Trotz steigender Armut: Kindergrundsicherung fällt Kriegspolitik zum Opfer

Zwei Entscheidungen der letzten Tage beleuchten, in welche politische Richtung die Berliner Ampel-Koalition marschiert: Sie ist dabei, 5000 schwerbewaffnete Soldaten mit ihren Familien permanent an der russischen Grenze in Litauen zu stationieren. Gleichzeitig erklärt sie es für zu teuer, 5000 zusätzliche Stellen zu schaffen, um gegen Kinderarmut vorzugehen.

Schüler beim Mittagessen [Photo by Pixnio]

Es geht um die sogenannte „Kindergrundsicherung“: Um sie zu realisieren, wären laut Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) etwa 5000 Stellen für einen „Familienservice“ notwendig. Obwohl das Vorhaben im Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Grünen fest vereinbart worden war, laufen nun die FDP und teilweise auch die SPD und Teile der Grünen dagegen Sturm.

Bereits bei der Verabschiedung des Haushalts hatte Paus der Kürzung der ursprünglich für die Kindergrundsicherung veranschlagten zwölf Milliarden Euro im Jahr auf zwei Milliarden zugestimmt. Als sie dann die Zahl von 5000 neuen Stellen ins Spiel brachte, die schätzungsweise 250 Millionen Euro im Jahr kosten würden, entfachte sie damit einen Entrüstungssturm.

Politiker, die im Leben niemals Not leiden mussten, schreien Zeter und Mordio. „Bürokratiemonster!“ schimpft die FDP. Das Vorhaben sei „absurd“, so der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Johannes Vogel. SPD-Kanzler Olaf Scholz hat für Mittwoch das Kabinett zur internen Diskussion darüber einberufen.

Die oppositionelle CDU-CSU-Fraktion lehnt die Kindergrundsicherung mehrheitlich ab, und CDU-Chef Friedrich Merz möchte gleich das gesamte Bürgergeld abschaffen: „Wir können uns 40 Milliarden Euro für das sogenannte Bürgergeld in einer Zeit wie dieser nicht mehr leisten“, sagte Merz im Bundestag.

Auch Lisa Paus selbst besteht nicht auf den zusätzlichen Stellen. Inzwischen haben sie selbst und die Grünen einmal mehr den Rückzug angetreten. „Es wird keine 5000 neue Stellen geben“, erklärte die Grünen-Covorsitzende Ricarda Lang in einer ARD-Sendung.

Inzwischen grassiert die Kinderarmut. Sie ist eine Folge des Sozialabbaus zur Finanzierung der Kriegspolitik.

Für die Ampel steht die Kriegsoffensive gegen Russland im Zentrum ihrer Politik. Sie ist hinter den USA der zweitgrößte Unterstützer des Ukrainekriegs und des israelischen Genozids in Gaza. In den letzten zwei Jahren hat sie der Ukraine laut eigenen Angaben 32 Milliarden Euro an finanzieller und militärischer Hilfe zur Verfügung gestellt. Und der Gesamtwert der genehmigten deutschen Rüstungsexporte nach Israel hat sich im vergangenen Jahr verzehnfacht. Deutschland war für 47 Prozent aller israelischen Waffenimporte verantwortlich.

Die Rechnung bezahlt die Arbeiterklasse in Form von Sozialabbau, Lohndumping, verschärfter Ausbeutung, Arbeitslosigkeit und Armut. Das Anwachsen der Kinderarmut ist die unausweichliche Folge davon.

Das belegt der jährliche Paritätische Armutsbericht 2024, der am 26. März 2024 herauskam. Er enthält noch gar nicht die aktuelleren Zahlen des vergangenen Jahres, in denen sich die kriegsbedingte Inflation widerspiegelt. Doch schon die Statistiken für 2022 zeigen ein verheerendes Bild.

Im Jahr 2022 waren 16,8 Prozent der Einwohner Deutschlands – 14,2 Millionen Menschen – einkommensarm. Ein Fünftel der Armen sind Kinder, und von allen in Deutschland lebenden Kindern ist mittlerweile deutlich mehr als jedes Fünfte (21,8 Prozent) von Armut betroffen.

Der Armutsbericht geht von einem armen Haushalt aus, wenn dessen Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Diese Armutsschwelle lag 2022 bei einer alleinstehenden Person monatlich bei 1186 Euro, bei einem Paar ohne Kinder bei 1779 Euro und bei Alleinerziehenden mit einem Kind unter 14 Jahren bei 1540 Euro. Wie die Zahlen von 2022 zeigen, sind die Alleinerziehenden überproportional betroffen (43 Prozent aller Alleinerziehenden sind arm), daneben sind häufig kinderreiche Familien, Erwerbslose und Menschen ohne deutschen Pass arm.

In solchen Haushalten leiden gerade die Kinder, vom Neugeborenen bis zum Heranwachsenden. Sie sind durch die Armut in vielerlei Hinsicht benachteiligt. Das geht von gesundheitlichen Problemen wie Unterernährung, Entwicklungsverzögerung und verstärkten psychischen Problemen über Bildungsdefizite und soziale Ausgrenzung bis hin zu mangelnden Zukunftsperspektiven. Oft setzt Kinderarmut einen Zyklus in Gang, dem sie auch im Erwachsenenalter nicht mehr entkommen. Laut dem Armutsbericht betrifft dies potentiell 2,9 Millionen Kinder, die in Deutschland arm oder armutsgefährdet sind.

