Historische Fragen im Mittelpunkt der ISSE-Kampagne in Warschau

Am heutigen Samstag findet erstmals seit dem Zusammenbruch des stalinistischen Regimes eine Veranstaltung der Vierten Internationale in Warschau statt. Sie wurde von der neu gegründeten Studentenorganisation ISSE (International Students for Social Equality) vorbereitet, um den Aufbau einer internationalen Bewegung gegen Krieg und für eine sozialistische Perspektive zu diskutieren.

Die ISSE-Mitglieder stießen auf großes Interesse. Viele Warschauer Studenten erklärten sich vor allem mit der internationalistischen Perspektive einverstanden. Das Vorbereitungsteam konzentrierte sich vor allem auf die Universität Warschau, die benachbarte Kunstakademie und das Warschauer Polytechnikum. Eine auf Polnisch verfasste Erklärung der ISSE wurde an allen drei Hochschulen verbreitet und von vielen Studenten gründlich gelesen.

Viele diskutierten manchmal stundenlang mit den ISSE-Vertretern. Man kam schnell ins Gespräch und konnte sich einen Eindruck von den vorherrschenden Ansichten und politischen Problemen machen.

An der Warschauer Universität sind einige linke und radikale Tendenzen vertreten, die es aber systematisch vermeiden, sich mit internationalen und historischen Fragen auseinanderzusetzen. Das ISSE-Flugblatt beschäftigt sich dagegen vor allem mit dem amerikanischen Krieg gegen den Irak, greift die historischen Verbrechen des Stalinismus auf und geht auf die Rolle der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc ein. Letztere war ursprünglich mit der Arbeiterrevolte gegen die stalinistische Bürokratie 1980 in Polen entstanden, entwickelte sich dann aber schnell zu einer Organisation, die für die rasche Wiedereinführung des Kapitalismus in Polen eintrat.

Solidarnosc-Führer wie Lech Walesa und Adam Michnik spielten Ende der 1980er Jahre und in dem darauf folgenden Jahrzehnt eine Schlüsselrolle bei der Zerstörung aller sozialen Errungenschaften und der Einführung extremer kapitalistischer Ausbeutung in Polen. Heute ist Solidarnosc eine der konservativsten und am meisten verhassten politischen Organisationen Polens.

Viele polnische Studenten stimmen mit der Einschätzung überein, die von der ISSE zur Solidarnosc vertreten wird. Die ISSE-Vertreter trafen bislang keinen einzigen Studenten, der diese Organisation und ihre rechten Führer in irgendeiner Weise verteidigt hätte. Der Standpunkt der ISSE, dass der Stalinismus nicht mit Sozialismus gleichzusetzen ist, findet breite Unterstützung. Es wird in den Diskussionen allerdings auch klar, dass die erste Generation von Studenten, die im kapitalistischen Polen aufgewachsen ist, wenig Klarheit in Bezug auf den Charakter der stalinistischen Bürokratie und die Entwicklungen der Nachkriegszeit hat.

Diese Verwirrung äußert sich in einer deutlichen Tendenz, politische Entwicklungen von einem nationalen Standpunkt aus zu betrachten sowie Diktatur und Demokratie einander abstrakt gegenüberzustellen. Zwar lehnen die meisten Studenten den gegenwärtigen Krieg im Irak ab, aber einige unterstützen den ursprünglichen Vorwand für die US-Invasion, weil in Bagdad schließlich ein Diktator geherrscht habe. Polen habe seine eigenen bitteren Erfahrungen mit Besetzung und Diktatur gemacht, argumentierten manche, und sei von den westlichen Alliierten im Stich gelassen worden, die Polen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht vor der Besetzung durch Russland geschützt hätten.

Andere Studenten, darunter sogar einige erklärte Kriegsgegner, rechtfertigen mit dieser Argumentation die Unterstützung der verschiedenen polnischen Regierungen für die Besetzung des Iraks. Zahlreiche Diskussionen zeigten, dass dies ein verbreiteter Standpunkt ist.

