Perspektive

Sind Atomwaffen die nächste rote Linie, die die Nato in der Ukraine überschreiten wird?

Eine F-15 Eagle der US-Luftwaffe wirft während einer Trainingsübung eine nukleare Freifallbombe vom Typ B61 ab (US Air Force) [Photo: US Air Force]

Seit rund zwei Wochen läuft die „Frühjahrsoffensive“ der Ukraine, die von den US-Medien seit Monaten propagandistisch vorbereitet wurde. Inzwischen ist deutlich, dass die Offensive keine nennenswerten Fortschritte erzielt und die ukrainischen Streitkräfte verheerende materielle Verluste erlitten haben.

Vertreter der ukrainischen Regierung erklärten Ende letzter Woche, dass die Armee seit Beginn der Offensive 38 Quadratkilometer zurückerobert habe. Dieses Stückchen Land wurde mit Verlusten von bis zu 1.000 Opfern pro Tag erkauft, so dass sich deren Gesamtzahl seit Beginn der Offensive auf rund 15.000 erhöht haben dürfte. Russische Behörden haben Videos veröffentlicht, auf denen zu sehen ist, wie gepanzerte Fahrzeuge durch Raketen, Drohnen und Langstreckenartillerie zerstört werden, darunter über ein Dutzend moderne Leopard-2-Panzer und Bradley-Schützenpanzer.

In den ersten anderthalb Jahren des Konflikts sind die USA und die Nato-Mächte davon ausgegangen, dass sie den Krieg betreiben können, indem sie immer modernere Waffen in die Ukraine schicken und die ukrainische Bevölkerung als Kanonenfutter auf dem Schlachtfeld benutzen.

Mit kalter Gleichgültigkeit gegenüber dem katastrophalen Verlust an Menschenleben plant die Regierung Biden nach wie vor, den Krieg bis zum letzten Ukrainer zu führen. Das Problem bei dieser Strategie ist jedoch, dass die Zahl der Menschen in der Ukraine zur Neige geht, die die Nato in den Tod schicken kann.

Hunderttausende von ukrainischen Soldaten sind bisher getötet oder verwundet worden. Dies ist ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung im wehrfähigen Alter, was die Regierung Selenskyj zu weiteren verzweifelten Maßnahmen veranlasst, um neue Leute für die Front zu finden.

Vor diesem Hintergrund beendeten die Verteidigungsminister der Nato-Länder am Freitag ein zweitägiges Gipfeltreffen, auf dem die Pläne für ein Militärbündnis zwischen der Nato und der Ukraine fertiggestellt werden sollten. Am Donnerstag erklärte ein Vertreter der Biden-Regierung gegenüber CNN, dass man einem Plan für den beschleunigten Nato-Beitritt der Ukraine „offen“ gegenüberstehe.

Dies wird der Inhalt des bevorstehenden Nato-Gipfels in Vilnius (Litauen) sein, sei es durch einen direkten Beitritt der Ukraine zur Nato oder durch „Sicherheitsgarantien“.

Das eigentliche Problem ist jedoch nicht der Beitritt der Ukraine zur Nato, sondern der „Beitritt“ der Nato zur Ukraine in Form einer umfassenden Eskalation ihrer Beteiligung am Krieg. Der einzige Grund für die Beschleunigung des Nato-Beitritts der Ukraine besteht darin, für eine solche Eskalation den nötigen Rahmen zu schaffen.

Die gesamte Glaubwürdigkeit der Nato steht auf dem Spiel, wenn es darum geht, die russische Armee über die Grenze zurückzuwerfen und eine Krise auszulösen, die zum Sturz der Putin-Regierung führen würde. Die Logik der Eskalation führt unweigerlich auf ein direktes Eingreifen der Nato in den Konflikt hin.

Jedes Mal, wenn die USA und die Nato-Mächte behaupteten, sie würden im Hinblick auf die Ukraine etwas nicht tun, haben sie es letztlich getan – von der Lieferung von Kampfpanzern und Kampfflugzeugen bis hin zu Waffen, die für Angriffe auf russisches Territorium eingesetzt wurden.

Was wird die nächste „rote Linie“ sein, die die Nato als Reaktion auf die sich verschlechternde militärische Lage in der Ukraine überschreiten wird? Mehrere Möglichkeiten sind denkbar:

Erstens die Einrichtung einer Flugverbotszone und die direkte Bekämpfung der russischen Streitkräfte durch Nato-Flugzeuge.

Zweitens die Entsendung von Nato-Truppen ins Kriegsgebiet.

Und drittens die Stationierung oder sogar der Einsatz von taktischen Atomwaffen durch die Nato, um einen russischen Sieg in dem Konflikt zu verhindern.

Es ist erwähnenswert, dass der US-amerikanische Geo-Stratege Henry Kissinger, der kürzlich zu seinem 100. Geburtstag von den Medien gefeiert wurde, während des Kalten Krieges den Einsatz taktischer Atomwaffen beschrieb. Dessen Ziel besteht laut Kissinger unter anderem darin, eine Katastrophe wie die abzuwenden, auf die sich die ukrainischen Streitkräfte gegenwärtig zu bewegen.

In seinem Buch Nuclear Weapons and Foreign Policy (Kernwaffen und Auswärtige Politik) aus dem Jahr 1957 plädierte Kissinger für den Einsatz von Atomwaffen an vorderster Front und deren Verwendung auf dem Schlachtfeld durch die Vereinigten Staaten im Kampf gegen den Vormarsch konventioneller Streitkräfte.

