Kongressabgeordnete fordern Weißes Haus auf, Angriffe der Ukraine im Inneren Russlands zu erlauben

Am Dienstag forderte eine Gruppe von Abgeordneten beider Parteien – Demokraten und Republikaner – das Weiße Haus auf, der Ukraine formell den Einsatz der von den USA gelieferten Waffen für Angriffe im Innern des russischen Staatsgebiets zu erlauben. Zuvor hatten russische Regierungsvertreter erklärt, ein derartiger Schritt würde einen Krieg zwischen Russland und der Nato auslösen.

Das Army Tactical Missile System (ATACMS) [AP Photo/John Hamilton/U.S. Army]

Diese Forderung wurde von fünf Kongressabgeordneten der Demokraten (Linda Sánchez, Rick Larsen, Brendan Boyle, Jason Crow und André Carson) sowie fünf Republikanern (Darin LaHood, Neal Dunn, Brian Fitzpatrick, French Hill und Austin Scott) erhoben.

Der unmittelbare Kontext der Forderung nach einer Ausweitung der amerikanischen Beteiligung an dem Krieg sind die schweren Rückschläge der ukrainischen Streitkräfte auf Grund der russischen Offensive auf Charkiw. Laut der BBC konnten die russischen Truppen durch unbewachte ukrainische Verteidigungslinien einfach „durchlaufen“.

Anfang Mai hatte der britische Außenminister David Cameron gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters erklärt, die Ukraine könne die von Großbritannien gelieferten Langstreckenraketen für Angriffe auf russisches Territorium benutzen. Auf die Frage, ob Großbritannien Angriffe auf Ziele im Inneren Russlands mit von ihm gelieferten Langstreckenwaffen zulassen würde, erklärte er: „Diese Entscheidung liegt bei der Ukraine, sie hat das Recht dazu.“

Im April hatte die Biden-Regierung bestätigt, dass sie der Ukraine heimlich Langstreckenraketen geliefert hat, die Ziele in einer Entfernung von mehr als 300 Kilometern erreichen können. Diese Waffen hatte die Ukraine Anfang Mai für einen Angriff auf einen Luftwaffenstützpunkt auf der Krim benutzt, später auch für einen Angriff auf den Hafen von Berdjansk am Asowschen Meer.

Der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan bestätigte im März, dass die USA die Waffen geheim geliefert hatten, und bekräftigte: „Sie sind jetzt in der Ukraine und waren es bereits seit einiger Zeit.“

Im Mai 2022 hatte Biden erklärt: „Wir ermutigen oder befähigen die Ukraine nicht dazu, Ziele jenseits ihrer Grenzen anzugreifen.“ Im September 2022 hatte er noch benhauptet: „Wir werden der Ukraine keine Raketensysteme liefern, mit denen sie Ziele in Russland angreifen können.“

Genau wie bei früheren Anlässen, zu denen das Weiße Haus die „roten Linien“ überquert hat, die es sich zuvor bei seinem eigenen Engagement in der Ukraine gesetzt hatte, wird immer klarer, dass diese Verlautbarungen nur die Vorbereitung auf die offizielle Ankündigung darstellen, dass die USA Angriffe mit US-Waffen auf Ziele im Inneren Russlands erlauben werden.

Einen Vorgeschmack auf eine derartige Ankündigung gab es bereits während des Ukraine-Besuchs von Außenminister Antony Blinken, der erklärte: „Wir haben Angriffe außerhalb der Ukraine nicht ermöglicht oder dazu ermutigt, aber letzten Endes muss die Ukraine für sich entscheiden, wie sie diesen Krieg führen wird.“

David Sanger von der New York Times schrieb am Mittwoch in einem Artikel, diese Stellungnahme sei Teil einer „Debatte“ innerhalb des Weißen Hauses über die Aufhebung aller Einschränkungen für den Einsatz der von den USA gelieferten Waffen in der Ukraine gewesen.

Bezeichnenderweise stellte Sanger, ein führendes Sprachrohr des amerikanischen Militär- und Geheimdienstapparats, diese Debatte so dar, dass es nicht nur um obskure Einsatzregeln ging, sondern darum, ob die Biden-Regierung „den Dritten Weltkrieg vermeiden sollte“.

Die Times schrieb:

Präsident Biden ist seit der ersten Lieferung hochmoderner amerikanischer Waffen an die Ukraine von einem Verbot nie abgerückt: Präsident Wolodymyr Selenskyj musste versprechen, sie niemals auf russisches Staatsgebiet abzufeuern, da dies gegen Bidens Mandat verstoßen würde, 'den Dritten Weltkrieg zu verhindern.

