Perspektive

Daniel Ellsberg und Julian Assange

Der Tod von Daniel Ellsberg, der am Freitag im Alter von 92 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb, gibt Anlass, einen prinzipienfesten und mutigen Kämpfer gegen den Militarismus zu würdigen. Gleichzeitig wollen wir die historischen Ereignisse vor über 50 Jahren, die unauslöschlich mit seinem Namen verbunden sind, Revue passieren lassen und eine Bilanz des entsetzlichen Verfalls ziehen, den die bürgerliche Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten erfahren hat.

Ellsberg, ein hochrangiger Berater des Pentagon, ließ 1971 tausende Seiten geheimer Dokumente über den Vietnamkrieg veröffentlichen, weil sie unwiderlegbare Beweise für Kriegsverbrechen der US-Regierung und systematische Lügen zur Vertuschung dieser Verbrechen enthielten.

Das Material, das er leakte, wurde in 18 Zeitungen veröffentlicht. Sie kämpften vor dem Obersten Gerichtshof und errangen eine Entscheidung, die ihre im ersten Verfassungszusatz niedergelegten Rechte bestätigte. Heute würden dieselben Verleger auf eine solche Veröffentlichung geheimer Informationen ganz anders reagieren: Sie würden den Informanten dem FBI ausliefern, wie es die New York Times mit dem Techniker der Air National Guard getan hat, der vor kurzem die „Discord“-Papiere durchsickern ließ, die das Ausmaß der US-Beteiligung in der Ukraine sichtbar gemacht haben.

1971 stellte sich Ellsberg einer Anklage nach dem Spionagegesetz, die zu einer lebenslangen Haftstrafe hätte führen können. Er kam frei, als seine Strafverfolgung wegen Fehlverhaltens der Regierung eingestellt wurde. Doch diejenigen, die heute seinem Beispiel folgen, wie Chelsea Manning, Edward Snowden und Julian Assange, müssen mit Haftstrafen, erzwungenem Exil und der Zerstörung ihrer Gesundheit und möglicherweise ihres Lebens rechnen.

Daniel Ellsberg spricht vor dem Bundesgericht in Los Angeles zu Journalisten. Ellsbergs Mitangeklagter, Anthony Russo, steht in der Mitte rechts, 17. Januar 1973 [AP Photo/Associated Press/STF]

Ellsberg wurde in einer jüdischen Familie aus der Mittelschicht geboren und wuchs in Detroit auf, wo er mit einem Stipendium die Eliteschule Cranbrook besuchte. Er wuchs in der antikommunistischen Umgebung der frühen 1950er Jahre heran und studierte in Harvard, wo Henry Kissinger zu seinen Professoren zählte. Dort spezialisierte er sich auf die Anwendung der Spieltheorie auf militärische Strategien, einschließlich des Einsatzes von Atomwaffen.

Unmittelbar nach dem Studium trat er 1954 in die Marineinfanterie ein und verlängerte seine Dienstzeit in der Hoffnung, in der Suez-Krise 1956 zum Einsatz zu kommen. Anschließend arbeitete er bei der RAND Corporation als hochrangiger Berater für den nationalen Sicherheitsapparat der USA. Dort war er an der Entwicklung der strategischen Nukleardoktrinen der USA beteiligt und beriet Robert McNamara, den Verteidigungsminister der neuen Kennedy-Regierung, während der Kubakrise und der Anfangsphase der militärischen Eskalation der USA in Vietnam.

Ellsberg unterstützte den weltweiten antikommunistischen Kreuzzug voll und ganz. Ende 1964 ging er in Vollzeit zum Pentagon und meldete sich 1965 freiwillig für eine Inspektionstour in Vietnam, wo er drei Monate lang US-amerikanische und südvietnamesische Streitkräfte bei Angriffen auf Dörfer und Kämpfen mit aufständischen Kräften der Nationalen Befreiungsfront begleitete. Diese Erfahrungen zerstörten seine Illusionen: Er sah mit an, wie Bauern durch US-Bombenangriffe bei lebendigem Leib verbrannten oder von amerikanischen und südvietnamesischen Soldaten wahllos erschossen wurden. Er begann, seinen Vorgesetzten im Pentagon pessimistische Memos vorzulegen.

