Nach den Massenprotesten vom 10. März:

Französische Regierung und Opposition befürworten "Ja" zur EU-Verfassung

Wut und Empörung über den Sozialabbau der rechten Chirac-Regierung trieben die französische Bevölkerung Anfang März nach den Massenprotesten vom 20. Januar und 5. Februar zum dritten Mal in diesem Jahr auf die Straße.

Zuerst protestierten erneut Zehntausende Gymnasiasten in über 150 Städten gegen die Schulreform von Bildungsminister François Fillon. Ihnen folgten am Donnerstag den 10. März fast eine Million Menschen, die in allen Teilen Frankreichs gegen die Angriffe von Regierung und Unternehmern auf Arbeitsbedingungen, Löhne und Arbeitsplätze demonstrierten. Allein in Paris beteiligten sich 150.000 Menschen.

An diesem Tag demonstrierten Lehrer und Schüler, Beamte und öffentliche Angestellte gemeinsam mit Zehntausenden Beschäftigten der Privatwirtschaft. Auf den Transparenten der Delegationen standen Namen wie Lidl, Alcatel, EADS, Latécoère, Carrefour, Legrand oder RVI, um nur einige wenige zu nennen.

In Tausenden Betrieben wurde außerdem ein Streikaufruf befolgt, so bei Coca-Cola, Exxon, L’Oréal, LU, Michelin, Nestlé, Renault, Rhodia, Rhône-Poulenc, Sanofi-Aventis, Total oder Yoplait, sowie zahlreichen Metallbetrieben.

Große Teile des öffentlichen Dienstes waren lahmgelegt, und laut Direktionsangaben legten 15 Prozent der Postbeschäftigten, 24 Prozent von France Télécom und 22 Prozent von EDF-GDF die Arbeit nieder. Nach offiziellen Angaben streikten in vielen Bereichen bis zu vierzig Prozent der Beamten. Das Transportwesen war stark beeinträchtigt, da sich auch die Eisenbahnen, der öffentliche Nahverkehr von Paris und anderen Städten, die Häfen und die Flughäfen im Ausstand befanden.

Dieser nationale Streiktag beweist einmal mehr die Bereitschaft der französischen Arbeiter, sich im Kampf gegen eine Wirtschaftspolitik zu engagieren, die ausschließlich den Interessen der Herrschenden dient.

Grund ist die immer angespanntere soziale Lage: Die Arbeitslosenzahlen sind zum erstenmal seit fünf Jahren wieder auf über zehn Prozent geklettert, und jeder fünfte Arbeitnehmer hat nur einen befristeten Arbeitsplatz. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist innerhalb von zwölf Monaten um 5,6 Prozent gestiegen, die "Arbeitslosigkeit von sehr langer Dauer", d.h. mehr als drei Jahren, um 5,3 Prozent. Die Arbeitslosenrate bei Jugendlichen unter 25 Jahren wuchs von 9,8 Prozent im Jahr 1975 auf derzeit 21,8 Prozent.

Gleichzeitig verzeichnen die drei größten Banken des Landes - Crédit Agricole, BNP Parisbas und Société Générale - Rekordprofite von fast zehn Milliarden Euro. Auch von den großen Unternehmen werden Rekordgewinne gemeldet. Wie der leitende Wirtschaftsexperte der Caisse des dépots, Patrick Artus, erklärte, ist "der Anstieg der Gewinne nach unseren Untersuchungen zur Hälfte durch die Veränderung der Einkommensverteilung zu Gunsten des Kapitals und zu Ungunsten der Arbeit bedingt". Zur Untermauerung seiner Aussage führte er an, dass die Produktivität 2004 um 1,8 Prozent, die Reallöhne aber nur um 0,5 Prozent gestiegen seien."Die andere Hälfte des Profitzuwachses entspringt dem Kostenrückgang, der durch die Kapitalverlagerungen ins Ausland bewirkt wurde", fuhr er fort.

Dies alles zeigt deutlich, dass in Frankreich, wie überall sonst, die soziale Polarisierung und wachsende Ungleichheit die Gesellschaft auseinanderreißt. Doch die Gewerkschaftsführer tun alles, um die Arbeiter daran zu hindern, die notwendigen politischen Schlussfolgerungen zu ziehen. So wurden die Forderungen vom 10. März von vorneherein darauf beschränkt, lediglich die allerschlimmsten Angriffe auf die soziale Existenz der Arbeiter abzuwehren. Die unternehmerfreundliche Politik der gesamten Regierung wurde nicht in Frage gestellt, geschweige denn das Profitsystem selbst.