Doch der Konsens, auf dem diese Politik beruht, zerfasert. Innerhalb der Regierung, vor allem auf Initiative des Außenministeriums, wird lebhaft darüber debattiert, das Verbot zu lockern, damit die Ukrainer Raketen- und Artilleriestellungen auf der anderen Seite der Grenze zu Russland angreifen können – Ziele, die laut Selenskyj Moskaus jüngste Geländegewinne ermöglicht haben.

Zum Schluss hieß es:

Der Vorschlag, auf den Außenminister Antony J. Blinken letzte Woche nach einem ernüchternden Besuch in Kiew drängte, befindet sich noch im Entstehungsstadium. und es ist nicht klar, wie viele seiner Kollegen in Bidens innerstem Kreis sich bereits dazu bekennen. Es wurde dem Präsidenten, der traditionell am vorsichtigsten ist, noch nicht offiziell vorgestellt, so die Beamten.

Der breitere Kontext der „Debatte“ über ukrainische Angriffe tief im Inneren Russland liegt in den weitreichenden Plänen zur Stationierung von Nato-Truppen direkt in der Ukraine. Letzte Woche erklärte US-Generalstabschef Charles Q. Brown der Times, die Nato würde „letztlich“ eine beträchtliche Anzahl von aktiven Nato-Soldaten in die Ukraine schicken, was die Zeitung als „unausweichlich“ bezeichnete.

Sangers Times-Artikel nennt weitere Details über diese Pläne:

Die USA erwägen jetzt, ukrainische Soldaten vor Ort auszubilden, statt sie zur Ausbildung nach Deutschland zu schicken. Dazu müsste US-Militärpersonal in die Ukraine verlegt werden, was Biden bisher ebenfalls verboten hat. Daraus ergibt sich die Frage, wie die USA reagieren würden, wenn die Ausbilder, die vermutlich nahe der westukrainischen Stadt Lwiw stationiert wären, angegriffen würden.

Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte Anfang Mai als Reaktion auf Camerons Äußerungen, die Ukraine dürfe Russland mit Nato-Waffen angreifen, und auf die frühere Forderung von Präsident Emmanuel Macron, die Nato solle die Stationierung von eigenen Truppen in der Ukraine in Erwägung ziehen, Russland werde eine Reihe von Ausbildungsübungen mit Atomwaffen nahe der ukrainischen Grenze veranstalten.

Zwar haben sowohl die USA als auch Russland in der Vergangenheit Atomwaffenübungen als Drohungen benutzt, doch diese waren bisher typischerweise verhohlen und als seit langem geplante Veranstaltungen deklariert, nicht jedoch als kurzfristige Reaktion auf Schritte der Gegenseite. Doch mit der Ankündigung dieser Übungen machte der Kreml nun deutlich, dass sie eine Reaktion auf „provokante Äußerungen und Drohungen einzelner westlicher Regierungsvertreter sind.“

Offiziell begannen die Manöver am Dienstag, wobei die Truppen des Südlichen Militärbezirks „Kampftrainingsaufgaben wie die Beschaffung von Spezialmunition für das operative taktische Raketensystem Iskander, die Ausrüstung von Abschussfahrzeugen und den getarnten Vorstoß in ausgewiesene Stellungsgebiete als Vorbereitung für Raketenstarts“ geübt haben.

Der Kreml fügte hinzu, die beteiligten Truppen „üben die Ausstattung von Fliegerwaffen mit besonderen Sprengköpfen, darunter der aeroballistischen Überschallrakete Kinschal, und Flüge in designierten Patrouillengebieten.“

In der „Debatte“ über die Frage, ob der Ukraine der Einsatz von NATO-Waffen für einen Angriff auf Russland erlaubt werden soll, erklärte Sanger, dass zumindest einige in der Regierung glauben, dass diese Aktion einen Atomkrieg auslösen könnte. Er schrieb:

Selenskyj wies diese Woche in einem Interview mit der New York Times Befürchtungen über eine Eskalation zurück und erklärte, der russische Präsident Wladimir W. Putin habe den Krieg bereits eskaliert. Er halte es zudem für unwahrscheinlich, dass Putin seine Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen je wahrmachen würde.

Biden und einige seiner Berater sind eindeutig nicht überzeugt. Im Verlauf des letzten Jahres haben sie erklärt, sie glaubten an die Existenz einer roten Linie, deren Überschreiten eine heftigere Reaktion Putins nach sich ziehen würde. Sie wissen nur nicht genau, wo diese liegt, und wie die Reaktion aussehen könnte.

Mit anderen Worten, das Weiße Haus bereitet hinter dem Rücken der amerikanischen Bevölkerung einen Kurs vor, der die denkbar schlimmsten und weitreichendsten Konsequenzen haben wird, die man sich nur vorstellen kann.

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