Belagerung von Chan Yunis: Netanjahu fordert die „Ausrottung der neuen Nazis“

In den letzten Tagen konzentrierte Israel seine völkermörderischen Angriffe im Gazastreifen auf die südlich gelegene Stadt Chan Yunis. Führende Vertreter der israelischen Regierung versprachen derweil, dass sie von dem Gemetzel nicht ablassen werden.

Palästinenser inmitten zerstörter Gebäude nach einem israelischen Luftangriff auf das Flüchtlingslager von Chan Yunis im Gazastreifen am 1. Dezember 2023. (Foto: Mohammed Dahman/WSWS) [Photo: Mohammed Dahman/WSWS]

Am Dienstag umstellten die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) die Stadt und forderten die Evakuierung eines Großteils der dicht besiedelten Innenstadt, in der sich das zentrale Nasser-Krankenhaus und zwei kleinere Krankenhäuser sowie Wohnungen von 88.000 Einwohnern befinden. Hinzu kommen die Wohnungen von 425.000 bereits zuvor vertriebenen Personen.

Die Folge dieses kriminellen Befehls ist, dass mehr als eine halbe Million Menschen innerhalb weniger Stunden das Gebiet verlassen müssen, obwohl sie nirgendwo hinkönnen. Der Befehl ist dazu gedacht, ein Massaker an Zivilisten zu rechtfertigen. Der Nothilfekoordinator der UN, Martin Griffiths, erklärte, die IDF befehle „eingeschlossenen Menschen, das Gebiet zu verlassen und bombardiert sie dann, bevor sie dem Befehl Folge leisten können.“

Der Al Jazeera-Journalist Hani Mahmoud erklärte zur Lage vor Ort: „Niemand kann aus dem Gebiet heraus. Wer es versucht, riskiert angesichts des ständigen Beschusses und der Angriffe am Boden und aus der Luft sein Leben.“

Viele derjenigen, die Fluchtversuche unternommen hatten, wurden von israelischen Truppen beschossen, u. a. mit Panzern und Kampfdrohnen. Tareq Abu Azzoum berichtete aus Rafah, Geflüchtete hätten ihm in Interviews beschrieben, wie „israelische Panzer sie umzingelt und das Feuer auf Anwohner eröffnet haben.“

In Chan Yunis setzten die IDF derweil ihre schmutzigen Kriegsverbrechen fort. Dabei wurde ohne Vorwarnung ein UN-Ausbildungszentrum von israelischer Artillerie getroffen, in das sich 800 Menschen geflüchtet hatten. Die Folgen waren ein Großbrand, mindestens neun Tote und mindestens 75 Verletzte.

Ein Vertreter der Vereinten Nationen erklärte gegenüber Al Jazeera: „Die Leute schreien, weinen und bitten um Hilfe.“ Er erklärte, er und sein Team hätten vor Beginn der Kampfhandlungen das Gelände seit zwei Tagen nicht erreichen können, weil die „sichere Route“, auf die man sich mit den IDF geeinigt hatte, von einem Erdwall blockiert wurde.

Der Generalkommissar des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge, Philippe Lazzarini, erklärte, die Zahl der Toten sei „wahrscheinlich höher“. Er warf Israel „eine offene Missachtung der grundlegender Regeln der Kriegsführung“ vor. Die Einrichtung sei „klar als UN-Einrichtung markiert, ihre Koordinaten wurden den israelischen Behörden mitgeteilt.“

Bei einem früheren Angriff auf eine Schule, die ebenfalls als Notunterkunft diente, wurden Berichten zufolge acht Menschen getötet. Al Jazeera schrieb: „Aufgrund der heftigen Angriffe konnten keine Rettungswagen oder Sanitäter zu der Schule vordringen.“

Auch Krankenhäuser, die ebenfalls als Flüchtlingslager dienen, werden von israelischen Truppen erneut belagert. Der Sprecher des Gesundheitsministeriums von Gaza, Ashraf al-Qidra, erklärte: „Die Besatzer isolieren die Krankenhäuser in Chan Yunis und verüben Massaker im Westteil der Stadt… Hunderten von Verletzten, Patienten und Schwangeren drohen ernsthafte Komplikationen, da der Nasser-Krankenhauskomplex für sie nicht zu erreichen ist.“