Ein „begrenzter Atomkrieg“, d.h. ein Atomkrieg, der nicht zur globalen Vernichtung und zur „Mutually Assured Destruction“ führe, bedeute laut Kissinger „in Wirklichkeit eine Strategie […], welche von den uns eigenen besonderen Fähigkeiten den für uns vorteilhaftesten Gebrauch macht, und dass aus ihm mit weniger Wahrscheinlichkeit ein Atomkrieg als ein konventioneller Krieg wird …“ (2. Auflage, München/Wien 1974, S. 150)

Er argumentierte, dass ein solcher Krieg „improvisiert werden müsste, wenn militärische Operationen mitten im Gange sind“. Man würde sich, so Kissinger, „den denkbar schwersten psychologischen und militärischen Bedingungen gegenübersehen“ (S. 152), also genau jenen Bedingungen, die sich derzeit in der Ukraine entwickeln.

Anstatt „die größten Bevölkerungszentren“ ins Visier zu nehmen, so Kissinger, könnten Atomwaffen als Teil einer Kriegsführung eingesetzt werden, die sich „auf kleine, höchst bewegliche und in sich abgeschlossene Einheite“ stütze und darauf abziele, „die Aggression eines ihrer Ziele zu berauben, nämlich der tatsächlichen Beherrschung feindlichen Gebiets. Kleine bewegliche Einheiten mit Atomwaffen sind außerordentlich geeignet, eine gleichartige feindliche Formation zu schlagen oder wichtige Ziele schnell zu zerstören.“ (S. 154)

Kissingers Strategie wies einen entscheidenden Fehler auf. Sie ging davon aus, dass diejenigen, auf die die US-Atomwaffen gerichtet würden, ihre eigenen Reaktionen beschränken würden und dass die Eskalation eingedämmt würde. Doch trotz ihres offensichtlichen Irrsinns haben Kissingers Doktrinen die derzeitige Nuklearstrategie der USA maßgeblich geprägt.

Seit dem Beginn der milliardenschweren Aufrüstung der Vereinigten Staaten mit Atomwaffen im Jahr 2016 arbeiten die USA an der Entwicklung kleinerer und weniger starker, „einsetzbarer“ Atomwaffen.

In einem Papier des Center for Strategic and International Studies (CSIS) aus dem Jahr 2015 heißt es: „Die Szenarien für den Einsatz von Atomwaffen haben sich stark verändert, seit das 'Gleichgewicht des Schreckens' zwischen den beiden globalen Supermächten nicht mehr besteht.“ Das „zweite Atomzeitalter“ bedeute daher, dass sich Kombattanten gegenüberstehen, die „darüber nachdenken, wie sie Atomwaffen tatsächlich einsetzen, sowohl zu Beginn eines Konflikts als auch in eingegrenztem Ausmaß.“

2019 veröffentlichte Foreign Affairs einen Artikel mit dem Titel „If You Want Peace, Prepare for Nuclear War“ (Willst du Frieden, bereite den Atomkrieg vor) von Elbridge Colby, einem der Hauptautoren von Trumps Nationaler Verteidigungsstrategie 2018. Colby schrieb: „Die Risiken einer waghalsigen Politik in Bezug auf Atomwaffen mögen enorm sein, aber ebenso groß ist der Gewinn aus der Erlangung eines nuklearen Vorteils gegenüber einem Gegner.“

„Der beste Weg, einen Atomkrieg zu vermeiden“, so Colby weiter, „ist die Bereitschaft, einen solchen Krieg in begrenzter Weise zu führen.“

Die US Nuclear Posture Review von 2022 macht deutlich, dass sich die USA das Recht vorbehalten, Atomwaffen zur Erreichung jeglicher nationaler Ziele einzusetzen. Darin heißt es: „Obwohl die wesentliche Rolle der Kernwaffen der USA in der Abschreckung von Angriffen mit Atomwaffen besteht, dienen sie im weiteren Sinne der Abschreckung aller Formen strategischer Angriffe, der Absicherung von Verbündeten und Partnern, und ermöglichen es uns, die Ziele des Präsidenten zu erreichen, wenn die Abschreckung versagt.“

Die USA und die Nato-Mächte haben ihre gesamte Glaubwürdigkeit mit dem Ziel verknüpft, Russland eine strategische Niederlage beizubringen.

Wer glaubt, dass sie nicht auf Atomwaffen zurückgreifen werden, um ihre Ziele zu erreichen, übersieht die Lehren der Geschichte. Es sei daran erinnert, dass die Vereinigten Staaten die einzige Macht sind, die bisher tatsächlich Atomwaffen im Krieg eingesetzt hat. Inmitten einer sich verschärfenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krise, verbunden mit einer Krise der globalen Hegemonie der USA, wird Washington zu immer rücksichtsloseren und verzweifelteren Aktionen getrieben.

Die herrschende Klasse in den USA hat gezeigt, dass ihr Menschenleben völlig gleichgültig sind. Im Namen der Profitmaximierung großer Unternehmen hat sie alle Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 beendet, so dass sich die Krankheit unkontrolliert ausbreiten und jedes Jahr Zehn- oder Hunderttausende von Menschen töten kann. Sie hat absichtlich einen Krieg provoziert, der Hunderttausende von Menschen getötet hat.

Es muss eine eindringliche Warnung ausgesprochen werden. Dieser Krieg muss beendet werden, bevor die menschliche Gesellschaft durch den Krieg beendet wird.

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