Die World Socialist Website sprach am Wochenende mit Jassir Hamdan (Name geändert), der sich gerade im Westjordanland aufhält. Er lebt seit vielen Jahren in Deutschland und besucht derzeit seine Familie in Nablus. Mit ihm sprach Dietmar Gaisenkersting.
Dietmar Gaisenkersting: Unser vereinbarter Termin am Donnerstag war geplatzt, weil du zu deinen Schwiegereltern musstest. Was war da passiert?
Jassir H.: Ich war mit meiner Frau zu meinen Schwiegereltern gefahren, die auf der anderen Seite der Stadt wohnen, weil dort plötzlich israelische Soldaten mit ihren Fahrzeugen in die Stadt eingefallen waren und ein absolutes Chaos verursacht haben.
Die Soldaten suchen nach bestimmten Leuten, schießen, bringen Leute um oder fotografieren alles. Meistens weiß man gar nicht, was sie wollen und vorhaben. Das passierte am Donnerstag so bei meinen Schwiegereltern im Stadtteil. Sie blockierten ein paar Stunden eine Straße, und alle hatten Angst. Es ist dann gefährlich, mit einem privaten Auto zu fahren, weil sie jederzeit wahllos schießen. Deswegen versucht jeder sofort, sich in Sicherheit zu begeben, sich zu verstecken, bis die Soldaten wieder abziehen. Erst dann kann man halbwegs sicher wieder nach Hause.
Nablus ist eine relativ große Stadt, die zweitgrößte Stadt in Palästina. Im Osten Nablus, wo meine Schwiegereltern wohnen, sind in der Nähe zwei Flüchtlingscamps, Balata und Askar. Deshalb machen die Israelis auf der Seite der Stadt immer so viele Probleme, weil dort, auf dieser Seite der Stadt, und auch in der Altstadt von Nablus, die Kämpfer konzentriert sind.
Was sind das für Kämpfer?
Die sind zum großen Teil unter der Hamas organisiert, vom militärischen Flügel von Fatah und zum kleinen Teil auch vom Islamischen Dschihad. Das sind Kämpfer, die sich gegen die Besatzung wehren, gegen die Siedler, gegen die Gewalt der Israelis. Sie sind aber als kleine Gruppen in jeder Stadt relativ isoliert, weil das Westjordanland durch die israelischen Siedlungen in viele kleine voneinander getrennte Inseln zerstückelt ist. Da sie von der israelischen Armee und der Palästinensischen Autonomiebehörde verfolgt werden, können sie sich schlecht im Land bewegen, deswegen ist die Organisation wirklich ganz schwierig.
Die allerwenigsten haben wie in Dschenin selbstgemachte Sprengstoffe. Dort hatten sie israelische Militärfahrzeuge in die Luft gesprengt. Das war dann der Anlass für diese Zehn-Tage-Operation in Dschenin. Die Israelis hatten dabei viele Menschen getötet, aber auch schon zuvor – und danach auch.
Welche Rolle spielt die Palästinensische Autonomiebehörde [unter Präsident Mahmud Abbas] dabei? Tritt sie gegen Israel auf?
Nein, die kannst du vergessen. Also ich habe jetzt so viele Bekannte, Freunde und Angehörige gesprochen, die hier leben. Keiner hat Vertrauen in die Palästinensische Autonomiebehörde. Die spielen jetzt eine absolut verräterische Rolle. Die machen einfach, was die Israelis wollen. Und sie helfen den Israelis. Zum Beispiel haben die Kämpfer in der Altstadt von Nablus viele Schirme auf den Dächern aufgebaut, damit die Drohnen und die Flugzeuge keinen Blick über die Straßen haben.
Die Palästinensische Autonomiebehörde zerstört diese Schirme regelmäßig. Und wir wissen ganz genau, dass ein paar Stunden danach oder spätestens am nächsten Tag die israelischen Soldaten einmarschieren, um die Kämpfer zu töten. Das ist ein Teil von ihrer Zusammenarbeit mit der israelischen Armee, und daher haben wir keinen Glauben an die korrupte verräterische Autonomiebehörde.
Wie ist die Lage im Westjordanland, was kannst du uns berichten?
