35-Stunden-Woche in Frankreich - eine Mogelpackung

Die gesetzliche Verankerung der 35-Stunden-Woche in Frankreich gilt als Paradebeispiel für die Reformpolitik der Regierung der "pluralistischen Linken". Die Anhänger Lionel Jospins in- und außerhalb Frankreichs preisen sie als Schritt in Richtung Vollbeschäftigung und "einer menschlicheren Gesellschaft". Bei näherem Hinsehen erweist sie sich allerdings als Mogelpackung.

Das Projekt der Arbeitsministerin Martine Aubry, der Tochter des ehemaligen Europapolitikers Jacques Delors, sieht die Reduzierung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 Stunden für alle Betriebe mit über zwanzig Beschäftigten ab dem 1. Januar 2000 vor. Betriebe mit weniger als zwanzig Mitarbeitern müssen diese Regelung im Jahr 2002 einführen, erhalten also für die Umstellung zwei Jahre länger Zeit.

Seit 1982 liegt die Wochenarbeitszeit offiziell bei 39 Stunden. Nach Berechnungen des staatlichen Statistikamtes Insee liegt sie in Wirklichkeit allerdings wesentlich höher, nämlich bei 41 Stunden und 48 Minuten, wozu besonders der Bereich der cadres(leitendende Angestellten oder Führungskräfte) beiträgt.

Von 2000 an darf die Jahresarbeitszeit nun in großen Betrieben offiziell 1.600 Stunden nicht mehr überschreiten. Diese Stundenzahl entspricht unter Berücksichtigung des fünfwöchigen bezahlten Urlaubs und der elf gesetzlichen Feiertage einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 35 Stunden.

Die Bedingungen für die Schwankung der Wochenarbeitszeit wurden vereinfacht: Sofern die Beschäftigten sieben Tage im Voraus informiert werden, kann ihre Arbeitszeit zwischen 31 und 39 Stunden schwanken, ohne dass Überstundenzuschläge bezahlt werden. In besonderen Fällen kann die Informationszeit auch kürzer sein. Bis zu vier Wochen lang ist es auch möglich, länger als 39 Stunden zu arbeiten.

Bei einer Verlängerung der gesetzlich vorgeschriebenen Arbeitszeit muss für die erste bis vierte Überstunde pro Woche im ersten Jahr lediglich ein Zuschlag von zehn Prozent - anstatt der üblichen 25 Prozent - bezahlt werden. Es kostet die Unternehmer also sehr wenig, die 39-Stunden-Woche noch ein Jahr lang beizubehalten.

Für Unternehmen, die die 35-Stunden-Woche einführen, werden eine Reihe von Steuervergünstigungen wirksam. Außerdem können sie mit großzügigen staatlichen Beihilfen rechnen: Ihr Anteil an der Sozialversicherungsabgabe wird reduziert und teilweise vom Staat übernommen. Wer einen Mindestlohnempfänger einstellt, erhält beim Arbeitgeberanteil für die Sozialversicherung einen Nachlass von 21.000 F. (ca. 7.000 DM) jährlich. Die Unternehmer können die diversen staatlichen Beihilfen anhäufen, da sie sich nicht gegenseitig ausschließen.

Die staatlichen Vergünstigungen verpflichten nicht zur Einstellung neuer Arbeitskräfte. Sie werden wirksam, sobald eine betriebliche Vereinbarung zur Einführung der 35-Stunden-Woche vorliegt, auch wenn weitere Entlassungen vorgenommen werden. Im ersten Gesetzentwurf gab es noch eine Bestimmung, die staatliche Subventionen an die Schaffung neuer Arbeitsplätze knüpfte, diese ist jedoch im aktuellen Gesetz weggefallen.

Dazu schreibt Le Monde diplomatique vom 4. September: "Im Übrigen drängt sich die Frage auf, ob die Gesetzesmacher mit der 35-Stundenwoche nicht vorrangig das Ziel verfolgen, atypische Arbeitsverhältnisse und Arbeitszeitregelungen zu institutionalisieren. Darauf scheint zumindest hinzudeuten, dass im zweiten Gesetz jeder Bezug auf die Schaffung von Arbeitsplätzen fehlt ... Inzwischen genügt es offenbar, überhaupt eine Vereinbarung zu unterzeichnen, um in den Genuss staatlicher Gelder zu kommen. Mit anderen Worten: Der Staat zahlt für die Umsetzung des von ihm erlassenen Gesetzes, eine selten kühne Konstruktion."

