Frankreich: Trotz Streikerfolg bereiten Gewerkschaften Ausverkauf vor

Der französische Eisenbahnverkehr lag am Mittwoch, dem ersten Streiktag gegen die Rentenreform der konservativen Regierung, weitgehend still. Laut Angaben der Bahndirektion fuhren zwar etwa ein Fünftel aller Züge, doch viele Pariser Bahnhöfe waren völlig ausgestorben. Auf den Autobahnen bildeten sich Staus von 350 Kilometer Länge.

Bei der Pariser S-Bahn (RER) fuhren praktisch keine Züge mehr, ebenso bei den meisten Linien der Metro. Nur auf vier Linien bewegten sich in 15-Minuten-Abständen völlig überfüllte Züge. Auch bei den Gas- und Elektrizitätswerken wurde am Mittwoch gestreikt.

Die Streikbeteiligung lag insgesamt allerdings etwa um zehn Prozent niedriger als am 18. Oktober, als die Gewerkschaften erstmals zu einem eintägigen Proteststreik gegen die Rentenreform aufgerufen hatten. Sowohl bei der Bahn als bei den Pariser Verkehrsbetrieben sprachen sich die Streikenden am Vormittag auf sämtlichen Generalversammlungen für die Fortsetzung des Streiks am Donnerstag aus.

Am Nachmittag fanden in mehreren Städten Protestdemonstrationen der Streikenden statt, an denen sich auch zahlreiche Studenten beteiligten, die sich mit den betroffenen Arbeitern solidarisierten. An den Universitäten breitet sich gegenwärtig eine Protestwelle gegen ein neues Gesetz aus, das als erster Schritt zur Privatisierung gilt. Am Mittwoch wurden 33 der insgesamt 85 Universitäten von den Studenten bestreikt.

In Lille, Marseille, Rennes, Toulouse, Bordeaux und Rouen beteiligten sich jeweils mehrere Tausend an den Demonstrationen. In Paris fanden sich trotz der schwierigen Verkehrsverhältnisse 25.000 am Gare de Montparnasse ein.

Die Stimmung war von einem trotzigen Durchhaltewillen geprägt. Sébastien, der in Paris Saint-Lazare in der Instandhaltung arbeitet, berichtete der WSWS, dass in seinem Bahnhof 100 Prozent für die Fortführung des Streiks gestimmt hätten. "Für uns gibt es nichts zu verhandeln," sagte er. "Die Regierung ist sehr hart. Um zu gewinnen, müssen wir die Protestaktion ausweiten, sonst haben wir keine Chance."

Präsident Sarkozy und seine Regierung hatten am Vortag bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Unnachgiebigkeit betont.

Sarkozy sprach am Dienstagnachmittag vor dem Europaparlament, wo er die europäischen Abgeordneten und Regierungen zur Unterstützung seines Kurses aufforderte. "Ich habe mich auf eine Politik der Reformen festgelegt," sagte er. "Es ist nicht im europäischen Interesse, dass sie scheitern. Dank diesen Reformen, sollten sie gelingen - und sie werden gelingen -, wird Frankreich seine öffentlichen Finanzen sanieren und seine Verpflichtungen einhalten."

Sarkozy fügte hinzu, das Wahlergebnishabe ihn legitimiert, die Reformen durchzuführen. "Die Franzosen haben diesen Reformen zugestimmt. Ich habe ihnen vor der Wahl alles gesagt, um hinterher alles machen zu können. Ich werde diese Reformen zu Ende führen. Nichts kann mich von meinem Ziel abhalten. Das ist der beste Dienst, den Frankreich Europa erweisen kann."

Premierminister François Fillon mobilisierte zur selben Zeit die Regierungsfraktion in der französischen Nationalversammlung. Es sei schlichtweg unmöglich, die Reform nicht zu Ende zu führen, erklärte er den jubelnden Abgeordneten der gaullistischen UMP, die erst vor wenigen Wochen Steuergeschenke für die Reichen im Umfang von 15 Milliarden Euro beschlossen haben. "Mit Eurer Unterstützung tut die Regierung einfach ihre Pflicht."