Mitglieder der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF), die im Nasser-Krankenhaus vor Ort sind, erklärten, dass sie selbst, 850 Patienten und Tausende von Vertriebenen durch die Kämpfe eingeschlossen sind. Die Organisation schrieb auf ihrem Twitter/X-Account: „Seit gestern Abend werden hauptsächlich die südlichen und nördlichen Stadtteile von Chan Yunis immer wieder zum Ziel schwerer Bombardements. Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen im Nasser-Krankenhaus berichten, dass sie spüren können, wie der Boden bebt und dass unter dem Personal, den Patienten und den Menschen, die im Krankenhaus Schutz suchen, ein Gefühl der Panik herrscht.“

Die Organisation warnte, das Nasser-Krankenhaus sei „eines von zwei verbliebenen Krankenhäusern im Süden des Gazastreifens, das noch dazu in der Lage ist, lebensbedrohlich verletzte Patienten zu behandeln.“

Das Personal im Amal-Krankenhaus, das vom palästinensischen Roten Halbmond betrieben wird, berichtete davon, wie die IDF das Gebäude blockierten und eine Ausgangssperre für das Gebiet verhängten, sodass Sanitäter Notfälle nicht erreichen konnten.

Ahmed Al-Mandhari, Regionaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für den östlichen Mittelmeerraum, berichtete auf einer Pressekonferenz über den Zustand des Gesundheitssystem im Gazastreifen und von den wiederholten, insgesamt 660 israelischen Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen und der Unterbrechung der Versorgung mit Medikamenten und Lebensmitteln. Er fügte hinzu, dass die Gesamtzahl der medizinischen Fachkräfte nur noch fünf Prozent der Vorkriegszahl betrage.

Die palästinensische Organisation Network warnte, im Norden der Enklave drohe einer knappen halben Million Menschen, die „in katastrophalen und unmenschlichen Bedingungen“ vor sich hin leben, aufgrund der „Politik des Aushungerns wehrloser Zivilisten und der Versuche, Zivilisten aus ihren Häusern zu vertreiben“, der Hungertod.

Vor kurzem veröffentlichten 16 Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen eine gemeinsame Erklärung, in der sie das schreckliche Ausmaß der Zerstörung im gesamten Gazastreifen beschrieben. Sie riefen die UN-Mitgliedsstaaten auf, „die Krise im Gazastreifen nicht mehr weiter anzuheizen und weitere katastrophale humanitäre Auswirkungen und Verluste von Menschenleben abzuwenden.“

Sie erklärten: „Israels Luftangriffe und die Belagerung berauben die Zivilbevölkerung der für das Überleben notwendigen Güter und machen den Gazastreifen unbewohnbar. Die Zivilbevölkerung von Gaza steht gegenwärtig vor einer humanitären Krise von beispiellosem Schweregrad und Ausmaß.“

Weiter hieß es in der Erklärung: „Die letzte verbliebene Lebensader des Gazastreifens, eine international finanzierte humanitäre Hilfsaktion, wurde durch das Ausmaß der Kampfhandlungen paralysiert. Dazu gehörten u. a. der Beschuss von Hilfskonvois, die Unterbrechung der Kommunikation, die Beschädigung von Straßen, die Einschränkung der Zufuhr lebensnotwendiger Gütern, das Verbot fast aller kommerziellen Güterlieferungen und die Behinderung der Lieferung von Hilfsgütern in den Gazastreifen durch bürokratische Prozesse.“

Zwei Drittel der 1,5 Millionen Einwohner des Gazastreifens sind mittlerweile, wie es geplant war, in einer riesigen Zeltstadt eingepfercht, deren Zentrum in Rafah an der ägyptischen Grenze liegt. Von dort aus sollen sie in die Wüste Sinai getrieben oder schon vorher durch Hunger und Krankheit dezimiert werden.