1967, als McNamara selbst den Ausgang des Krieges als immer aussichtsloser beurteilte, richtete er im Pentagon eine Forschungsgruppe ein, die eine dokumentarische Geschichte des US-Engagements in Vietnam unter vier Regierungen - Truman, Eisenhower, Kennedy und Johnson - zusammenstellen sollte. Ellsberg war einer der ausgewählten Teilnehmer. Sein Studium der Geschichte überzeugte ihn bald davon, dass der Krieg nicht nur fehlgeleitet, sondern kriminell war und dass jede dieser Regierungen das amerikanische Volk über die Rolle der USA belogen hatte.

Ellsbergs Opposition gegen den Krieg äußerte sich zunächst in der Weitergabe bestimmter Informationen an demokratische Politiker und die Presse. Im Februar 1968 schickte er einen als geheim eingestuften Bericht, der einen Antrag von General William Westmoreland (dem US-Befehlshaber in Vietnam) auf zusätzliche 200.000 Soldaten enthielt, an Senator Robert F. Kennedy. Einen Monat später ließ er der Times einen Bericht zukommen, dem zufolge das US-Militär die Stärke der NLF-Kräfte vor der Tet-Offensive stark unterschätzt hatte, so dass die US-Streitkräfte auf den gewagten Angriff der NLF auf alle größeren Städte in Südvietnam nicht vorbereitet waren.

Nach seiner Rückkehr zu RAND verschaffte Ellsberg sich 1969 Zugang zu der gesamten 47-bändigen „History of U.S. Decision-Making Process on the Vietnam Policy“, die der Welt als „Pentagon Papers“ bekannt werden sollte. Zunächst wandte er sich an führende Demokraten, darunter Senator William Fulbright, Vorsitzender des Senatsausschusses für auswärtige Beziehungen, und Senator George McGovern, ein vorgeblicher Kriegsgegner, der 1972 Präsidentschaftskandidat der Demokraten werden sollte. Sie lehnten sein Angebot ab, die Dokumente einzusehen und zu veröffentlichen.

Ellsberg wandte sich daraufhin an die Presse, indem er Neil Sheehan von der New York Times kontaktierte, der schon seine früheren Leaks weitergegeben hatte. Er lieferte schließlich fast vollständige Kopien der Pentagon Papers an die Times, die Washington Post und insgesamt 18 amerikanische Zeitungen, worauf die Times begann, große Auszüge daraus zu veröffentlichen. Dies löste bei der Nixon-Regierung Panik und Wut aus, und sie versuchte, die weitere Veröffentlichung durch eine gerichtliche Verfügung zu stoppen.

Der Prozess, der daraus resultierte, ging in kurzer Zeit bis vor den Obersten Gerichtshof der USA, der in der Rechtssache New York Times Co. gegen die Vereinigten Staaten das Urteil sprach. Der Supreme Court befand mit einer Mehrheit von 6 zu 3, dass die Regierung die erforderlichen Beweise nicht vorgelegt habe, um zu widerlegen, dass es in diesem Fall um die Pressefreiheit ging, die im ersten Zusatzartikel der US-Verfassung festgeschrieben ist.

Daraufhin wurden die Pentagon Papers wochenlang in mehreren amerikanischen Zeitungen publiziert, was zu einem Umschwung in der öffentlichen Meinung gegen den Krieg beitrug. Wie schon bei Ellsberg selbst, verschob sich die Stimmung in der ganzen Bevölkerung stark nach links. Der Krieg wurde nicht nur deshalb abgelehnt, weil er offensichtlich nicht zu gewinnen war, sondern er galt als ungerecht, ja sogar kriminell. Dies versetzte der Glaubwürdigkeit des Pentagons, des Weißen Hauses – und überhaupt der US-Regierung– einen irreparablen Schlag.

In einer direkten Abfolge von Ereignissen führte Ellsbergs Entscheidung, die Pentagon-Papiere zu veröffentlichen, schließlich zum erzwungenen Rücktritt Präsident Richard Nixons drei Jahre später.

Nixon beschloss zusammen mit seinem nationalen Sicherheitsberater Henry Kissinger, an Ellsberg ein Exempel zu statuieren, seinen Ruf zu zerstören und sein Leben zu ruinieren. Besonders Kissinger war unerbittlich und bezeichnete Ellsberg als „den gefährlichsten Mann in ganz Amerika“. Bei einem Treffen mit Nixon nach der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im Fall der Pentagon Papers erklärte Kissinger: „Man muss ihn um jeden Preis aufhalten. Wir müssen ihn kriegen.“ Nixon antwortete: „[B]ei Gott, die kriegen wir.“

Nixon beauftragte seinen engsten innenpolitischen Berater, John Ehrlichman, mit der Einrichtung der sogenannten „Klempner“-Einheit, deren Aufgabe darin bestand, Leaks zu stopfen. Das war eine Gruppe ehemaliger CIA- und FBI-Agenten und Schlägern unter der Führung von G. Gordon Liddy und Howard Hunt. Sie brachen in das Büro von Ellsbergs Psychiater in Kalifornien ein und suchten nach Informationen, um ihn zu diskreditieren, was ihnen jedoch nicht gelang.