Im Plenum des Parlaments richtete Fillon dann, in Antwort auf eine Zwischenfrage von Sozialistenschef François Hollande, einen demagogischen Aufruf an streikfeindliche Elemente in der Bevölkerung. "Millionen Franzosen drohen eine grundlegende Freiheit zu verlieren," sagte er, "die Freiheit sich fortzubewegen und manchmal sogar die Freiheit zu arbeiten."

Rechte Heißsporne in der UMP drängen seit längerem darauf, gegen die Eisenbahner mobil zu machen. Sie haben ein entsprechende Flugblatt vorbereitet und wollen Demonstrationen zur Unterstützung der Regierung organisieren. Sarkozy und Fillon haben sie bisher gebremst. Sie wollen die Atmosphäre nicht zusätzlich anheizen, um den Gewerkschaften die Möglichkeit zu geben, freiwillig zu kapitulieren. Sollte dies bis zum Wochenende nicht der Fall sein, soll am Sonntag die erste Gegendemonstration stattfinden.

Während Sarkozy und Fillon die Stimmung gegen den Streik anheizen, geben sie sich gleichzeitig verhandlungsbereit. Arbeitsminister Xavier Bertrand trifft sich auf Anweisung Sarkozys regelmäßig mit den Führern der einzelnen Gewerkschaften, um sie weich zu klopfen und gegeneinander auszuspielen.

Ein Gipfeltreffen zwischen den Gewerkschaften, den Vorständen der betroffenen Staatsunternehmen und der Regierung, wie sie lange Zeit von der Gewerkschaft CGT gefordert wurde, hat die Regierung allerdings stets abgelehnt, weil sie nicht bereit ist, von den drei Säulen der geplanten Reform der Sonderrenten abzurücken. Sie hat auf zweiseitigen Gesprächen zwischen Gewerkschaften und Unternehmensvorständen beharrt, in denen, getrennt nach den einzelnen Betrieben, über die Ausgestaltung dieser drei Säulen verhandelt werden soll.

Es sind dies die Anhebung der Beitragsjahre, die für den Bezug er vollen Rente nötig sind, von 37,5 auf 40 Jahre, der Angleich der Renten an die Preissteigerung statt wie bisher an die Lohnerhöhungen, und die Einführung eines zusätzlichen Abzugs für jedes Jahr, das früher in Rente gegangen wird. Damit sollen die rund 5 Milliarden Euro eingespart werden, die die Staatskasse jährlich zu den Renten der Eisenbahner, der Gas- und Elektrizitätsarbeiter und anderer Beschäftigter von Staatsunternehmen zuschießt, die auf die sogenannten "régimes spéciaux" Anspruch haben. Mit anderen Worten, die relativ niedrigen Renten der Betroffenen sollen um fünf Milliarden gesenkt werden.

Die Führer der Gewerkschaften lassen die Härte und Entschlossenheit völlig vermissen, die die Regierung an den Tag legt. Bernard Thibault, der Führer der CGT, knickte ein, bevor der Streik richtig begonnen hatte, und machte ein maßgebliches Zugeständnis an die Regierung. Die Haltung der CGT ist besonders wichtig, da sie bei der Eisenbahn über den größten Einfluss verfügt.

Thibault traf sich am Dienstagabend zu einem langen Gespräch mit Arbeitsminister Bertrand und willigte in die Forderung der Regierung ein, Verhandlungen auf Betriebsebene zu führen. Damit er sein Gesicht wahren konnte, stimmte die Regierung dreiseitigen Verhandlungen zu, was in der Praxis lediglich bedeutet, dass jeweils auch ein Vertreter der Regierung mit am Tisch sitzt. An dem Grundsatz, dass die drei Säulen der Reform nicht in Frage gestellt werden, ändert sich dagegen nichts. Thibault selbst hat dies indirekt zugegeben. Jenseits der Grundsatzpositionen gebe es "zahlreiche Bestimmungen.. die wirkliche Verhandlungen rechtfertigen", sagte er.

