Angriff auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall

In deutschen Medien und Regierungskreisen nimmt eine Kampagne an Fahrt auf, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einzuschränken. Seit Herbst häufen sich Interviews mit Managern, Ökonomen und Politikern, die Arbeitern wegen des steigenden Krankenstands Faulheit und Verwöhntheit vorwerfen und die Abschaffung jahrzehntealter sozialer Errungenschaften fordern.

Streikende Metallarbeiter im Februar 1957 vor dem Kieler Gewerkschaftshaus. Mit einem 114-tägigen Streik erkämpften sie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. [Photo by Friedrich Magnussen / Stadtarchiv Kiel / CC BY 3.0]

Am 6. Januar forderte Allianz-Chef Oliver Bäte im Handelsblatt die Einführung eines „Karenztages”. Am ersten Krankheitstag soll die Lohnfortzahlung gestrichen werden. „Wir müssen darüber sprechen, was wir uns in einer alternden Gesellschaft noch leisten können,” begründete dies Bäte.

Dies sagt ein Mann, dessen Gehalt sich von 2022 bis 2023 um zehn Prozent auf 7,5 Millionen Euro Jahr erhöhte. Seit Beginn der COVID-19-Pandemie hat die Allianz ihre Gewinne kontinuierlich gesteigert. Für das Gesamtjahr 2024 erwartet der Versicherungskonzern ein operatives Ergebnis von 14,8 Milliarden Euro. Das liegt am oberen Ende der prognostizierten Spanne.

Die Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, hat sich der Forderung nach Karenztagen angeschlossen. Sie brachte außerdem Teilzeitkrankschreibungen für einige Stunden am Tag ins Spiel, die es ermöglichen sollen, Angestellte mit Knochenbrüchen und ähnlichen Verletzungen im Homeoffice weiter arbeiten zu lassen. Den Vorschlag hatte ursprünglich der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, gemacht. Er wird auch aus Kreisen der Grünen und der FDP unterstützt.

Der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Sepp Müller erklärte, Deutschlands Sozialsysteme würden „immer weiter beansprucht“, deshalb müsse man über neue Ideen diskutieren. Auch Rufe nach der Abschaffung der telefonischen Krankschreibung oder einer „Reform“ des 8-Stunden-Tages (FDP und CDU) werden erhoben.

Der Freiburger Ökonomie-Professor Bernd Raffelhüschen, der als Lobbyist für Wirtschaftsverbände in Erscheinung tritt, sagte der Bild-Zeitung: „Die Einführung eines unbezahlten Krankheitstages ist ein sinnvoller Vorschlag und sollte von der nächsten Regierung zügig umgesetzt werden.“ Karenztage seien allerdings „nur Tropfen auf den heißen Stein“. Notwendig sei eine höhere Selbstbeteiligung der gesetzlich Versicherten. Patienten sollten im Jahr die ersten 500 oder 1000 Euro bei Arztbehandlungen selbst tragen oder alle Medikamente zu 20 Prozent aus eigener Tasche bezahlen.

Der Angriff auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall unter dem Vorwurf der „Blaumacherei“ ist zynisch und verlogen. In Wirklichkeit sind dieselben Konzerne und Politiker, die jetzt nach Karenztagen rufen, für den Anstieg des Krankenstands verantwortlich.

Während der Corona-Pandemie bekamen große Unternehmen Milliarden geschenkt, während Arbeiter und ihre Kinder durchseucht wurden, „um die Wirtschaft am Laufen zu halten”. Inzwischen hat die Bundesregierung nicht nur die Testpflicht und alle Corona-Schutzmaßnahmen abgeschafft, sondern im Oktober auch das Abwassermonitoring eingestellt. Im gleichen Monat meldete das Robert Koch-Institut (RKI) einen signifikanten Anstieg der Atemwegserkrankungen in Deutschland, der vor allem durch COVID-19 und Rhinoviren verursacht wird.

Für das Jahr 2024 haben die Gesundheitsreports der gesetzlichen Krankenkassen rekordhohe Krankenstände verzeichnet. Hauptverantwortlich für den Anstieg an Fehltagen waren Atemwegserkrankungen, einschließlich Covid. An zweiter Stelle stehen psychische Erkrankungen, gefolgt von Muskel-Skelett-Erkrankungen.

Es gibt auch ein Wiederaufleben von Krankheiten, die in entwickelten Ländern lange zurückgedrängt waren. Keuchhusten (Pertussis) erlebt in Deutschland einen signifikanten Wiederanstieg, wobei die Fallzahlen auf ein Niveau gestiegen sind, das seit Jahren nicht mehr erreicht wurde. Bis Mitte Oktober 2024 wurden dem RKI mehr als 46.600 Fälle gemeldet – ein sechsfacher Anstieg im Vergleich zum Vorjahr.

Besonders hoch sind die Krankheitsfälle in Pflegeberufen und der Kinderbetreuung. Laut der Techniker Krankenkasse (TK) waren Pflegekräfte 2023 durchschnittlich 29,8 Tage krankgeschrieben – ein neuer Höchststand. Im Vergleich zu 2021 mit 23,2 Tagen und 2022 mit 28,8 Tagen zeigt sich ein deutlicher Anstieg. Besonders betroffen war die Altenpflege, wo Beschäftigte im Durchschnitt 34,2 Krankheitstage hatten.

Die anhaltende Corona-Pandemie, wiederauftretende infektiöse Krankheiten und psychische Gesundheitsprobleme vor dem Hintergrund weitgehender Angriffe auf das Gesundheitssystem sind Teil eines globalen Musters.

