Nach der Machtübernahme der islamistischen HTS-Miliz in Syrien mehren sich Berichte über maßlose Gewalt und Hinrichtungen von Angehörigen religiöser Minderheiten. Laut einem Bericht der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR - Syrian Observatory for Human Rights) von Anfang der Woche fanden allein in 72 Stunden 35 außergerichtliche Hinrichtungen statt. Die Täter: Kämpfer der regierenden HTS (Haiat Tahrir al-Scham – Organisation zur Befreiung der Levante) und anderer islamistischer Terrorgruppen, die mit HTS in Verbindung stehen.
Die in London ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte erklärt, dass die Kämpfer „Vergeltungsmaßnahmen ergriffen und alte Rechnungen mit Mitgliedern der alawitischen Minderheit beglichen haben, zu der auch [der gestürzte Präsident] Bashar al-Assad gehört“. Dabei hätten sie „den Zustand des Chaos, die Verbreitung von Waffen und ihre Verbindungen zu den neuen Behörden“ ausgenutzt.
Die Beobachtungsstelle sprach von „willkürlichen Massenverhaftungen, grausamen Misshandlungen, Angriffen auf religiöse Symbole, Verstümmelungen von Leichen, summarische und brutale Hinrichtungen von Zivilisten“, die „ein beispielloses Maß an Grausamkeit und Gewalt“ zeigten. Die Opfer seien „Angehörige von Minderheitensekten wie Alawiten, Schiiten und Murshiden in Dörfern in der gesamten Region“ Homs, so die Beobachtungsstelle.

Auch die Civil Peace Group gab in einer Erklärung bekannt, dass es bei einer „Sicherheitsaktion“ in mehreren Dörfern in der Region Homs zivile Opfer gegeben habe. Die Gruppe „verurteilte die ungerechtfertigten Verstöße“, einschließlich der Tötung unbewaffneter Männer. Nach den „schweren Verstößen und Massenhinrichtungen, die in den letzten 72 Stunden 35 Menschen das Leben gekostet haben“, hätte es Verhaftungen gegeben, berichtet die SOHR.
Offensichtlich sahen sich die HTS-Behörden, die den islamistischen Terror gegen Minderheiten regelmäßig mit dem Vorgehen gegen vermeintliche Unterstützer des Anfang Dezember 2024 zusammengebrochenen Assad-Regimes rechtfertigen, gezwungen, sich von den Gewaltexzessen bis zu einem gewissen Grad zu distanzieren. Im Gebiet westlich der Millionenstadt Homs seien mehrere Personen wegen nicht näher bezeichneter „Verstöße“ festgenommen worden, hieß es auch aus Regierungskreisen.
Die offizielle syrische Nachrichtenagentur SANA berichtete, dass die Behörden Mitglieder einer „kriminellen Gruppe“ beschuldigten, sich „als Mitglieder der Sicherheitsdienste“ ausgegeben zu haben. „Dutzende Mitglieder lokaler bewaffneter Gruppen, die unter der Kontrolle der neuen sunnitisch-islamistischen Koalition an der Macht stehen und an den Sicherheitsoperationen teilgenommen haben, wurden verhaftet', heißt es im Bericht der SOHR.
Tatsächlich zeigt der Terror den Charakter des vom Westen unterstützten und hofierten HTS-Regimes. Die Miliz ist die Nachfolgeorganisation der vormals mit al-Qaida verbündeten al-Nusra-Front. Ihr früherer Emir Abu Mohammad al-Dschulani, der am 29. Januar unter seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Scharaa zum syrischen Übergangspräsidenten ernannt wurde, schwor 2013 in einer Videobotschaft dem damaligen al-Qaida Führer Scheich Ayman al-Zawahiri „die Treue.“ In der Folge unterstützte al-Qaida al-Dschulani mit Kämpfern und Waffen, die al-Nusra für mörderische Terroranschläge nutzte, bei denen unzählige Zivilisten das Leben verloren.

Ein weiterer berüchtigter islamistischer Terrorist in Dschulanis Übergangsregierung ist Justizminister Shadi al-Waisi. In seiner Funktion als Richter der al-Nusra-Front nahm er selbst an öffentlichen Hinrichtungen teil und organisierte diese. Ein 2015 in Hafasraja aufgenommenes Video zeigt al-Waisi wie er die Hinrichtung einer Frau befiehlt, die er zuvor wegen Prostitution verurteilt hatte. Auf dem Video ist zu sehen, wie er zunächst persönlich das Urteil verkündet und dann dem Henker ein Zeichen gibt, sein blutiges Werk zu verrichten. Die Hinrichtung wurde mit einem Kopfschuss durchgeführt.
Seitdem sie im vergangenen Dezember mit Unterstützung der Nato-Mächte in Damaskus die Macht übernommen haben, setzen die HTS-Führer trotz ihrer öffentlich etwas gemäßigten Rhetorik den Terror fort. Die jüngsten Hinrichtungen sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Seit Anfang 2025 habe „es in Syrien eine dramatische Eskalation von Attentaten und Vergeltungsaktionen durch bewaffnete Gruppen in verschiedenen syrischen Provinzen gegeben“, heißt es in einem weiteren SOHR-Bericht. Einige dieser Gruppen seien der Military Operations Administration, d.h. der neuen Regierung angeschlossen und griffen „Zivilisten aus politischen und konfessionellen Motiven an“.
Insgesamt hat die SOHR seit Jahresbeginn „91 Mordverbrechen und Eliminierungen, die unter Vergeltungsmaßnahmen in verschiedenen syrischen Provinzen fallen, dokumentiert, bei denen 190 Menschen ums Leben kamen, darunter fünf Frauen“, so der Bericht weiter. Tote habe es u.a. in Damaskus (3), Rif Dimashq (14), Homs (91), Hama (46), Latakia (15), Aleppo (6), Tartus (9), Idlib (4), al-Suwaida (1) und Deir Ezzor (1) gegeben.
Bezeichnenderweise wird über den islamistischen Terror in Syrien in den westlichen Medien kaum berichtet. Die Gründe dafür sind offenkundig. Zum einen sehen die Nato-Mächte die neuen Machthaber in Damaskus als wichtige Verbündete bei der imperialistischen Unterjochung Syriens und des gesamten Nahen Ostens. Dabei geht es wie beim Genozid an den Palästinensern vor allem darum, die militärische Position Israels zu stärken und den Iran und Russland als Machtfaktor in der Region auszuschalten. Bei ihrem Treffen mit Dschulani in Damaskus Anfang Januar forderte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), Russland solle seine Militärbasen in Syrien aufgeben.
Ein weiterer Grund für das Schweigen vor allem in den deutschen Medien sind die Pläne der herrschenden Klasse, hunderttausende syrische Flüchtlinge zu deportieren. Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte in der Bundestagssitzung am Mittwoch, die ganz im Zeichen der Flüchtlingshetze und der Stärkung der faschistischen AfD stand: „Wir schauen uns auch die Entwicklungen in Syrien sehr genau an. Sobald die Lage vor Ort es zulässt, werden wir auch dorthin Abschiebungen von Straftätern vornehmen“. Darüber rede er „mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder, so wie wir auch in den vergangenen Jahren in diesem Kreis immer wieder weitgehende Beschlüsse gefasst haben.“
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