Schon hier wird deutlich, dass die neue Regelung keineswegs zur Verteilung der vorhandenen Arbeit auf mehr Hände führt. Sie dient in erster Linie der Flexibilisierung von Arbeitszeit und ebnet einer systematischen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen den Weg. So beschleunigt sie den Trend, dass gut bezahlte und gesicherte Arbeitsplätze durch sogenannte "prekäre Arbeitsplätze" - Teilzeit- und befristete Arbeitsverträge und Aushilfsarbeit jeder Art - verdrängt werden. Das wurde bereits nach der Einführung der ersten Etappe der 35-Stunden-Woche im Frühjahr 1998 sichtbar.

Das Handelsblatt meldete schon im Mai dieses Jahres: "Fest steht, dass mehr als 16 Prozent der französischen Arbeitnehmer Teilzeit arbeiten. Als weitere Gründe für die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt nennen Experten die Senkung der Nebenkosten auf niedrige Löhne, die Ausweitung der Leiharbeit und die günstige Entwicklung des Dienstleistungssektors in Frankreich".

Schon vor einem Jahr hatte die selbe Zeitung festgestellt: "Zeitarbeit und befristete Arbeitsverträge erleben in Frankreich derzeit einen regelrechten Boom. Nach Angaben des Statistikamts Insee hatten im März 906.000 Arbeitnehmer einen befristeten Arbeitsvertrag, 413.000 jobbten per Interim. 87 Prozent der Neueinstellungen erfolgten auf dieser Basis. Nach einem Jahr finden laut Statistik nur 28 Prozent der Teilzeitarbeiter eine unbefristete Anstellung. 42 Prozent arbeiten weiter befristet, 30 Prozent werden erneut arbeitslos."

Durch das neue System wird das Einkommen der untersten Schichten verschlechtert. Das zeigen die jüngsten Beschlüsse zur Entwicklung des Mindestlohns (Smic - Salaire Minimum Interprofessionnel de Croissance). Neueinstellungen zum Mindestlohn werden staatlich begünstigt.

Da die Smicards (Mindestlohnempfänger), die nach Einführung der 35-Stunden-Woche eingestellt werden, nur für 35 Stunden statt wie bisher für 39 Stunden bezahlt werden, müsste der Mindestlohns um 11,4 Prozent angehoben werden, damit der reale Lohn nicht sinkt. Davor schreckt jedoch die Regierung zurück. Stattdessen hat sie den "Smic Jospin" erfunden: Sie verspricht, Ausgleichszahlungen zu leisten und in ferner Zukunft den Mindestlohn stufenweise anzuheben. Der Vorschlag zweier SP-Delegierten, den Smic, der heute auf einem Stundenlohn basiert, durch einen Mindestmonatslohn zu ersetzen, wurde von Martine Aubry abgelehnt.

Kein Wunder, dass sich auf seiten der Unternehmer die Feindschaft gegen das neue Gesetz in Grenzen hält: Bis Ende August 1999 konnte Frau Aubrys Ministerium für Arbeit und Soziales bereits die generelle Zusage von 15.000 Einzelunternehmern und 101 Branchen, von der Chemie über die Möbelbranche bis hin zu den Metzgereibetrieben, verzeichnen. Dadurch wird die 35-Stunden-Woche bereits für acht Millionen Arbeitnehmer eingeführt. Nur 27 Prozent dieser Betriebe beschäftigen über zwanzig Personen und wären demnach zur Einführung der neuen Arbeitszeit gesetzlich verpflichtet.

In neunzig Prozent der großen Unternehmen, die zugesagt haben, wurden die Verträge von sämtlichen Gewerkschaftsorganisationen unterzeichnet. In den Einzelbranchen hat die Organisation für Führungskräfte und leitende Angestellte (CGC) die meisten Abkommen gegengezeichnet. Die Hälfte der abgeschlossenen Verträge sehen ausdrücklich Jahresarbeitszeitkonten vor.

Neudefinition der Arbeitszeit

Bevor das Gesetz am 19. Oktober verabschiedet wurde, kam es in der Nationalversammlung zu einer Debatte, die deutlich macht, wie die Arbeitszeitverkürzung den Druck auf die Arbeiter und Angestellten in den Betrieben verstärken wird. Es ging um die Frage, welche innerbetrieblichen Zeiten aus der Berechnung der Arbeitszeit gestrichen werden können.

Die Debatte wurde durch ein internes Memorandum des Reifenkonzerns Michelin ausgelöst. Darin wurde vorgeschlagen, nur noch die rein "produktive Zeit" zu bezahlen und alle Zeiten für das Umkleiden, die Frühstücks-, Mittags- und Toilettenpausen sowie sämtliche Feiertage aus der Berechnung zu streichen. Dadurch könne Michelin im Endeffekt die faktische 42,5-Stunden-Woche für 11.000 Schichtarbeiter beibehalten und sie als offizielle 35-Stunden-Woche ausgeben.