Für den Generalsekretär der Gewerkschaft CGT, Bernard Thibault, hat der letzte Donnerstag "das hohe Niveau der Unzufriedenheit gezeigt, wie auch die Dringlichkeit, konkret auf die Forderungen zur Arbeitszeit und zur Kaufkraft einzugehen". Laut dem Generalsekretär der Gewerkschaft Force Ouvrière (FO), Jean-Claude Mailly, "zeigt die Mobilisierung, dass besonders die Lohnforderungen eine breite Zustimmung finden und vorrangig sind. Die Regierung muss sie also zur Kenntnis nehmen, und die Unternehmer müssen sich dazu äußern."

Wie immer bei solchen Gelegenheiten blieb es der sogenannten "extremen Linken" (Ligue Communiste Révolutionaire, Lutte Ouvrière) überlassen, diese Sabotage politisch abzudecken und den Arbeitern weiszumachen, sie könnten nichts anderes tun als Druck auf ihre Führer auszuüben. So schrieb Arlette Laguiller am 11. März in Lutte Ouvrière : "Damit der 10. März nicht folgenlos bleibt, sondern eine Etappe, der Ausgangspunkt breiterer Mobilisierung ist, müssen die Gewerkschaftszentralen merken, dass die Arbeiter ihr Zögern und ihre Winkelzüge nicht mehr akzeptieren."

Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass die Regierung ein wenig von der harten Linie abweicht, die sie im Jahr 2003 eingenommen hatte, als sie mit einer mindestens ebenso großen Protestbewegung - damals gegen die Rentenkürzungen - konfrontiert war, und dass sie sich diesmal für einen leichten taktischen Rückzug entscheidet.

Die Gründe für eine solche Haltung wurden in einem Leitartikel der bürgerlichen Tageszeitung Le Monde ausgeführt. Der Autor meinte, die Regierung habe "das Glück, verantwortungsvolle Gewerkschaftsorganisationen als Gegenüber zu haben", welche "die soziale Unzufriedenheit im Verlauf eines interprofessionellen Aktionstages bestens gemeistert haben, weil sie so eine bessere Kontrolle haben als über ‚spontane’ und ‚wilde’ Streiks".

Außerdem heißt es in dem Artikel: "Keine zweieinhalb Monate vor einem wichtigen Referendum über die Europäische Verfassung kann es sich Herr Chirac nicht leisten, den sozialen Forderungen gegenüber die Ohren ganz zu verschließen."

Referendum über die EU-Verfassung

In der Tat birgt das bevorstehende Referendum über die EU-Verfassung viele Unsicherheiten, und die von Le Monde ausgesprochenen Befürchtungen sind keineswegs übertrieben. Wenn zu der sozialen Unzufriedenheit, die sich am 10. März so massiv zeigte, noch eine bewusste Opposition gegen das Projekt eines politisch und militärisch erstarkten kapitalistischen Europas kommt, wäre dies ein Risiko für die Regierung und die ganze herrschende Klasse.

Offenbar ist sich Präsident Jacques Chirac den potentiellen Gefahren bewusst, denn er weigerte sich, den Befürwortern einer Blitzkampagne nachzugeben, die das Referendum sofort im Anschluss an die Volksabstimmung in Spanien durchführen wollten, weil sie hofften, aus dem spanischen "Ja" Kapital für Frankreich ziehen zu können. Chirac setzte das Referendum auf den 29. Mai fest, wodurch ihm für seine Kampagne mit 85 Tagen ungewöhnlich viel Zeit bleibt.

Die stärksten Befürworter eines "Ja" zur EU-Verfassung kommen zur Zeit aus den Führungsriegen der Sozialistischen Partei (PS), allen voran ihr Generalsekretär François Hollande. Seine Argumente versteigen sich zu offenen und schamlosen Fälschungen des europäischen Verfassungsvertrags, der in dem Referendum zur Abstimmung kommt. "Alle Bürger werden die gleichen sozialen Rechte haben", gelobt Hollande ohne mit der Wimper zu zucken. Wieder und wieder verspricht er: "Zum ersten Mal wird die Verfassung die öffentlichen Dienste anerkennen."

Dabei ist allgemein bekannt, dass der Vertrag ausdrücklich so abgefasst wurde, dass die sozialen und umweltpolitischen Verpflichtungen für das europäische Großkapital auf ein Minimum beschränkt werden. So heißt es beispielsweise im Zusammenhang mit der "Förderung der Beschäftigung, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen" im Verfassungstext, eine solche Entwicklung ergebe sich vor allem aus dem "eine Abstimmung der Sozialordnungen begünstigenden Wirken des Binnenmarktes".

Der PS-Führer unternimmt nicht einmal den Versuch, sich von der "Ja"-Kampagne der regierenden UMP abzugrenzen, der wichtigsten Partei der französischen Rechten. "Es war Zeit, dass die UMP ihre offene Zustimmung zur europäischen Konstitution erklärte!" rief Hollande vor kurzem aus.

