Perspektive

Ein Jahr seit der Abschaffung des Rechts auf Abtreibung durch den Obersten Gerichtshof der USA

Am 24. Juni 2023 jährt sich zum ersten Mal das Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA, mit dem das Recht auf Schwangerschaftsabbruch abgeschafft wurde, nachdem es 50 Jahre lang – seit dem Ausgang des Verfahrens Roe v. Wade – Verfassungsrang hatte. Die World Socialist Web Site maß dem reaktionären Urteil weitreichende Bedeutung zu. Über die Entscheidung in der Rechtssache Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization, die durch die Stimmen von fünf nicht gewählten Richtern zustandekam, schrieb die WSWS vor einem Jahr:

Zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte hat der Oberste Gerichtshof ein verfassungsmäßig verbrieftes Grundrecht aufgehoben, das von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung des Landes anerkannt und unterstützt wird... In mindestens 21 US-Bundesstaaten mit einer Gesamtbevölkerung von 135 Millionen Menschen ist der Schwangerschaftsabbruch nun illegal oder wird es in Kürze sein. Für die überwiegende Mehrheit der arbeitenden Frauen ist eine Reise in die meist an den Küsten gelegenen Staaten, in denen Abtreibungen weiterhin legal sind, keine Option... Viele werden bei stümperhaft durchgeführten medizinischen Eingriffen in Hinterhöfen sterben... Die Entscheidung des Supreme Court ist der erste Schuss in einem historisch beispiellosen Angriff der herrschenden Klasse auf alle demokratischen Rechte.

Diese Einschätzung hat sich vollauf bestätigt. Das Urteil hatte schon im ersten Jahr verheerende Auswirkungen auf die Gesundheit und den Lebensstandard von Millionen Frauen und ihren Familien, insbesondere für diejenigen aus der Arbeiterklasse und aus armen Verhältnissen. Ein Viertel aller Frauen im gebärfähigen Alter in den USA leben heute in Bundesstaaten, in denen Schwangerschaftsabbrüche ganz verboten oder nur in den ersten sechs Wochen erlaubt sind.

Demonstration vor dem Obersten Gerichtshof in Austin, nachdem dieser am 24. Juni 2022 das Präzedenzurteil zugunsten des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch aufgehoben hatte [AP Photo/Eric Gay]

Mindestens 25 Staaten haben Schwangerschaftsabbrüche so gut wie verboten oder mit restriktiven Auflagen versehen. Im Mittleren Westen und im Süden, also in den ärmeren US-Bundesstaaten, sind Abbrüche praktisch unmöglich geworden. Lediglich in Illinois oder Virginia können betroffene Frauen Hilfe finden. Die obere Mittelschicht, d. h. die Basis der Demokratischen Partei, kann sich solche Reisen leisten. Den meisten Frauen aus der Arbeiterklasse sind sie aus Kosten- und Zeitgründen nicht möglich. Dutzende von Kliniken haben geschlossen, und die Wartezeiten haben sich von einem oder zwei Tagen auf drei Wochen verlängert, was die Gesundheit und das Leben der Patientinnen gefährdet.

Zahlreiche Studien zeigen, dass Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen möchten und abgewiesen werden, langfristige wirtschaftliche, soziale und psychologische Schäden erleiden. Weitere Faktoren kommen verschlimmernd hinzu: Streichungen bei der öffentlichen Krankenversicherung Medicaid und bei Lebensmittelmarken, die bevorstehende Wiederaufnahme der Rückzahlung von Studienkrediten im Rahmen der Schuldenobergrenze, die Präsidenten Biden mit den Republikanern vereinbart hat, sowie die Aufhebung des Corona-Notstands.

Der Thinktank „Center for American Progress“ berichtete im vergangenen August, dass ein vollständiges Abtreibungsverbot die Zahl der Todesfälle bei Schwangeren um bis zu 24 Prozent erhöhen könnte. Er zitiert eine Studie, wonach in Staaten, die das Recht auf Schwangerschaftsabbruch stärker einschränken, die Sterblichkeit von Schwangeren um 7 Prozent höher ist als in Staaten mit weniger Beschränkungen.