Airfinity, ein Unternehmen für Datenanalyse mit Spezialisierung auf globale Krankheits- und öffentliche Gesundheitstrends, berichtet über einen signifikanten Anstieg bei mindestens 13 Infektionskrankheiten, deren Fallzahlen in vielen Regionen die Werte vor der Pandemie übersteigen.

Über 40 Länder oder Territorien berichten von mindestens einer Infektionskrankheit, deren Fallzahlen das Niveau vor der Pandemie um das Zehnfache oder mehr übersteigen. Zu den wiederauflebenden Krankheiten gehören Cholera, Dengue, invasive Streptokokken der Gruppe A, Tuberkulose, Polio und Influenza. Auch Masern, Respiratorisches Synzytial-Virus (RSV), Windpocken und Keuchhusten nehmen zu und stellen ein erhebliches Risiko für Kinder und immungeschwächte Personen dar. Durch den Abbau von Maßnahmen im öffentlichen Gesundheitswesen während der COVID-19-Pandemie hat SARS-CoV-2 uneingeschränkten Zugang zur gesamten Weltbevölkerung erhalten.

Der Anstieg von infektiösen Krankheiten wird auch mit einer Schwächung des Immunsystems durch wiederholte COVID-19-Infektionen, einschließlich asymptomatischer Fälle, in Verbindung gebracht. Long COVID, eine schwächende Erkrankung, die mehrere Organsysteme betrifft, spielt eine zentrale Rolle dabei. Es erhöht die Anfälligkeit für verschiedene Krankheiten und verschlimmert bestehende Gesundheitsprobleme.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Vertreter des sogenannten Arbeitnehmerflügels der CDU haben sich bisher gegen die Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ausgesprochen. Der Grund ist, dass sie vor der Bundestagswahl keine sozialen Proteste provozieren wollen.

Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist wie kaum eine andere soziale Errungenschaft mit gewaltigen Arbeitskämpfen verbunden. 1956/57 streikten in Schleswig-Holstein 45.000 Metallarbeiter 114 Tage lang für ihre Einführung. Es war der längste Streik in der bundesdeutschen Geschichte. Die Streikenden lehnten von der IG Metall ausgehandelte Kompromisse mehrmals ab. Selbst als die Gewerkschaft den Streik schließlich abbrach, votierten über 60 Prozent erfolglos dagegen.

Es sollte weitere Jahre dauern, bis die Lohnfortzahlung in ihrer heutigen Form eingeführt wurde. 1969 wurde sie gesetzlich verankert. Doch 1996 schränkte sie die Regierung von Helmut Kohl (CDU) wieder ein. Sie senkte sie von 100 auf 80 Prozent des Tariflohns.

Erneut kam es zu mächtigen Streiks. Im gesamten Bundesgebiet beteiligten sich in der Metallindustrie und anderen Branchen mehrere Hunderttausend an Arbeitsniederlegungen. Als der Vorstand von Daimler-Benz beschloss, die neue Regelung anzuwenden, legten 30.000 Autoarbeiter die Arbeit nieder.

Die Kohl-Regierung nahm das neue Gesetz zwar nicht zurück – das tat erst 1998 die Regierung von Gerhard Schröder (SPD) –, aber rund neun Millionen Beschäftigten wurde die 100-prozentige Auszahlung des Krankengelds tarifvertraglich zugesichert.

Niemand sollte den Versicherungen von SPD- und anderen Politikern Glauben schenken, sie würden die Lohnfortzahlung nicht antasten. Dieses Versprechen gilt nur bis zum Wahltermin am 23. Februar.

Der Angriff auf einen Grundpfeiler der sozialen Sicherheit erfolgt nicht zufällig nach dem Bruch der Ampel-Koalition und der Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus. Trump hat bei seiner Amtseinführung, wie die WSWS schrieb, „der Welt und der Arbeiterklasse den Krieg erklärt“. Seitdem vergeht kein Tag, an dem er keine neuen militärische Drohungen ausstößt und neue Angriffe auf soziale und demokratische Rechte verkündet.

Die herrschenden Eliten in Deutschland und Europa reagieren darauf, indem sie selbst der Arbeiterklasse den Krieg erklären und aufrüsten wie seit Hitler nicht mehr. Darüber sind sich im Bundestagswahlkampf alle Parteien einig.

Während Friedrich Merz von der CDU erklärt, Deutschland müsse „für Europa eine Führungsverantwortung übernehmen”, fordert Robert Habeck von den Grünen eine Verdreifachung der deutschen Rüstungsausgaben – das entspricht dem Neunfachen des bereits mehrfach gekürzten Gesundheitshaushalts für 2024.

Boris Pistorius von der SPD fordert eine Erhöhung auf drei Prozent. Das BSW von Sahra Wagenknecht verkündet in seinem Wahlprogramm das Ziel, die Bundeswehr „wieder und ausschließlich zu einer Verteidigungsarmee zu machen“, wofür sie „angemessen ausgerüstet” sein müsse. Alice Weidel von der AfD hat sich für eine Erhöhung der Rüstungsausgaben auf 5 Prozent ausgesprochen, das entspricht fast der Hälfte des Bundeshaushalts.

Gleichzeitig steigt die Zahl der Milliardäre ständig an, die Aktienkurse klettern von Rekord zu Rekord. Das Geld für die Rüstung und die Bereicherung der Reichen muss aus den Arbeitern herausgepresst werden. Aus diesem Grund bereiten sich alle etablierten Parteien vor, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse ins 19. Jahrhundert zurückzuversetzen. Der Angriff auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall knüpft dabei nahtlos an die Profit-vor-Leben-Politik in der Corona-Pandemie an.

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