Frankreich:

Sozialistischer Bürgermeister droht obdachlosen Einwanderern mit gewaltsamer Räumung

Jean-Yves Le Bouillonnec ist stellvertretender Bürgermeister von Cachan im Süden von Paris und Mitglied der Sozialistischen Partei. Anfang September sagte er auf einer Pressekonferenz, er werde "nicht zögern", juristische Schritte zu ergreifen und die etwa 200 Personen, die nach ihrer Vertreibung aus einem besetzten Haus in einer Turnhalle untergekommen waren, gewaltsam räumen lassen.

"Ich versuche, eine Verhandlungslösung zu finden", erklärte Le Bouillonnec. "Es ist aber auch möglich, dass ich eine gerichtliche Verfügung erwirken werde, und ich werde nicht zögern, sie anzuwenden, wenn ich sehe, dass ich die Turnhalle nicht ihrer eigentlichen Bestimmung zurückgeben kann, oder wenn es die sanitäre Situation erfordert." Am darauf folgenden Montag begann in Frankreich das neue Schuljahr und die Halle wird normalerweise von Schulkindern benutzt.

Die Obdachlosen, um die es geht, sind Immigranten. Auf Einladung von Le Bouillonnec haben sie sich in die Turnhalle geflüchtet, nachdem sie aus der ehemaligen Studentenunterkunft "Haus F", einem leer stehenden fünfstöckigen Bau auf dem Gelände der Ecole Normale Supérieure in Cachan, vertrieben worden waren. Ein 500 Mann starkes Aufgebot der Bereitschaftspolizei CRS wurde am 17. August auf Befehl von Innenminister Nicolas Sarkozy gegen die Hausbesetzer eingesetzt. Da viele Männer arbeiteten, waren hauptsächlich Frauen und Kinder von der Razzia betroffen. Die Polizei rammte die Türen auf und warf 508 Menschen, darunter 141 Kinder, auf die Straße.

Der stellvertretende Bürgermeister erklärte, er habe zugestimmt, die Familien mit Kindern vorübergehend in der Turnhalle aufzunehmen, "weil sie seit zwei Tagen im Regen auf der Straße standen".

Le Bouillonnec und die Sozialistische Partei sehen in der brutalen Räumung von "Haus F" keinen Anlass, gegen Sarkozy und seine Politik der gewaltsamen Räumungen politisch vorzugehen. Nachdem im letzten Jahr im Vincent-Auriol und im Paris-Opéra-Hotel Großfeuer ausgebrochen waren, bei denen etwa fünfzig Immigranten und Kinder getötet wurden, begann Sarkozy mit der systematischen Räumung von baufälligen Gebäuden in Paris. Für die SP ist dies alles auch kein Grund, gegen das drakonische Einwanderungsgesetz Front zu machen, das dieses Jahr verabschiedet wurde. Stattdessen reihen sie sich hinter Sarkozy ein. Sarkozy ist Präsident der regierenden gaullistischen UMP (Union für eine Volksbewegung) und im kommenden Jahr Präsidentschaftskandidat.

Zum Beispiel hätte die Sozialistische Partei die Beschlagnahmung leer stehender Immobilien, eine Schlüsselforderung der Obdachlosen, als Problemlösung zum Thema machen und massiv unterstützen können. Ein Gesetz aus dem Jahr 1948 sieht diese Maßnahme vor, um Notsituationen wie die der Obdachlosen von Cachan zu lösen. Aber wie schon bei der Feuersbrunst im Vincent-Auriol letztes Jahr sind die Sozialistische Partei und ihre Verbündeten der kommunistischen Partei und den Grünen nicht bereit oder fähig, es mit den Immobilienspekulanten aufzunehmen, die zur Zeit die Grundstückspreise ins Unermessliche treiben.

Wie die Obdachlosen-Hilfsorganisation DAL berichtet, hat die Immobilienspekulation dazu geführt, dass in der Region Ile de France 409.491 Objekte leer stehen. In Paris alleine kletterte die Zahl von 20.000 im Jahr 1962 auf heute 136.554 Objekte, das sind 10,1 Prozent des gesamten Wohnraums von Paris. Und die Situation verschlechtert sich ständig.