Die Forschungsgruppe „Advancing New Standards in Reproductive Health“ (ANSIRH) an der University of California hat eine Studie über die Auswirkungen ungewollter Schwangerschaften erstellt, aus der hervorgeht, dass die betroffenen Frauen am Ende ihrer Schwangerschaft mit größerer Wahrscheinlichkeit schwerwiegende Komplikationen erleiden oder sogar sterben. Sie können sich schwerer aus Beziehungen befreien, in denen sie missbraucht werden, leiden unter Ängsten und Selbstzweifeln und haben noch Jahre nach der Schwangerschaft gesundheitliche Probleme wie chronische Schmerzen und Bluthochdruck.

Weiter zeigt die Studie auf, dass die Verweigerung eines Schwangerschaftsabbruchs schwerwiegende Folgen für die ungewollten und auch für die übrigen Kinder in der Familie hat.

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs war unrechtmäßig und illegal. Das Urteil war das Ergebnis einer von faschistischen Milliardären unterstützten Verschwörung, die darauf abzielt, die Gerichte mit rechtsextremen Fanatikern und Ideologen zu besetzen. Diese Kräfte operieren über Gruppen wie die „Federalist Society“ und über die großen Medienkonzerne. Die Mehrheit der Richter wurde von Präsidenten ernannt, die bei den Wahlen keine Mehrheit in der Bevölkerung erhalten hatten.

Der antidemokratische Charakter des Gerichts und des politischen Systems insgesamt wird durch die Tatsache unterstrichen, dass die Unterstützung der Bevölkerung für das Recht auf Abtreibung, die zum Zeitpunkt des skandalösen Urteils bei weit über 60 Prozent lag, seither auf Rekordniveau angestiegen ist. Dies findet jedoch keinen Ausdruck in der Politik der Regierung.

Der Oberste Gerichtshof hatte bereits im Jahr 2000 jeden Funken Legitimität verloren, als er bei der damaligen Präsidentschaftswahl eine Neuauszählung der Stimmen in Florida stoppte und damit den Verlierer George W. Bush zum Präsidenten machte. Die Demokratische Partei und ihr Kandidat Al Gore akzeptierten diesen Wahlbetrug, ohne sich dagegen zu wehren.

Einer der dafür verantwortlichen Richter, Clarence Thomas, sprach sich nun im Zusammenhang mit der Aufhebung des Rechts auf Abtreibung dafür aus, auch weitere Präzedenzurteile auf den Prüfstand zu stellen, mit denen demokratische Grundrechte etabliert und geschützt werden. Dazu gehören das Recht auf Empfängnisverhütung, das Recht auf einen Pflichtverteidiger, das Recht auf Ehe für gleichgeschlechtliche Partner, das Verbot rassistischer Gesetze gegen Mischehen und das Verbot des Pflichtgebets in öffentlichen Schulen. Die Logik dieser Position führt bis zur Infragestellung des Urteils in der Rechtssache Brown v. Board of Education, mit dem die Rassentrennung im Schulwesen verboten wurde.

Drei der Richter, die mit der Mehrheit gestimmt haben (Gorsuch, Kavanaugh und Barrett), wurden von Ex-Präsident Donald Trump ernannt. Mit den beiden übrigen (Alito und Thomas) hatte sich Trump zu dem Putschversuch am 6. Januar 2021 verschworen, um entgegen dem Ergebnis der Präsidentschaftswahlen 2020 an der Macht zu bleiben und eine Diktatur zu errichten.

Der Angriff auf das Recht auf Abtreibung wurde nach dem Urteil in der Rechtssache Dobbs weiter verschärft. In Texas wollte ein von Trump ernannter Richter im April den medikamentösen Abbruch für rechtswidrig erklären, obwohl die entsprechende Pille schon vor Jahrzehnten als unbedenklich eingestuft wurde und heute bei den meisten Schwangerschaftsabbrüchen eingesetzt wird. Das Urteil liegt derzeit auf Eis und wird unweigerlich vor dem Obersten Gerichtshof landen.