Mit dieser Politik handelte sich Hollande übrigens auf einer Demonstration zur Verteidigung des Öffentlichen Dienstes in Guéret, in der Creuse, Buh-Rufe und Schneebälle ein. Die Demonstration war von einer PS-Sektion organisiert, die mit der Minderheitstendenz in der Partei sympathisiert, die die EU-Verfassung ablehnt.

Dem "Nein"-Lager gehören die verschiedensten politischen Tendenzen an - von ganz links, LO und LCR, über die Stalinisten des PCF und die PS-Minderheit, bis hin zu rechten und faschistischen Parteien, wie dem Front National von Le Pen.

Hollande reagierte mit offenen Ausschlussdrohungen auf die Widersacher in den eigenen Reihen. Sein Zorn drückt jedoch vor allem die Befürchtung aus, in der Bevölkerung könnte eine politisch konsequente, progressive Opposition entstehen, die sich nicht auf reaktionären Nationalismus, sondern auf die bewusste Einheit der europaweiten Arbeiterklasse im Kampf gegen das europäische und Weltkapital stützt.

In dieser kritischen Frage befindet sich Hollande in Übereinstimmung mit den "Nein"-Anhängern der PS-Minderheit, der PCF oder der LO und LCR. Denn während er selbst jede Verbindung zwischen der europäischen Verfassung und der neoliberalen Offensive von Privatisierungen, Verlagerungen und massiven Sozialkürzungen leugnet, verschweigen auch die "Nein"-Sager, dass es eine unauflösliche Verknüpfung zwischen Neoliberalismus und Kapitalismus gibt. Die PCF-Führung erklärt zum Beispiel: "Das Referendum wird die Gelegenheit bieten, klar zu sagen, dass wir keine liberale Regierungspolitik mehr wollen."

Die "Nein"-Anhänger innerhalb des PS fürchten außerdem, dass sich die Partei durch ihre "Ja"-Kampagne zu wenig von den regierenden Rechten unterscheidet. In den nächsten Wahlen könnte die PS dadurch in den Augen der Bevölkerung noch den letzten Rest an politischer Glaubwürdigkeit verlieren. In kaum zwei Jahren stehen die nächsten Parlamentswahlen bevor.

Die Führer der PS-Minderheitsströmung wollen keineswegs die Parteieinheit aufs Spiel setzen. So erklärte Henri Emmanuelli, der sich offiziell für ein "Nein" aussprach: "Wenn das Ja durchkommt, wird es keine siebzig Prozent, sondern höchstens etwas über fünfzig Prozent gewinnen. Danach wird es nötig sein, dass das Band neu geknüpft wird." Auch der Senator der Essonne, Jean-Luc Mélenchon, warnte: "Es darf nicht sein, dass die Referendums-Kampagne zum Vorwand wird, um einen unüberbrückbaren Graben zu öffnen."

Das Dilemma der französischen Bourgeoisie

Das Dilemma, in dem sich die französische - und die europäische - Bourgeoisie befindet, wurde von Le Monde auf den Punkt gebracht: "Jeder Arbeitskampf...trägt den Keim der Ablehnung - sogar des Hasses -auf Europa in sich. Die steigende Arbeitslosigkeit? Wegen Europa. Die ins Ausland verlagerte Fabrik? Wegen Europa. Eine Poststelle, die dicht gemacht wird? Wegen Europa. Die stagnierenden Löhne? Wegen Europa. Die Teuerung? Wegen Europa."

Solche Sorgen sind realistisch und begründet. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der anwachsenden wirtschaftlichen Unsicherheit und den Bemühungen der europäischen Wirtschaft, die Lebensbedingungen auf niedrigstem Niveau anzugleichen. Indem die Zeitung Le Monde diesen Zusammenhang karikiert, versucht sie ihn zu vernebeln.

Das Herzstück des Projektes für ein integriertes kapitalistisches Europa ist die Expansion nach Osten: im Rahmen einer gemeinsamen Kampagne der herrschenden Klassen sollen die sozialen Bedingungen auf dem ganzen Kontinent auf das schamlos niedrige Niveau der rückständigeren osteuropäischen Wirtschaften heruntergeschraubt werden.

Die unausbleiblichen und jetzt schon sichtbaren Folgen einer solchen Expansion sind das weitere Auseinanderdriften der Einkommen und eine zunehmende Produktionsverlagerung nach Osten, dorthin, wo die Arbeitsgesetze für die Großunternehmen am günstigsten sind und es praktisch keinen gesetzlichen Schutz für Arbeitnehmer gibt.