Die israelischen Truppen waren für circa zehn Tage in Dschenin. Dort haben sie viele getötet und zudem die gesamte Infrastruktur der Stadt komplett zerstört. Das ist in den nördlichen Regionen, in der Nähe von Nablus. In der mittleren Region, rund um Ramallah, ist die Situation etwas ruhiger, weil dort die palästinensische Autonomiebehörde und die Israelis mehr Macht haben und sie alles kontrollieren und unterdrücken. Da gibt es deshalb auch keine Kämpfer, genauso wie in Jerusalem nicht.
In den südlichen Städten des Westjordanlands, zum Beispiel in Hebron, hatten wir in den letzten zwei, drei Wochen ein paar Überraschungen gehabt. Dort hatten sich Bewohner Waffen besorgt und ein paar israelische Siedler getötet. Und das hat die ganze Situation noch schwieriger gemacht, weil die Israelis … Wie soll ich das beschreiben? Sie bestrafen die gesamte Bevölkerung, nicht nur ein paar Leute oder die Kämpfer, sondern die gesamte Bevölkerung. Diese Stadt ist wie ein großes Gefängnis.
Die Dörfer rund um jede Stadt, die sind immer unter Bedrohung von Siedlern, die auch militärische Unterstützung der israelischen Armee haben. Die Siedler vernichten Olivenbäume, Felder, die Leute werden angegriffen.
Und vielleicht hast du gehört, was vorgestern geschah. Da hat die israelische Armee die amerikanisch-türkische Friedensaktivistin [Aysenur Egzi Eygi] in der Nähe von Nablus mit einem gezielten Kopfschuss getötet. Das war in einem Dorf namens Beita, wo die israelischen Siedler große Landstücke von den dort Lebenden einfach so besetzt und die Bauern vertrieben haben. Da gibt es seit mehreren Jahren so viele Probleme und den direkten Konflikt mit den Siedlern. Aber jetzt treten die Siedler noch aggressiver auf, weil sie grünes Licht von der israelischen Armee und der israelischen Regierung bekommen haben.
Die Armee beginnt nun mit großen militärischen Operationen, damit die Leute nach Jordanien vertrieben werden. Also die israelischen Politiker, die reden in letzter Zeit ständig über eine „Ersatzlösung“ für die Palästinenser in Jordanien. Die wollen uns das ganze Land wegnehmen.
Zwar sagen die jordanischen und anderen arabischen Politiker, dass sie so etwas nicht akzeptieren werden. Aber wir wissen auch, dass diese arabischen Regime und Regierungen, insbesondere in Jordanien, von amerikanischen und westlichen Regierungen abhängig sind. Die wollen in Wahrheit nichts dagegen tun.
Und die Reaktion der Autonomiebehörde? Was sagen die dazu?
Die sind stumm. Wir sehen die gar nicht. Aber wenn die was für die Israelis machen wollen, gehen sie raus, verfolgen die Kämpfer. Die versuchen auch hier Kämpfer festzunehmen. Und die ermöglichen und vereinfachen auch die Arbeit der israelischen Soldaten und deren Terror-Operationen.
Heute gab es eine Schießerei an der Grenze zwischen Palästina und Jordanien, die von der israelischen Armee kontrolliert wird. Da hat ein LKW-Fahrer eine Pistole bei sich gehabt und damit drei Soldaten erschossen. Er wurde auch getötet. Nun hat die Armee seit heute Morgen die Grenze komplett dichtgemacht und wir wissen gar nicht, wann sie die Grenze wieder aufmachen. Wir sind jetzt wie in einem großen Gefängnis.
Wie sieht es überhaupt aus mit der Versorgung von Lebensmitteln, Medikamenten und dergleichen? Wir wissen, in Gaza ist alles abgeriegelt, und im Westjordanland? Wie sieht es dort aus?
Es gibt viel Landwirtschaft hier, die Bauern sind fleißig. Aktuell herrscht kein Mangel an Lebensmitteln, aber die Situation kann sich natürlich jederzeit ändern. Allerdings ist die wirtschaftliche Situation ganz, ganz schwierig. Seit letzten Oktober bekommen die Leute maximal 50 % von ihrem Gehalt, und deswegen haben sie kaum Geld für Lebensmittel. Das normale Alltagsgeschäft wird immer schwieriger. Sie können sich vieles gar nicht mehr leisten.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Hast du auch Kontakte im Gazastreifen?
Direkte Kontakte habe ich nicht, aber man hört stündlich in den Nachrichten, was da passiert. Wobei die Berichterstattung aus Gaza wirklich schwächer geworden ist. Aber das Töten geht weiter. Die Bilder, die wir sehen, z. B. auf Al Jazeera, die sind wirklich erschreckend. Das ganze Land ist komplett zerstört. Ich weiß nicht, wie die Leute es immer noch schaffen, da zu leben.