Erst diesen Monat hat der Oberste Gerichtshof mit 8 zu 1 Stimmen ein Urteil gefällt, mit dem das Streikrecht untergraben wird. Daran waren auch die Richter Sotomayor und Kagan beteiligt, die der Demokratischen Partei nahestehen.

Während der Oberste Gerichtshof gegen demokratische Rechte Amok läuft, häufen sich Enthüllungen über die unter den Richtern grassierende Korruption. Die Vereinigung investigativer Journalisten ProPublica hat aufgedeckt, dass Thomas und seine Frau Virginia exotische Urlaubsreisen im Wert von Millionen Dollar als Geschenke angenommen haben. Außerdem mischten sie am Immobilienmarkt mit und nahmen vom republikanischen Milliardär und Hitler-Anhänger Harlan Crow Schulgeld für Thomas’ Großneffen entgegen. Nichts von alledem hat Thomas in der jährlichen Offenlegung seiner Einkünfte erwähnt. Obwohl Virginia Thomas eine der Hauptfiguren in dem Komplott war, die Wahl 2020 zu kippen und Trump an der Macht zu halten, lehnt ihr Ehemann es ab, sich aus damit zusammenhängenden Verfahren zurückzuziehen.

Auch die Ehefrau des Vorsitzenden Richters Roberts sowie Richter Gorsuch und die den Demokraten zugehörigen Richter Kagan, Breyer und Ruth Bader Ginsburg (die inzwischen verstorben ist) sollen „Geschenke“ in Höhe von mehreren Tausend Dollar erhalten haben.

Erst diese Woche hat ProPublica dokumentiert, dass der Autor des Anti-Abtreibungs-Urteils, Alito, im Privatjet des republikanischen Milliardärs Paul Singer zu einem Angelurlaub geflogen ist und sich anschließend nicht Gerichtsverfahren mit Bezug auf Singer zurückzog.

Die Antwort der Demokratischen Partei macht deutlich, dass demokratische Rechte nicht im Rahmen des kapitalistischen Zweiparteiensystems verteidigt werden können. Die Abgeordneten der Demokraten im Repräsentantenhaus veranstalteten aus Anlass der einjährigen Außerkraftsetzung von Roe v. Wade ein absurdes Spektakel. Die Abgeordnete Barbara Lee aus Kalifornien wetterte gegen die „Handvoll korrupter, extremistischer, heuchlerischer Richter“. Sie sagte aber kein Wort dazu, wie die Vorherrschaft rechtsextremer korrupter Richter über das Justizsystem gebrochen werden kann. Weder das Weiße Haus unter Biden noch die Führung der Demokraten im Kongress haben die Amtsenthebung von Thomas oder die Berufung neuer Richter gefordert. Das Gleiche gilt für die so genannten „Progressiven“ wie Bernie Sanders.

Der Demokratischen Partei geht es nicht um die demokratischen Rechte der Bevölkerung. Sie fürchtet vielmehr, dass die Öffentlichkeit das Vertrauen in die nicht gewählten und nicht rechenschaftspflichtigen, auf Lebenszeit ernannten Richter verliert, die seit mehr als 200 Jahren als Vollstrecker der kapitalistischen Herrschaft dienen.

Der Angriff auf demokratische Rechte ist unlösbar verbunden mit den Angriffen auf Sozialprogramme, der extremen sozialen Ungleichheit und den unaufhörlichen Kriegen der USA. Die herrschende Klasse bereitet eine Diktatur vor, weil sie im unversöhnlichen Gegensatz zur Arbeiterklasse steht. Die Demokratische Partei ist nicht gegen diesen Prozess, sondern Teil davon. Deshalb steht sie auch an der Spitze des US-Nato-Kriegs gegen Russland in der Ukraine.

Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, das durch das Urteil Roe v. Wade etabliert wurde, galt noch als die wichtigste Errungenschaft des amerikanischen bürgerlichen Liberalismus, während alle früheren Sozialreformen bereits wieder zurückgenommen wurden. Seine Abschaffung wird der Arbeiterklasse, die jetzt in Massenkämpfe getrieben wird, zu Bewusstsein bringen, dass sie demokratische Rechte verteidigen muss, indem sie der kapitalistischen Herrschaft ein Ende setzt und den Sozialismus einführt.

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