Neun Monate später wurde dieselbe Gruppe bei einem Einbruch in die Räumlichkeiten des Nationalkomitees der Demokratischen Partei in einem Bürokomplex namens „Watergate“ in Washington erwischt, wo sie ebenfalls nach Informationen suchte, um Nixons Wiederwahlkampf zu unterstützen. Der Skandal, der sich entwickelte, weil hier ein Präsident unmittelbar in kriminelle Machenschaften und deren Vertuschung verwickelt war, gipfelte im August 1974 in Nixons Rücktritt. Er reagierte darauf, dass ihm führende Republikaner im Kongress mitteilten, dass ein Impeachment, ein Verfahren zu seiner Amtsenthebung, nicht mehr zu vermeiden sei, wenn er das Weiße Haus nicht freiwillig räume.

Im Zuge der „Watergate“–Enthüllungen brach ein Strafgerichtsverfahren gegen Ellsberg und seinen Kollegen, Anthony Russo, zusammen. Die Bundesanwaltschaft hatte aufgrund des Paragraphen 793 des Spionagegesetzes Klage gegen die beiden erhoben. Aber der Richter wies die Anklage zurück, nachdem der Einbruch der „Klempner“-Gruppe ins Büro von Ellsbergs Psychiater bekannt geworden war. Und die Regierung hatte sich noch weiterer Verfehlungen schuldig gemacht: Sie hatte einen illegalen Lauschangriff auf Ellsberg angeordnet und dem Richter das Angebot unterbreitet, er könne FBI-Direktor werden, wenn er zustimme, den Fall nach den Wünschen des Weißen Hauses zu behandeln.

Im Gegensatz zu vielen anderen bekannten Vertretern der Mittelschicht, die in den 1960er Jahren durch den Vietnamkrieg und die Bürgerrechtskämpfe in den Vereinigten Staaten radikalisiert worden waren, hat Ellsberg auch später nie seinen Frieden mit dem Establishment gemacht. Er blieb bis an sein Lebensende ein prinzipientreuer Verteidiger bürgerlicher Freiheiten und ein Gegner von Krieg und Militarismus. Wiederholt wurde er bei Protesten verhaftet und meist des gewaltlosen zivilen Ungehorsams beschuldigt. Er setzte sich dafür ein, die Lügen zu entlarven, die der nationale Sicherheitsapparat der USA zur Rechtfertigung der Kriege im Irak, in Afghanistan und in Libyen in Umlauf setzte. Und er solidarisierte sich mit jenen mutigen Menschen, die sich gegen die militärischen Geheimdienste stellten und versuchten, die Verbrechen des amerikanischen Imperialismus aufzudecken.

2017 schrieb Ellsberg mit „The Doomsday Machine“ ein wichtiges Buch, in dem er die Entwicklung der US-Atomwaffendoktrin in den 1950er und frühen 1960er Jahren nachzeichnete, als er selbst noch mit Kissinger, McNamara und anderen auf diesem Gebiet arbeitete. In einer WSWS-Rezension dieses Buches heißt es: „Die US-Strategie war immer auf einen Erstschlag ausgerichtet: nicht notwendigerweise ein Überraschungsangriff, aber auch kein Angriff, der als Reaktion auf einen Atomschlag erfolgt.“

Weiter heißt es dort: „Ein nuklearer US-Erstschlag würde in der Gesamtsumme mindestens 600 Millionen Menschen töten und käme nach eigener Schätzung des Pentagons ‚hundert Holocausts‘ gleich.“ Diese Zahl war tatsächlich eine niedrige Schätzung: „Ellsberg stellt fest, dass es von 1961, als das Dokument erstellt wurde, noch weitere 20 Jahre dauern sollte, bis sich das Konzept des nuklearen Winters und der nuklearen Hungersnot durchsetzten. Diese Konzepte bedeuten, dass in Wirklichkeit die meisten Menschen wie praktisch alle großen Arten nach einem Atomkrieg sterben würden.“

Vier Jahre später enthüllte Ellsberg, dass die US-Regierung 1958 Pläne für den Einsatz von Atomwaffen gegen China – damals noch keine Atommacht – ausgearbeitet hatte, falls die chinesischen Angriffe auf vorgelagerte, von Taiwan kontrollierte Inseln andauern würden. Keine US-Regierung hat bisher jemals ein „No-First-Use“-Versprechen abgegeben, um den Einsatz von Atomwaffen in einem konventionellen Krieg oder bei einem Überraschungsangriff auszuschließen.