Am 30. November 2001 lebten in Paris 152.532 Menschen - 7,5 Prozent der Bevölkerung - in extrem überfüllten Wohnungen. Es gab 100.239 Anträge auf Sozialwohnungen in Paris, von denen 89.831 erste Priorität hatten. Aber pro Jahr werden nur acht- bis zehntausend Wohnungen zugeteilt. DAL berichtet von einer klar erkennbaren Benachteiligung eingewanderter Familien.

Vor diesem Hintergrund ist die Situation der Obdachlosen von Cachan zu sehen. Dabei hatten auch die Sozialisten in den letzten 25 Jahren schon das Amt des Präsidenten inne und bildeten mit Kommunisten und Grünen mehr als einmal die Regierung.

Cachan ist eines der Vorstadtviertel von Paris, das von einer oder mehreren dieser Parteien regiert werden. Das "Haus F" wurde schon seit 2001 von obdachlosen Immigranten bewohnt. Als größte Hausbesetzung ganz Frankreichs bekannt, nannten sie sich "les Mille de Cachan" (die Tausend von Cachan). Viele stammen aus der Elfenbeinküste, aus Mali und Senegal. Unter ihnen waren etwa zweihundert Kinder. Sie drängten sich in 300 kleinen Studentenzimmern (zu neun Quadratmetern). Die Stromversorgung war improvisiert und die sanitären Verhältnisse schlecht.

Im Jahr 2004 gewann die lokale Studentenwohnheimverwaltung einen Räumungsklage und die Erlaubnis, das Gebäude räumen und abreißen zu lassen, um dem Bau eines Parkhauses Platz zu machen. Die Behörden fürchteten jedoch, eine gewaltsame Räumung würde auf starken Widerstand stoßen.

Der Guardian zitierte vor einiger Zeit Mariama Diallo, Sprecherin einer Pariser Frauenhilfegruppe, die eine klare Vorstellung vermittelt, welche Verzweiflung die Menschen dazu bringen muss, in ein derart wohn-untaugliches Gebäude einzuziehen. Sie sagte, die Bedingungen im besetzten Haus reichten "an die Grenzen menschlicher Duldsamkeit.... Jedes Mal wenn ich herauskomme, schrubbe ich mich, doch ich fühle die Flöhe immer noch. Das Haus ist niemals ausgeräuchert worden. Der Geruch von Feuchtigkeit, eindringender Nässe und Zerfall lässt einen kaum atmen. Es ist Übelkeit erregend. Man sieht Kinder mit Hautausschlägen, Kinder mit Allergien oder Asthma, aber was können ihre Eltern dagegen tun?"

Eins der Opfer der Räumung sagte der Presse: "Wir haben ein solches Gebäude nicht aus Spaß bewohnt.... Wir waren gezwungen, hier zu leben, weil wir keine Wohnung finden konnten."

Auf einer Demonstration am 30. August in Paris gegen die Zwangsräumung von Cachan erzählte ein Teilnehmer einem Reporter der World Socialist Web Site, er sei mit seiner Frau und seiner dreijährigen Tochter aus dem besetzten Haus geworfen worden. Seither hätten sie sich in der Turnhalle aufgehalten. "Ich stamme von der Elfenbeinküste und lebe seit 2002 in Frankreich", sagte er. "Eine Aufenthaltsbewilligung wurde mir verweigert, weil ich nichts beweisen konnte, also habe ich keine Papiere. Ich kam nach Frankreich wegen des Krieges an der Elfenbeinküste. Die Behörden sind unmenschlich und die Polizeibrutalität ist grausam. Da ich illegal hier bin, habe ich keine Möglichkeit, für meine Familie zu sorgen, also muss ich von der Unterstützung von Freunden leben. Ich kann meine Tochter nicht einmal in den Kindergarten schicken, weil ich keine feste Wohnadresse habe."