Die ISSE-Mitglieder erklärten, dass bei diesem Standpunkt die Realität auf den Kopf gestellt wird. Auch wenn US-Politiker das Gegenteil behaupten, gehe es im Irak gegenwärtig nicht darum, das schwache Pflänzchen der Demokratie zu entwickeln. Vielmehr sei das brutale Besatzungsregime dafür verantwortlich, dass im Irak mittlerweile Lebensbedingungen herrschen, wie sie selbst zu den schlimmsten Zeiten unter Saddam Hussein nicht existierten.

In dem Land, das über riesige Energievorräte verfügt, hat die große Mehrheit der Bevölkerung noch nicht einmal regelmäßig Zugang zu Strom - ganz zu schweigen von dem Elend, das die tägliche Gewalt und die unzähligen zivilen Opfer jeden Tag hervorrufen.

Weiter machte das ISSE-Team deutlich, dass die polnische Regierung nicht aus menschenfreundlichen Motiven handelt, wenn sie die USA im Irak unterstützt, sondern vielmehr einen Verbündeten als Gegengewicht zu Russland und zu den europäischen Mächten sucht. Die herrschenden Kreise in Polen wollen einen größeren Spielraum erlangen, um ihre eigenen außenpolitischen Interessen zu verfolgen, und gleichzeitig radikale Marktreformen nach US-Vorbild im eigenen Land einführen.

Auch könne das Schicksal Polens nach dem Zweiten Weltkrieg nicht auf das einer Schachfigur im Spiel der Großmächte reduziert werden, die sich oberflächlich betrachtet als westliche Demokratien auf der einen Seite und russische Diktatur auf der anderen darstellen. Eine solch vereinfachte Sichtweise führe zu einer völlig unkritischen Position gegenüber den kapitalistischen Gesellschaften des Westens und ignoriere gleichzeitig den widersprüchlichen Charakter der Sowjetunion selbst.

Die ISSE-Vertreter verwiesen darauf, dass es auch in Polen einmal Unterstützung für den Marxismus gegeben hat. Als die Linke Opposition unter der Führung Leo Trotzkis in den 1920ern und 1930ern eine Alternative zur stalinistischen Entartung der Sowjetunion vertrat, reagierte die Moskauer Bürokratie mit der Ermordung auch der gesamten Führung der Kommunistischen Partei Polens. Den polnischen Kommunisten wurde von Moskau vorgeworfen, "mit dem Trotzkismus infiziert zu sein". Die polnische Arbeiterklasse bezahlte in den folgenden Jahrzehnten einen hohen Preis für die Auslöschung ihrer politischen Führung.

Einige Studenten berichteten, dass die gegenwärtige Regierung die Politik ihrer Vorgängerinnen fortsetzt, systematisch bestimmte historische Gestalten zu rehabilitieren, um nationalistische Stimmungen in Polen zu fördern. Typisch in dieser Hinsicht ist die aktuelle Kampagne, den rechten Diktator Josef Pilsudski, den Führer der zweiten polnischen Republik von 1926 bis 1935, als würdigen Vertreter der Rechte Polens zu porträtieren. Einige Historiker erklären nun, Pilsudski habe im polnisch-sowjetischen Krieg von 1920 lediglich polnische Interessen verteidigt. Tatsächlich organisierte Pilsudski gemeinsam mit dem französischen und britischen Imperialismus einen militärischen Überfall auf Russland, um eine blutige Konterrevolution gegen den jungen Arbeiterstaat in Gang zu setzen.

Obwohl diese nationalistischen Kampagnen bei einigen Studierenden ein gewisses Maß an Verwirrung hinterlassen haben, reagierte die Mehrheit doch sehr positiv auf die internationale Perspektive der ISSE. Wie Studenten in aller Welt agieren auch polnische Studenten im Rahmen einer internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft, die durch das Internet und die Globalisierung der Produktion näher zusammengerückt ist, und sind sich dieser Tatsache auch bewusst.

Solche Entwicklungen helfen, den völligen Bankrott und die Kleinkariertheit einer nationalen Perspektive zu entlarven; die meisten Studenten lehnen den Fanatismus und die nationale Borniertheit der Kaczynski-Zwillinge ab, die im Moment Polen regieren.

