Besuchs in Paris wurde er von der französischen Polizei im Zusammenhang mit der Ermordung eines französischen Staatsbürgers durch die US-gestützte Militärdiktatur in Chile zur Befragung gesucht. Seine Rolle bei der Ermordung von General René Schneider – dem chilenischen Militärkommandanten, dessen Beseitigung den Weg für die Diktatur von General Augusto Pinochet ebnete – ist Gegenstand von Gerichtsverfahren in Chile und den USA.

Wie die Washington Post am Sonntag in einem Artikel in ihrem Style-Teil feststellte, kommt diese Abscheu auch im Internet zum Ausdruck. Die Zeitung verwies darauf, dass sich in den sozialen Medien viele darauf vorbereiten, Kissingers unvermeidlichen Tod zu feiern, und berichtet von überwältigender Abscheu und Hass auf seine Verbrechen unter Millionen junger Menschen, die zu seiner Zeit an der Spitze des Außenministeriums noch nicht einmal geboren waren.

Die Medien haben sich größtenteils davor gescheut, Kissingers 100. Geburtstag zu kommentieren, da sie die Auswirkungen jeder noch so bereinigten Betrachtung seiner Vergangenheit fürchten. Besonders bemerkenswert und schuldbewusst ist das Schweigen der New York Times, die bislang noch keinen Artikel zu diesem Thema veröffentlicht hat.

Es zeigt, wie weit die amerikanische Außenpolitik nach rechts gerückt ist, wenn Kissinger in den letzten Jahren gelegentlich als „gemäßigter“ Kritiker einer ungebührlichen amerikanischen Aggressivität bezeichnet wurde, vor allem mit Blick auf China (er ist ein glühender Befürworter des Krieges in der Ukraine). In seinem 2012 erschienenen Buch „China: Zwischen Tradition und Herausforderung“ warnte er, dass die USA gegenüber China die gleiche Politik verfolgten wie das kaiserliche Großbritannien gegenüber dem aufstrebenden Deutschland in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, was einen offenen militärischen Konflikt unvermeidlich machte.

Doch es besteht kein Zweifel an dem zutiefst reaktionären Charakter seiner Politik. Im Jahr 1985 unterstützte er öffentlich Ronald Reagans Besuch auf dem Soldatenfriedhof der Waffen-SS im westdeutschen Bitburg, wo dieser einen Kranz niederlegte.

Nach einem Treffen mit der israelischen Premierministerin Golda Meir im Jahr 1973 gab Kissinger eine Erklärung gegenüber Richard Nixon ab, der ihm mit Nachdruck die Frage der Ausreise sowjetischer Juden aus der UdSSR vorlegte (in der Hoffnung, sie würden sich in Israel niederlassen). Das Tonband, das erst 2010 veröffentlicht wurde, gibt Kissinger mit den Worten wieder: „Die Auswanderung von Juden aus der Sowjetunion ist kein Ziel der amerikanischen Außenpolitik, und wenn sie Juden in der Sowjetunion in Gaskammern stecken, ist das keine amerikanische Angelegenheit. Vielleicht ein humanitäres Anliegen.“

Das viel frühere Werk The Necessity for Choice, das 1961 in seiner Zeit als akademischer „Experte“ für Außenpolitik in Harvard veröffentlicht wurde, fasst seine Weltsicht zusammen: „Die freie Welt hat keine dringendere Aufgabe, als sich von der Nostalgie an die Zeit ihrer Unverwundbarkeit zu lösen und sich der nackten Realität einer revolutionären Periode zu stellen.“

Dieser Hass und diese Angst vor der Revolution und die Entschlossenheit, sie zu zerschlagen, liegen allen Verbrechen zugrunde, die dem hundertjährigen Kissinger – und den unzähligen ihn konsultierenden imperialistischen Politikern, von John F. Kennedy bis Hillary Clinton und Joe Biden – anzulasten sind.

Kissingers Verbrechen waren zwar besonders offenkundig, doch sie setzten einen Standard, der sich in der nachfolgenden Entwicklung des amerikanischen Imperialismus fortsetzte und sogar noch vertiefte. Es ist in gewisser Weise passend, dass sein 100. Jahr auf der Erde mit einer Eskalation des US- und Nato-geführten Krieges gegen Russland zusammenfällt, der die Menschheit an den Rand einer nuklearen Katastrophe treibt.

Was die heutigen Vertreter des amerikanischen Imperialismus betrifft, so stehen sie der „nackten Realität einer revolutionären Periode“ ohne Mittel gegenüber, um sie einzudämmen.

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