Yousef Hammash vom Norwegischen Flüchtlingsrat erklärte: „Täglich kommt es zu einer neuen Welle von Vertreibungen. Heute kam sie aus Chan Yunis, davor aus den mittleren Gebieten.“ Rafah sei derart überfüllt, dass „es nicht einmal mehr genug Plätze gibt, an denen Leute ihre provisorischen Unterkünfte und Zelte aufbauen können.“

In einer Rede zur Feier des 75. Jahrestags der Gründung des israelischen Parlaments erklärte Israels Ministerpräsident Netanjahu in aller Offenheit, welcher völkermörderische Kurs hinter dieser Offensive steckt: „Der Krieg muss mit der Ausrottung der neuen Nazis enden, es wird keinen Kompromiss geben.“ Einen Tag zuvor hatte er auf Social Media erklärt: „Die einzige Option ist der vollständige Sieg.“

Seine Äußerungen reihten sich ein in die vehemente Ablehnung einer Kampfpause durch israelische Regierungsvertreter.

In den letzten Tagen wurde über eine zweimonatige Waffenruhe spekuliert, während Geiseln von der Hamas freigelassen wurden. Die Verhandlungen unter Vermittlung von Katar seien beinahe abgeschlossen. Dies erwies sich jedoch als reines Spektakel, durch welches das israelische Kriegskabinett die Protestbewegung in Israel für die Rückkehr der Geiseln beschwichtigen wollte. Gleichzeitig sollte der angebliche „diplomatische Prozess“ den arabischen Regimes und den USA als Feigenblatt dienen.

Die israelische Regierungssprecherin Ilana Stein erklärte gegenüber Reuters: „Israel wird die Zerstörung der Hamas und die Rückkehr aller Geiseln als Ziel nicht aufgeben. Es wird keine Bedrohung der Sicherheit Israels aus dem Gazastreifen mehr geben. Es wird keinen Waffenstillstand geben. In der Vergangenheit gab es Pausen aus humanitären Gründen. Entsprechende Vereinbarungen wurden von der Hamas gebrochen.“

Alle hebräischsprachigen Medien erhielten von Regierungsquellen die gleiche Meldung, in der Berichte über einen Durchbruch bei den Verhandlungen als „Falschmeldungen“ bezeichnet wurden.

Sofern israelische Politiker überhaupt gegen diesen Kurs sind, geht es ihnen lediglich um ein anderes Timing und darum, die Freilassung der Geiseln zu erwirken, noch bevor die Zerstörung von Gaza fortgesetzt wird. Oppositionsführer Yair Lapid hielt während der Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag eine Rede, in der er diesen Standpunkt folgendermaßen zusammenfasste: „In der ersten Stufe werden wir die Geiseln zurückholen... In der zweiten wird die Hamas zerstört.“

Die gleiche Argumentation vertreten viele führende Köpfe der Protestbewegung in Israel, die mehr Einsatz für die Befreiung der Geiseln fordern. Am Mittwoch versuchten Demonstranten, Lastwagen mit humanitären Hilfsgütern den Zugang zum Gazastreifen zu verwehren. Ein Demonstrant bezeichnete es als „inakzeptabel, dass Israel der Hamas weiter Hilfsgüter liefert, sodass sie überleben und dadurch IDF-Soldaten im Gazastreifen gefährden kann. Jede Hilfe an die Hamas sollte an die Bedingung geknüpft sein, dass die Entführten freigelassen werden und die Hamas ihre Waffen niederlegt.“

Die Gruppe faschistischer Kriegstreiber, die Israels Politik dominiert, genießt die volle Unterstützung der imperialistischen Mächte, vor allem die der USA. Zuletzt erhielten sie grünes Licht vom Sprecher des nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, der die IDF groteskerweise dafür lobte, dass sie „zunehmend gezielte Operationen mit Bodentruppen durchführt, besonders gegen die Hamas-Führung, und weniger auf Luftangriffe setzt.“

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