Thibaults Einlenken wurde von der Regierung begrüßt. Der Generalsekretär des Präsidenten, Claude Guéant, sagte der Zeitung Le Monde, die Exekutive habe den Vorschlag der CGT akzeptiert. "Bernard Thibault hat Dispositionen getroffen, dass die Krise nach dem ersten Tag des Konflikts gelöst werden kann", meinte er.

Arbeitsminister Bertrand empfing am Mittwoch Vormittag die Vertreter der anderen Gewerkschaften, um die Verhandlungen vorzubereiten. Die meisten Zeitungskommentare gehen davon aus, dass die CGT am Donnerstag oder Freitag versuchen wird, die Streiks abzubrechen, und in Verhandlungen eintritt. "Die wirkliche Schwierigkeit für die CGT," so die Zeitung Libération, liege darin, "in den Verhandlungen genügend Zugeständnisse zu erreichen, um ihre Truppen zu beruhigen."

Thibault hat sich zwar bisher nicht öffentlich festgelegt. Er hat aber angedeutet, dass er sich in diese Richtung bewegt. Eingekeilt von Fernsehkameras erklärte er an der Spitze des Pariser Demonstrationszugs vom Mittwoch, er wolle den Streik so lange fortsetzen, bis "eine offizielle Reaktion der Regierung" auf seine Vorschläge eintreffe. "Die CGT hat ihre Vorschläge gemacht, nun erwarten wir die offizielle Reaktion der Regierung. Wir erwarten ein Schreiben, dass die Haltung der Regierung materialisiert. Wir werden sehen, was darin steht. Ich kann in diesem Stadium noch nicht sagen, ob der Konflikt abgebrochen wird," sagte der CGT-Führer.

Ähnlich äußerte sich Didier Le Reste, der Chef der Eisenbahnerabteilung der CGT. Bei der Frage, ob er Streik fortgesetzt werde oder nicht, "hängt nun vieles von der Reaktion der Regierung ab," sagte er.

Präsident Sarkozy hat den Arbeitsminister bereits angewiesen, den Gewerkschaften ein Schreiben mit einem Vorschlag über das weitere Vorgehen zu schicken, da, "es eine Chance gebe, dass sich im Konflikt über die ‚régimes spéciaux’ das Verantwortungsbewusstein durchsetzt", wie Präsidentensprecher David Martinon erläuterte.

Auch der Sekretär der Sozialistischen Partei, François Hollande, äußerte am Mittwoch die Hoffnung, dass der Streik "noch an diesem Abend beendet wird". Dauere der Konflikt an, "beeinträchtige dies die Nutzer. Ich wünsche daher, ja ich fordere jetzt sogar, dass man ab heute Morgen in einen Verhandlungsprozess getrennt nach einzelnen Betrieben eintritt," sagte Hollande.

Sollten die Gewerkschaften den Streik tatsächlich abbrechen, wäre dies ein Verrat von historischen Dimensionen. Sie gäben Sarkozy und seiner Regierung damit die Möglichkeit, die Betroffenen zu isolieren und gegeneinander auszuspielen und die Beseitigung der "régimes spéciaux" zum Ausgangspunkt für umfassende Angriffe auf die gesamte Arbeiterklasse zu machen.

Die konservative Zeitung Le Figaro, die als Sprachrohr der Kampagne gegen den Streik fungiert, ist sich dieses Zusammenhangs bewusst. In einem Editorial vom Mittwoch hat sie erneut betont, wie entscheidend ein Durchbruch gegen die Eisenbahner für alle anderen Reformvorhaben der Regierung ist. "Führt man diese Reform durch, dann hat man die Mittel, alle Reformen durchzuführen," erklärte sie.

Siehe auch:
Sarkozy sucht Konfrontation mit der Arbeiterklasse
(14. November 2007)
Französische Studenten mobilisieren gegen Universitätsreform
(13. November 2007)
Streik bei Verkehrsbetrieben bringt Frankreich zum Stillstand
(20. Oktober 2007)
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