Die Empörung, die diese unverfrorene Erklärung in der Öffentlichkeit auslöste, zwang die Abgeordneten zur Präzisierung ihrer Pläne und führte im Parlament zu einem regelrechten Schacher zwischen Sozialisten, Kommunisten, Grünen und Radikal-Sozialisten um alle möglichen Kaffee-, Essens- und sonstigen Pausen. Es wurden über 1100 Abänderungsanträge diskutiert. Das Ergebnis war eine Fülle von Zusätzen zu dem Gesetz, wie zum Beispiel der sogenannte "Mickey-Zusatz": Er legt fest, dass die Zeit des An- und Auskleidens nur dann entlohnt wird, wenn eine bestimmte Arbeitsmontur zur Arbeit erforderlich ist - wie beispielsweise die Comic- und Tierkostüme im Disneypark (daher der Name).

Die Finanzierung ist noch ungeklärt

Obwohl über das neue Gesetz bereits verabschiedet wurde, steht seine Finanzierung noch vollkommen in den Sternen. Die Regierung geht davon aus, dass sie für die Finanzierung der 35-Stunden-Woche im Jahr 2000 insgesamt 110 Milliarden F. zusätzlich aufbringen muss, aber woher dieses Geld kommen wird, das hat man erst einmal auf die bevorstehende Debatte zur Finanzierung der Sécurité sociale (Sozialversicherung) verschoben.

Der sogenannten Sécu werden durch die zahlreichen Beitragsbefreiungen, die den Unternehmern das neue System schmackhaft machen sollen, neue Kosten entstehen. Im Vorentwurf zur Finanzierung der Sécu für das Jahr 2000 ist ein Fonds geplant, um diese Kosten aufzufangen, die sich voraussichtlich auf 62 bis 67 Milliarden F. belaufen werden. Dabei sollen 39,5 Milliarden F. aus der Tabaksteuer, 4,3 Milliarden F. aus der auf Gewinne erhobenen Sozialabgabe und 3,2 Milliarden F. aus der neuen Ökosteuer kommen, ein Teil soll aus der Staatskasse finanziert werden. Die Regierung geht jedoch schon davon aus, dass die Sécurité sociale selbst bis zu 5,5 Milliarden F. zusteuern muss, was bedeutet, dass sich ihr Defizit einfach vergrößert.

Um die fehlenden Mittel zur Verwirklichung der Arbeitszeitverkürzung aufzubringen, hatte Martine Aubry außerdem vor, die Arbeitslosenversicherung Unedic zur Kasse zu beten. Auch weitere Sozialkassen wie die Rentenkasse oder die Familienversorgungskasse waren im Gespräch. So seufzte der Präsident der Altersversorgungskasse, J.-L. Cazette, es gebe mittlerweile eine solche Fülle von sich kreuzenden Finanzierungen zwischen dem Staat und den sozialen Einrichtungen, dass man darin alles und sein Gegenteil finden könne.

Das Vorhaben von Aubry, die Arbeitslosengelder für die 35-Stunden-Woche zu plündern, löste auf Seiten der Unternehmer- und der Gewerkschaftsvertreter sofort empörte Proteste aus. Am 4. Oktober protestierten sowohl der Unternehmerverband Medef als auch die Gewerkschaft CGT mit Aktionen auf der Straße.

Für Arbeiter und Arbeitslose gibt es gute Gründe, gegen den Griff in die Arbeitslosenkasse zu protestieren. Das Arbeitslosengeld in Frankreich liegt ohnehin schon am unteren Ende der europäischen Skala, die Arbeitslosigkeit ist mit 11,2 Prozent nach wie vor hoch und viele Arbeitslose haben überhaupt keinen Anspruch auf Unterstützung mehr.

Den Gewerkschaften ging es jedoch in erster Linie um ihre eigenen Interessen. Die zahlreichen sozialen Kassen - Krankenkasse, Altersversorgung, Familienzulage, Arbeitslosen- und Arbeitsunfallskasse, Kasse für die Zusatzrenten der Arbeiter sowie der leitenden Angestellten - werden seit fünfzig Jahren durch Unternehmerverband und Gewerkschaften gemeinsam verwaltet. Der Unternehmerverband Medef hat jetzt gedroht, den geplanten Griff der Regierung in die Arbeitslosenkasse zum Vorwand zu nehmen, um diese besondere Form der Sozialpartnerschaft insgesamt platzen zu lassen. Die Gewerkschaften verlören so ihre letzten ertrags- und einflussreichen Pfründe.

