Spiegel und F.A.Z. fordern unbegrenzte Waffenlieferungen an die Ukraine und „Panzerschlachten“ in Europa

Im Vorfeld des Nato-Gipfels in der litauischen Hauptstadt Vilnius entfachen führende deutsche Politiker und Medien eine Kriegshysterie, die eines zeigt: Die Nato eskaliert den Krieg mit Russland nicht, um die Ukraine oder Europa zu verteidigen. Ihr wirkliches Ziel ist die vollständige militärische Niederlage Russlands – auch wenn dies Jahre dauert, hunderttausende junge Männer auf beiden Seiten der Front als Kanonenfutter verheizt werden und ein Atomkrieg droht, der Europa in die Steinzeit zurückversetzen würde.

Michael Roth (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags [Photo by Bundestag / Kira Hofmann / photothek]

Deutschland tut sich dabei besonders hervor. Die Wortführer der herrschenden Klasse, die seit Jahren fordern, dass Deutschland wieder eine machtpolitische und militärische Rolle spielt, die seinem Gewicht als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt entspricht, sehen ihre Stunde gekommen. Sie wittern die Chance, endlich Revanche für die Niederlagen im Ersten und Zweiten Weltkrieg zu nehmen und Deutschland wieder zur führenden Militärmacht Europas aufzubauen. Was früher noch hinter verschlossenen Türen oder auf den Seiten exklusiver Fachzeitschriften diskutiert wurde, wird nun ganz offen ausgesprochen.

Am Dienstag veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung – das Sprachrohr der Frankfurter Börse – eine Lobeshymne auf Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). „Die Deutschen müssen endgültig lernen, wieder mit dem Militärischen umzugehen“, schreibt Eckart Lohse, der Leiter der Parlamentsredaktion der F.A.Z.. Pistorius müsse die deutsche Gesellschaft „damit vertraut machen, dass es eine neue Wirklichkeit gibt, die einer sehr alten Wirklichkeit wieder nahe kommen kann“.

Als promovierter Historiker weiß Lohse genau, von welcher „sehr alten Wirklichkeit“ er spricht. Es geht um die Jahre 1941 bis 1945, als deutsche Panzer Richtung Moskau rollten und in einem mörderischen Vernichtungskrieg, der 27 Millionen Todesopfer forderte, versuchten, die Sowjetunion zu erobern.

Deutschland habe zwar „mit der Beteiligung am Kosovokrieg die Rückkehr zum Militärischen eingeläutet und mit dem Afghanistaneinsatz fortgesetzt“, stellt Lohse fest. „Doch was seit dem 24. Februar vorigen Jahres getan werden muss, ist von anderem Kaliber. Deutschland muss nicht nur der Ukraine helfen, sondern sich auf Panzerschlachten in seiner Nachbarschaft – Stichwort Baltikum – einrichten. Und es muss darauf vorbereitet sein, dass das im eigenen Land passiert.“

Am Mittwoch legten die Zeit-Redakteure Jochen Bittner und Jörg Lau nach und veröffentlichten ein Interview mit Michael Roth (SPD), dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, und mit Stefanie Babst, die von 2006 bis 2020 die ranghöchste Deutsche im Nato-Generalsekretariat war.

Roth forderte die Bundesregierung auf, „in Zukunft noch stärker auf Abschreckung und Wehrhaftigkeit“ zu setzen. Babst verlangte, der Westen müsse beim Gipfel in Vilnius „die strategische Initiative ergreifen“ und „einen konkreten Fahrplan vorlegen, wann und wie die Ukraine Mitglied der Nato werden könnte“. Wörtlich forderte Babst „einen strategischen Gamechanger, der dem Krieg eine neue Dynamik verleiht“.

Am Donnerstag veröffentlichte der britische Guardian einen Meinungsartikel von Annalena Baerbock, die offen ausspricht, dass Deutschland auf der Weltbühne wieder eine „Führungsrolle“ anstrebt. Die deutsche Außenministerin schreibt, der „Angriffskrieg Russlands“ leite eine „neue Phase“ deutscher Außenpolitik ein, in der sich das Land „nicht länger zurücklehnen“ könne und „seine Führungsrolle wahrnehmen“ müsse: „Es findet nicht nur eine Zeitenwende in der Art und Weise statt, wie mein Land die Bedrohungen für seine eigene Sicherheit wahrnimmt, sondern auch in der Art und Weise, wie wir unsere Verantwortung in der heutigen Welt auffassen: als Führer, auf den sich unsere Partner verlassen können.“

Diese „Verantwortung“ werde Deutschland „in Europa und darüber hinaus durch eine integrierte Sicherheitspolitik wahrnehmen“, so Baerbock. Frühere Phasen deutscher Außenpolitik, in denen das Credo „nie wieder Krieg“ gegolten habe und man auf „Scheckbuch-Diplomatie“ gesetzt habe, seien endgültig vorbei. Deutschland werde künftig „die Sicherheit Osteuropas“ garantieren und die Sicherheit des Kontinents „nicht mit, sondern gegen Putins Russland organisieren“. Aus diesem Grund rüste man auf und errichte „eine geopolitische Europäische Union, die ihre Türen für neue Mitglieder wie die Ukraine, Moldawien, die westlichen Balkanländer und langfristig auch Georgien öffnet“.

Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Propagandakampagne am Freitag mit einem Leitartikel des Spiegels. Das größte Nachrichtenmagazin des Landes erschien mit der Schlagzeile „Gebt der Ukraine, was immer sie braucht – Das sollte uns ein Sieg über Putin wert sein“. Darin fordert Thore Schröder die Nato-Regierungen auf, das ukrainische Militär mit „F-16-Kampfjets, Langstreckenmunition, mehr Flugabwehr und sehr viel mehr Artilleriemunition als bislang“ zu beliefern.

„Die Ukraine tut, was sie kann, um die russischen Invasoren zurückzudrängen“, schreibt Schröder anerkennend, stellt jedoch fest, dass „die erhoffte Gegenoffensive“ der ukrainischen Truppen trotz „schlimmer Verluste“ ihr Ziel „bislang klar verfehlt“ habe: „In der vergangenen Woche haben sie im Süden und Osten des Landes nach eigenen Angaben insgesamt kaum 38 Quadratkilometer zurückerobert, eine Fläche so groß wie Berlin-Mitte.“

Berichten zufolge sind im letzten Monat allein auf ukrainischer Seite zehntausende Soldaten in diesem sinnlosen Gemetzel gestorben. Die ukrainische Generalität rekrutiert mit massivem Polizeiterror Nachschub unter der zunehmend widerstrebenden ukrainischen Jugend. Schröder verteidigt das in geradezu orwellscher Manier: „Tatsächlich hatte die Führung in Kiew kaum eine andere Wahl. Die Erwartung der eigenen Bevölkerung und des Westens, endlich mit dem Versuch der Rückeroberung besetzter Gebiete zu beginnen, war erdrückend.“

Schröder (Jahrgang 1982, Bachelor in Sozialwissenschaften) zählt zum Typus des „eingebetteten Journalisten“, der in enger Abstimmung mit Militär und Regierung pseudoobjektive „Kriegsberichte“ verfasst und auf diese Weise Karriere macht. Im Interview mit dem Karriereportal High Potential berichtet Schröder, dass er in den letzten Jahren „nach Konflikten regelrecht gesucht“ habe, da er „in solchen Lagen sehr gut funktioniere, mich die Aufregung eher konzentrierter macht“.

Nach Berichten über den Krieg in Bergkarabach im Herbst 2020 und „etlichen Wochen in Afghanistan“ habe Schröder zunächst die Korrespondenz bei der Süddeutschen Zeitung übernommen und sei schließlich „fast mit Beginn des Ukrainekrieges Krisenreporter beim Spiegel geworden“. Seitdem ruft er nicht nur in der Print- und Online-Ausgabe des Nachrichtenmagazins nach deutschen Waffenlieferungen, sondern auch auf Instagram.

Im Spiegel-Leitartikel verlangt Schröder: Um den „brutalen Abnutzungskrieg“ gegen „russische Kampfhubschrauber, Kampfflugzeuge, Drohnen und Artillerie“ zu gewinnen, benötige die ukrainische Seite „mehrere Waffensysteme jetzt und in großer Zahl, nicht nach und nach und in geringen Mengen“. „Beim bevorstehenden Nato-Gipfel muss sich der Westen entscheiden, wie viel ihm ein Sieg gegen Putin wert ist.“

Was er Schröder, Lohse, Baerbock und zahlreichen anderen Schreiberlingen und Politikern der herrschenden Klasse „wert ist“, wissen wir inzwischen. Wer glaubte, Deutschland werde nach seinen bestialischen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg keinen neuen Anlauf zur Weltherrschaft unternehmen, sieht sich eines anderen belehrt.

Oder wie es Baerbock im Guardian ausdrückt: „Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs, die von Deutschen entfesselt wurden, wurde die Außenpolitik unseres Landes von der Prämisse geleitet, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen sollte. … Noch vor zwei Jahren wäre die Vorstellung, dass Deutschland Panzer, Flugabwehrsysteme und Haubitzen in ein Kriegsgebiet liefert, gelinde gesagt, weit hergeholt gewesen.“ Nun habe eine Zeitenwende stattgefunden: „Nicht nur die Art und Weise, wie mein Land die Bedrohungen seiner eigenen Sicherheit wahrnimmt, hat sich grundlegend geändert, sondern auch unser Verständnis von Verantwortung in der heutigen Welt.“

Es ist höchste Zeit, diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten.

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