Diesem Teufelskreis sollte die so genannte „Kindergrundsicherung“ entgegenwirken, wie die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag behauptet hatte. Das Projekt sah ursprünglich vor, ab dem 1. Januar 2025 alle Leistungen für Kinder zu bündeln und diese den betroffenen Familien proaktiv zuzuweisen. „Wir wollen aus der Holschuld der Bürgerinnen und Bürger künftig eine Servicepflicht des Staates machen“, wie Ministerin Paus auf der Website ihres Ministeriums großspurig ankündigte.

Natürlich war das gesamte Projekt von Anfang an nicht ausreichend, da ja nur bereits bestehende Sozialleistungen – Kindergeld und -zuschlag, Kinderanteil am Bürgergeld, Kinderfreibetrag etc. – zusammengefasst werden sollten. Diese Leistungen beinhalten heute erbärmlich kleine Summen, von denen realistischerweise kein Kind leben kann. So sieht der Unterstützungssatz für ein Kind im Bürgergeld eine Summe von 350 Euro monatlich vor. Er gibt vor, man könne von 4 Euro am Tag ein Kind ernähren.

Laut Ulrich Schneider, Leiter der Organisation Der Paritätische, die den Armutsbericht herausgibt, müsste man viel mehr Geld in die Hand nehmen, wollte man die Kinderarmut ernsthaft bekämpfen. Mindestens 4 bis 5 Milliarden Euro seien allein schon notwendig, um das Bürgergeld halbwegs vernünftig auszustatten.

„Die Wahrheit liegt im Portemonnaie der Eltern“, erklärte Schneider dem Deutschlandfunk. Er betonte, für die Kinderarmut sei natürlich die Armut der Eltern verantwortlich: Arbeitslosigkeit infolge von Stellenstreichungen, Billiglohn, ein viel zu niedriger Mindestlohn – dies alles sind per se Armutsfaktoren.

Im Jahr 2022 galten gegenüber dem Vorjahr 100.000 Menschen zusätzlich als arm. Gegenüber 2019, der Zeit vor der Pandemie, waren es sogar fast eine Million Menschen mehr. Fast zwei Drittel der erwachsenen Armen gingen entweder einer Arbeit nach oder waren in Rente, ein deutlicher Hinweis auf die prekäre Situation der Arbeiterklasse insgesamt.

Die bisher vorgesehenen Almosen erreichen längst nicht alle Familien, die darauf Anspruch haben. Mehrere Millionen Kinder müssten demzufolge schon heute deutlich mehr Geld bekommen, als dies der Fall ist. Laut Aussage der Familienministerin schaffen es bis zu 70 Prozent aller Anspruchsberechtigten nicht, die Leistungen auch wirklich abzurufen.

Denn das Kindergeld und der Kinderzuschlag müssen bei der Familienkasse, das Bürgergeld beim Jobcenter, die Sozialhilfe beim Sozialamt und der Kinderfreibetrag bei der Steuerbehörde beantragt werden. Nicht jede und jeder schafft das alles auf Anhieb, und wo gibt es Hilfe? Ursprünglich war der Vorschlag, der jetzt als „Bürokratiemonster“ geschmäht wird, gerade als Ausweg aus diesem Bürokratiedschungel vorgesehen.

Allerdings hat die Ampel-Koalition ihr Projekt einer Kindergrundsicherung vor allem fürs Schaufenster, nicht für die Realität bestimmt. Ihre eigentlichen Anstrengungen konzentriert sie auf die Aufrüstung der Bundeswehr und auf ihren geplanten Krieg gegen Russland. Da die Bevölkerung dies mit überwältigender Mehrheit nicht will, geht die Kriegspolitik zwangsläufig mit verschärftem Klassenkrieg einher.

Diese politische Tendenz ist auch an dem Ampel-Projekt der Kindergrundsicherung abzulesen. Von Anfang an soll diese für Flüchtlinge und Asylbewerber nicht gelten. Geflüchtete Kinder sind in fast jeder Beziehung schon heute noch stärker als alle anderen benachteiligt und bekommen beispielsweise nicht einmal Kindergeld. Sie sollen auch von der Kindergrundsicherung ausgeschlossen werden. Das entspricht dem allgemeinen Versuch der Regierung, die arbeitende Bevölkerung zu spalten und damit zu schwächen.

Indessen zeigt der jüngste, heftige Zwist um die 5000 Stellen deutlich, dass die Regierung die gesamte Kindergrundsicherung, so kümmerlich sie auch wäre, kippen will.

Auch in diesem Punkt übernimmt die Ampel-Koalition mehr und mehr die Politik der AfD, die die Kindergrundsicherung ablehnt, weil sie eine „Sozialschmarotzer-Mentalität“ bediene. „Der große Kreis derer, die davon profitieren, sind die die sich unseres Sozialsystems bedienen, ohne jemals einen Cent eingezahlt zu haben“, hetzt der familienpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Martin Reichardt.

Diese Entwicklung zeigt, dass es unmöglich ist, Armut und soziale Ungleichheit durch Appelle an die Regierungen und etablierten Parteien zu überwinden. Die Interessen der arbeitenden Bevölkerung lassen sich nicht mehr mit der Profitgier und dem Kriegstreiben der kapitalistischen Politiker vereinbaren. Es ist, wie die Sozialistische Gleichheit in ihrem Europawahlkampf erklärt: „Um Krieg und Ungleichheit zu beenden, müssen die Massen unabhängig ins politische Geschehen eingreifen, die Macht der Banken und Konzerne brechen und sie unter demokratische Kontrolle stellen.“

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