Die positive Reaktion auf die ISSE-Kampagne und die Versammlung steht in schreiendem Widerspruch zur Reaktion der Universitätsverwaltung. Die ISSE hatte schon einen Monat vor der geplanten Versammlung einen Raum in der Universität beantragt und dabei auch klar gemacht, dass sie über internationale Themen wie den Irakkrieg und die Pläne für einen Krieg gegen den Iran diskutieren wolle. Zwei Wochen vor der Veranstaltung erhielt die ISSE eine schriftliche Bestätigung von der Universität.

Sobald die ISSE-Mitglieder jedoch anfingen, die Veranstaltung bekannt zu machen, und Flugblätter an die Studenten verteilten, erschien ein Angestellter und erklärte, der Kanzler der Universität verwahre sich generell gegen politische Versammlungen und politische Diskussionen an der Universität. Sicherheitsleute wurden gerufen, die die ISSE-Mitglieder vom Gelände eskortierten. In den vergangenen zwei Wochen war das Team gezwungen, die Kampagne außerhalb des Universitätsgeländes, vor einem der Zugänge weiterzuführen.

Einige Studenten erklärten, die Reaktion der Universitätsverwaltung überrasche sie nicht. Es fänden üblicherweise keine Versammlungen von linken Organisationen an der Universität statt. Gleichzeitig verteidigten viele das Recht der ISSE, ihre Versammlung abzuhalten. Selbst die Sicherheitsleute, die die ISSE-Mitglieder vom Gelände geleiten mussten, entschuldigten sich dafür und stimmten zu, dass die Entscheidung des Kanzlers undemokratisch und ungerecht sei. Die Versammlung wird jetzt in einem Cafe gegenüber der Universität stattfinden, während die ISSE weiter für ihr Recht kämpft, zukünftig Versammlungen auf dem Campus abzuhalten, und dafür unter Studenten um Unterstützung wirbt.

Stimmen von Studenten

Die Studenten interessierten sich vor allem für den Standpunkt der ISSE zum Irakkrieg.

Kamil studiert Technologie und Informatik am Warschauer Polytechnikum. Er sagte uns: "Die polnische Regierung benutzt den Irakkrieg, um sich systematisch bei den USA einzuschmeicheln. Dieser Krieg wird nicht für Freiheit und Demokratie geführt, sondern um Rohstoffe.

Ich mache mir keine Illusionen, dass europäische Regierungen oder die amerikanischen Demokraten den Krieg stoppen können oder dies auch nur wollen. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass man die Regierungen durch Druck zum Rückzug der Truppen zwingen könnte. Unsere Regierung ist das beste Beispiel. Sie hat ihr eigenes Schicksal von der Unterstützung Amerikas und des Krieges abhängig gemacht. Der einzige Weg, den Krieg zu beenden, besteht in einer neuen internationalen Bewegung."

Jolanta studiert Geschichte an der Universität Warschau:

"Ich lehne den Irakkrieg völlig ab, der ganz offensichtlich nichts mit dem Kampf für Demokratie zu tun hat. Wenn so rechte Figuren wie Bush oder die Kaczynski-Brüder hier in Polen als große Vorkämpfer für Demokratie auftreten, dann ist das völlig heuchlerisch." Jolanta wies darauf hin, dass es eine systematische Kampagne für die Rehabilitierung von Pilsudski gegeben hat und mit diesem neuen Kult der polnische Nationalismus gestärkt werden soll. Sie erklärte: "Solche Figuren sind notwendig, um einen Präzedenzfall für die Art von autoritären Maßnahmen zu haben, wie sie die Zwillinge für Polen vorbereiten.

Solche Maßnahmen sind eine wirkliche Gefahr. Wie ich es sehe, ist der polnische Nationalismus eine Sackgasse. Die Dinge können sich für die Menschen hier nur auf der Grundlage einer internationalen Perspektive und einer internationalen politischen Bewegung verbessern."

Siehe auch:
Scharfe Differenzen zwischen Berlin und Warschau
(21. März 2007)
Die Politische Krise in Polen: Die Wirren der Kaczynski-Regierung
(22. November 2006)
Erfolgreiche Versammlung zum Aufbau der ISSE in Essen: Eine Bewegung gegen Krieg muss eine Bewegung gegen Kapitalismus sein
(11. Mai 2007)
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