Ellsberg spielte eine wichtige Rolle bei der Verteidigung von Chelsea Manning, Edward Snowden und insbesondere Julian Assange, dem Gründer und Herausgeber von WikiLeaks. Über Assange schrieb er: „Ich war der erste Whistleblower, der nach dem Espionage Act verfolgt wurde, und heute ist er der erste Publizist, der [nach dem Espionage Act] verfolgt wird.“

Die New York Times und andere bürgerliche Medien haben zwar das Material veröffentlicht, das ihnen Manning und Snowden zugespielt hatten oder das auf WikiLeaks erschienen war. Aber diese Medien haben keinerlei Anstrengungen unternommen, sie gegen Strafverfolgung in Schutz zu nehmen. Und die Obama-Regierung hat sich oft auf den Espionage Act gestützt, um Informanten und Journalisten zu verfolgen: Sie hat dies sogar häufiger als alle vorherigen Regierung der US-Geschichte zusammen getan.

Ellsberg hat in einer der unzähligen Gerichtsanhörungen während des langwierigen Prozesses ausgesagt, während dem die britische Regierung Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, dem britischen Guantanamo, gefangen hält. Dabei liegt in Großbritannien keine Anklage, sondern lediglich ein Auslieferungsersuchen der Vereinigten Staaten gegen den WikiLeaks-Herausgeber vor.

Daniel Ellsberg und Julian Assange [Photo by Cmichel67/Cancillería del Ecuador / CC BY-SA 4.0]

Assange und seine Familie haben diese Unterstützung sehr geschätzt, und Assange setzte Ellsberg auf die Liste der Personen, die ihn in Belmarsh anrufen und mit ihm sprechen durften. Aus diesem Grund durfte Assange auch Ellsberg noch einmal anrufen und sich von ihm verabschieden, als dieser seine Krankheit und seinen baldigen Tod öffentlich bekannt gegeben hatte.

Die bürgerlichen Medien haben diese enge Verbindung totgeschwiegen. Die beiden führenden Tageszeitungen in den Vereinigten Staaten, die New York Times und die Washington Post, haben es geschafft, lange Nachrufe auf Ellsberg zu verfassen, in denen Assange mit keinem Wort erwähnt wird. Dasselbe gilt für den Guardian in Großbritannien, der sowohl eine Nachricht als auch eine herzliche Würdigung von Trevor Timm, der gemeinsam mit Ellsberg die Freedom of the Press Foundation gegründet hatte, veröffentlichte. Der Name „Assange“ taucht in keinem der beiden Texte auf.

Als die britische Polizei im April 2019 den WikiLeaks-Gründer aus der ecuadorianischen Botschaft in London herauszerrte, freuten sich diese Leitorgane des Imperialismus in den USA und in Großbritanniens geradezu hämisch. Ein Leitartikel der Washington Post erklärte damals, Assange sei „längst überfällig dafür, persönlich Rechenschaft abzulegen“, und deutete an, dass die Aussicht auf lebenslange Haft zu seiner „Umwandlung in einen kooperierenden Zeugen“ führen könnte. Die Times verunglimpfte Assange in einem Bericht auf der Titelseite als „Narziss“, der „wenig Interesse an so profanen Dingen wie persönlicher Hygiene“ habe.

Die Medien hassen Assange und jeden, der die wesentliche Funktion einer freien Presse ausübt: das Aufdecken von Handlungen, die die Regierung geheim halten möchte, insbesondere, wenn sie undemokratisch oder illegal sind. Es ist ein Ausdruck des kolossalen Rechtsrucks, den sowohl die bürgerlichen Medien als auch das Milieu der wohlhabenden Mittelschichten, für das sie schreiben, in den letzten 50 Jahren erfahren haben. Sie würden einen neuen Ellsberg auf die gleiche Weise begrüßen, wie sie es mit Assange tun: nicht mit ausführlichen Artikeln, die die Enthüllungen des Whistleblowers publik machen, oder mit Klagen zur Verteidigung der Pressefreiheit, sondern indem sie seine Verfolgung durch den Staat gutheißen und unterstützen.

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