Am 20. Oktober gab die Regierung nach und verzichtete auf den Beitrag der Arbeitslosenkasse zur Finanzierung der 35-Stunden-Woche. Darüber hinaus verpflichtete sie sich, bereits bestehende Schulden der Regierung bei der Kasse in Höhe von zehn Milliarden F. schon ab dem 25. Oktober zurückzuzahlen.

Seither ist die Finanzierung des 35-Stunden-Woche-Gesetzes wieder offen und die Vorschläge werden immer phantasievoller. Zum Beispiel brachte Frau Aubrys Sprecher Alfred Recours ins Gespräch, sieben bis acht Milliarden F. aus den Überschüssen der Arbeitsunfallskasse zu nehmen. Mittlerweile wird auch über einen Beitrag aus der Alkoholsteuer gesprochen. Außerdem rechnet man mit einer Zwangsabgabe von Unternehmen, die nicht die 35-Stunden-Woche eingeführt haben, was sieben Milliarden einbringen soll. Ein Betrag von zwanzig Milliarden ist immer noch völlig ungeklärt.

Die PCF "protestiert" - für die Regierung

Zwei Tage vor der Abstimmung über das Gesetz zur 35-Stunden-Woche, rief die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) zu einer Demonstration "Pour l'emploi" (Für Arbeitsplätze) auf, zu der sich rund 50.000 Teilnehmer einfanden.

Die Demonstration sollte der wachsenden Unmut über das Gesetz den Boden entziehen, dem die PCF am Vorabend bereits zugestimmt hatte. Sie richtete sich ausdrücklich nicht gegen die Regierung, der die PCF selbst angehört, sondern gegen den Unternehmerverband Medef. Auf die Frage von Journalisten, welche Botschaft Jospin aus der Demonstration vernehmen solle, erklärte PCF-Chef Robert Hue: "Dass diese Bewegung von unten nicht gegen ihn gerichtet ist, sondern seinen Erfolg wünscht."

Allerdings wurden innerhalb der Demonstration vereinzelte Unmutsäußerungen gegen die Regierung laut. So riefen die Delegierten der PC-Sektion aus Nordfrankreich die Parolen: "Michelin - Vandale. Jospin - Komplize" und "Die Bosse wollen‘s, die Linke tut's". Aber alle, die auf diese Weise ein Wort gegen die Regierung laut werden ließen, wurden unsanft zur Ordnung gerufen - solche Sprüche seien heute nicht angebracht.

Die Gewerkschaft CGT, die früher von der PCF dominiert wurde, nahm an der Demonstration nicht teil. Sie erklärte offiziell, sie könne sich zwar "in den sozialen Zielen der Demonstration wiederfinden", aber nicht "einer Initiative anschließen, die unter den gegebenen Umständen höchst politisch ist". Die Mobilisierung ihrer Mitglieder gegen die Regierung war ihr offensichtlich zu riskant.

An der Vorbereitung und Durchführung der Demonstration waren neben der PCF auch Lutte Ouvrière (LO) und die Ligue communiste révolutionnaire (LCR) beteiligt. Seit diese Parteien der sogenannten "extrême gauche" (extremen Linken) bei den Europawahlen die Fünf-Prozent-Hürde überwanden, spielen sie eine besondere Rolle, die wachsende Unzufriedenheit unter Arbeitern aufzufangen und die Regierung von links abzudecken.

Beide haben das Verhalten der PCF in der Abstimmung über die 35-Stunden-Woche scharf kritisiert, was die Presse entsprechend herausstrich. Alain Krivine, der Führer der LCR, sagte, es stehe in krassem Widerspruch zum Erfolg der Demonstration. Die Abgeordneten hätten sich mit einigen bedeutungslosen Verbesserungen abspeisen lassen, die hinter den Kulissen ausgehandelt worden seien.

In ihrer Zeitung rouge umriss die LCR dann selbst das Ausmaß ihrer "Opposition". Sie schreibt: "Die Revolutionäre wenden sich gegen die Politik der Regierung: Sie versuchen, diese durch eine Mobilisierung zu zwingen, ihre Politik zu ändern: Für ein Verbot von Entlassungen und ein wirkliches Gesetz der 35-Stunden-Woche, ohne Flexibilisierung, ohne Arbeitszeitkonten, und mit der Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Führung der PCF unterstützt jedoch die Politik der Regierung. Aus dieser Meinungsverschiedenheit machen wir jedoch keine Vorbedingung für gemeinsame Aktionen." (Hervorhebung hinzugefügt)

Siehe auch:
Der Rücktritt des französischen Finanzministers
(5. November 1999)
Loading