Wir organisieren viele Hilfsmittel für Gaza. Ich habe viele Bekannte und Freunde, die hier aktiv sind und Hilfsmittel, Babynahrung, Lebensmittel, Zelte sammeln und versuchen, sie nach Gaza zu schicken. Aber die Situation bleibt immer noch brutal.
In einer deiner ersten Nachrichten hattest du geschrieben, es sei alles noch viel schlimmer als gedacht. Auf was hattest du dich da bezogen?
Das war in Bezug auf die Situation im Westjordanland. Zum Beispiel ist die Bewegungsfreiheit hier nicht vorhanden. In der Stadt bleibt man relativ sicher. Aber wenn man von Stadt zu Stadt fährt – Dschenin ist beispielsweise nur 25 Kilometer von Nablus entfernt – ist der ganze Weg wirklich extrem gefährlich. Denn jederzeit kann dich unterwegs ein israelischer Siedler beschießen oder die israelische Armee, die machen das wie eine Mafia, die dir auflauern.
Die Dörfer sind besonders gefährdet. Ich höre von vielen aus meiner Familie, die in einem Dorf in der Nähe von Nablus leben, dass dort ständig Leute angegriffen, geschlagen, beschossen werden. Man liest davon nichts in den Medien, weil die Situation in Gaza wirklich deutlich schlimmer ist und deswegen intensiv darüber berichtet wird.
Die ganze Welt hat von der durch einen israelischen Scharfschützen getöteten Friedensaktivistin gehört, weil sie Amerikanerin war. Aber die normale palästinensische Bevölkerung, die haben in den Augen der Welt offensichtlich keinen Wert. Wenn die angegriffen oder erschossen werden, erfährt man davon in den westlichen oder internationalen Medien generell gar nichts.
Gerade war Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) auf ihrer 11. Nahost-Reise in Israel und hat wieder die israelische Regierung und damit deren Verbrechen, den Genozid an den Palästinensern, verteidigt. Was denkst du, was getan werden muss, um den Völkermord zu beenden?
Zuerst muss die unbegrenzte, falsche westliche Unterstützung für Israel gestoppt werden. Wenn die militärische, wirtschaftliche, politische und mediale Unterstützung gestoppt wird, kann Israel seine Taten nicht weiterführen. Allerdings arbeiten v. a. die Amerikaner aktiv gegen unsere Geschichte, gegen unsere Existenz in Palästina. Die Lippenbekenntnisse der deutschen wie amerikanischen Politiker sind falsch. Ihre Taten sprechen die Wahrheit. Sie arbeiten mit den Israelis aufs engste zusammen, damit unsere Existenz in Palästina beendet wird. Ich habe mit vielen gesprochen, und alle halten die Haltung der europäischen Regierungen für fatal. Die machen, was die Amerikaner diktieren.
Du kennst uns. Unsere Einschätzung ist, dass Israel der Brückenkopf des Imperialismus dort im Nahen Osten ist und der Genozid an den Palästinensern, die „Endlösung“ des palästinensischen Problems, die Vorbereitung auf einen Krieg im Nahen Osten, vor allem gegen den Iran. Deswegen ist unsere Perspektive eine internationale Bewegung der Arbeiterklasse gegen Völkermord, Krieg und Kapitalismus, das heißt, gegen die Wurzel all dieser Verbrechen. Wie siehst du das?
Ich sehe das genauso, wie du das beschrieben hast. Gerade die arbeitende Bevölkerung in aller Welt, die bislang kaum oder wenig informiert sind, sie können jetzt die Wahrheit über Israel und Palästina sehen. Die sehen diesen Ausbruch der Gewalt. Aber das Problem bei den Palästinensern hier im Westjordanland ist, das sie sogar unter zwei Besetzungen leiden, nämlich unter der von Israel und unter der der Palästinensischen Autonomiebehörde, die eng mit Israel zusammenarbeitet.
Möchtest du den Leserinnen und Lesern der WSWS noch was mitteilen?
Ja, ich möchte eine Nachricht an alle schicken, dass jede kleine Bewegung, jede Stimme, jede Meinungsäußerung wirklich einen Unterschied macht. Nur gemeinsam können wir diese unbegrenzte Unterstützung für Israel durch die westlichen Regierungen endlich stoppen.