Dieser Prozess hat in mehreren Wirtschaftszweigen schon begonnen. Die Weltführerin im Bereich von Elektrogeräten, die schwedische Firma Elektrolux, gab am 15. Februar bekannt, dass, "ungefähr die Hälfte der Fabriken, die wir in reichen Ländern haben - das sind 15 von 27 -, verlagert werden müssen". Auch andere Unternehmen haben Fabrikschließungen oder Personalabbau im Westen angekündigt, um neue Produktionseinheiten in Polen, Ungarn, der tschechischen Republik oder in Rumänien zu eröffnen. Diese Länder werden bald den Großteil der 12,8 Millionen Elektrogeräte bauen, die jährlich in Frankreich verkauft werden. Eine ähnliche Entwicklung findet im Automobilsektor statt: Die Slowakei wird beispielsweise in einigen Jahren weltweit die höchste Automobilproduktion pro Kopf der Bevölkerung haben.

Außerdem ist Frankreich der drittgrößte Handelspartner Polens, des größten Neuzugangs in der Europäischen Union. Mit 13 Milliarden Euro, die es in Polen investiert hat (90 Prozent davon durch die großen Telekommunikations- und Energiekonzerne und das verarbeitende Gewerbe), besetzt Frankreich den Spitzenplatz unter den ausländischen Investoren in diesem Land.

Man muss das in Verbindung mit dem Vorschlag der derzeitigen europäischen Kommissarin für Regionalpolitik, der Polin Danuta Hübner, sehen, die behauptete, "die Betriebsverlagerungen innerhalb Europas vereinfachen" zu wollen, um die Firmen davon abzuhalten, nach "Indien oder China" abzuwandern, wo es nochmals zig Millionen Menschen gibt, die bereit sind, für einen Elendslohn zu arbeiten. Auf die gleiche Art und Weise sollen heute die Länder Osteuropas als Reservoir billiger Arbeitskräfte dienen.

So erklärt sich die Polemik, die die Richtlinie Bolkesteins, des verantwortlichen europäischen Kommissars, angestoßen hat. Sie unterstreicht den so genannten "Grundsatz des Ursprunglandes", was bedeutet, dass eine Gesellschaft, die in einem Land der Europäischen Union investiert, sich den gültigen Sozialstandards desjenigen Landes unterstellen muss, in dem sie ihren Sitz hat. In diesem Zusammenhang ist vorgeschlagen worden, dass französische Firmen, die ihren Geschäftssitz zum Beispiel nach Polen verlegen, das polnische Arbeitsrecht auch in Frankreich anwenden könnten.

Diese Richtlinie ist durch ihre schamlose Offenheit zum Symbol des unsozialen neoliberalen Charakters des Europäischen Projektes geworden - und hat die hartnäckigen Vertreter dieses Projekts in ziemliche Verlegenheit gebracht. So haben zum Beispiel Jacques Chirac und gewisse sozialdemokratische Abgeordnete des Europaparlaments kürzlich Spekulationen über eine Abänderung dieser Richtlinie in die Welt gesetzt, wohl wissend, dass die Wahrscheinlichkeit dafür gleich Null ist.

Bei der offiziellen Einleitung der Kampagne zur Volksabstimmung müssen die französischen Arbeiter eine grundlegende Tatsache im Auge behalten: Die ökonomische Integration Europas ist eine objektive Tendenz, die ein bedeutendes Potential an sozialem und humanem Fortschritt in sich birgt, vorausgesetzt sie wird von der anarchistischen Kontrolle des Marktes befreit und in den Dienst des allgemeinen Wohls gestellt. Wenn aber die europäische Integration dem Großkapital überlassen wird, kann das nur eine enorme Verschlechterung des Lebensstandards der französischen und europäischen Arbeiter zur Folge haben.

Die legitime und notwendige Opposition gegen die EU-Verfassung kann nicht auf der reaktionären Perspektive der Verteidigung des Kapitalismus "à la française" oder des Mythos’ eines "sozialen Europas" aufgebaut werden. Sie muss sich auf die Perspektive der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa stützen. In Verbindung und im gemeinsamen Kampf mit der internationalen Arbeiterklasse muss das Ziel verfolgt werden, eine Gesellschaft aufzubauen, in welcher die Bedürfnisse des Menschen und die Förderung der sozialen Gleichheit und nicht die individuelle Anhäufung von Profit die Richtschnur bilden.

Siehe auch:
Frankreich: Gymnasiasten demonstrieren gegen Schulreform
(22. Februar 2005)
Frankreich: Eine halbe Million protestieren gegen Regierung
( 12. Februar 2005)
Stimmt mit "Nein" im spanischen Referendum über die EU-Verfassung
( 1. März 2005)
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