Laut einem Bericht des Guardian waren nur die Hälfte der Hausbesetzer Asylsuchende oder illegale Einwanderer. Die Übrigen halten sich legal in Frankreich auf, konnten aber bisher wegen Rassismus und Diskriminierung keine Wohnung finden. Einige haben Arbeit: So lebt einer von ihnen, ein 25-jähriger Elektriker, zum Beispiel schon seit dreizehn Jahren legal in Frankreich. Er sagte: "Ich habe eine Arbeitsstelle und genug Geld, eine Wohnung zu mieten. Man könnte wohl annehmen, ich sei in der Lage, ein Dach über dem Kopf zu finden, und bräuchte nicht in einem besetzten Haus zu leben, aber nicht in Frankreich. Jeden einzelnen Tag erfahre ich Rassismus auf jede mögliche Art und Weise."

Die lokalen Behörden behaupten, die Räumung von "Haus F" sei ohne Zwischenfälle verlaufen. Ein Handzettel von Le rassemblement des collectifs des ouvriers sans papiers des foyers, einer Gruppe von Immigranten in Einwandererwohnheimen, gibt folgende Version der Ereignisse:

"Am Freitag, 18. August versammelten sich die Hausbewohner, die entschieden hatten zusammenzubleiben, vor dem Haus. Sie wurden von Polizei vollkommen eingeschlossen und dann angegriffen... viele Menschen wurden geschlagen, einige mussten ins Krankenhaus. Viele wurden verletzt, darunter ein Baby, eine Mutter (mit gebrochenem Knie) und ein Vater (mit gebrochenen Rippen)."

Es wird berichtet, dass ungefähr sechzig Arbeiter ohne Papiere (sans papiers) verhaftet wurden, unter ihnen eine schwangere Frau, die abgeschoben werden sollen. Drei sans papiers aus dem besetzten Haus in Cachan sind bereits abgeschoben worden.

Einem Teil der betroffenen Familien wurde provisorisch Unterkunft in verschiedenen Hotels zugewiesen. Etwa 200 Menschen weigerten sich jedoch, dies anzunehmen, da sie darin den Versuch sehen, die Gruppe zu spalten, ohne die Wohnungsfrage dauerhaft zu lösen.

Le Bouillonnec berichtete, unter den 352 Erwachsenen, die in der Turnhalle untergekommen seien, "haben 190 Personen angegeben, keine Dokumente zu haben, und 142 sind legal". Auch befänden sich unter den 254 Erwachsenen, die eine Hotelunterkunft akzeptiert hätten, "129 Erwachsene ohne Papiere, begleitet von 61 Kindern, während 121 Erwachsene, die siebzig Kinder haben, legal sind".

Seit der Entscheidung von Le Bouillonnec, die Obdachlosen in der Turnhalle aufzunehmen, streitet er sich mit Sarkozy herum, wer von ihnen nun für ihre Unterbringung verantwortlich sei.

Sarkozy erklärte letzte Woche: "Als ich die Hausbesetzung von Cachan vom Tisch hatte, empörten sich - unglaublich aber wahr - einige Parlamentarier dagegen. Dabei gibt es schon seit 2004 eine Gerichtsentscheidung, der zufolge es gefährlich sei, die Familien dort zu belassen.... Als sie sich auf dem Bürgersteig einrichteten, räumte ich den Bürgersteig, und der sozialistische Bürgermeister von Cachan beschloss, sie in der Turnhalle aufzunehmen.... Nun, jetzt ist es sein Problem."

Le Bouillonnec reagierte mit der Forderung, die Präfektur, die dem Innenminister untersteht, solle ihr Angebot einer provisorischen Hotelunterkunft reaktivieren, vorgesehen für "Menschen mit legalem Status, die den Anforderungen einer Unterbringung entsprechen". Die sozialistische Stadtverwaltung von Cachan akzeptiert die Aufteilung von Obdachlosen in Legale und rechtlose sans papiers. Das bestätigt auch folgende Aussage von Le Bouillonnec über eine Erklärung der Präfektur: "Die Unterbringung von Menschen mit illegalem Status wurde weder beantragt noch angeboten."

Zu Beginn der Hausbesetzung von Cachan gaben sich die Vertreter der Sozialistischen, Kommunistischen und Grünen Partei, die sich an Jospins Regierung der Linken Mehrheit (1997-2002) beteiligt hatten, noch den Anschein von Solidarität. Sie nahmen an der Protestbewegung gegen Sarkozys Einwanderergesetze teil und taten so, als verteidigten sie das Recht ausländischer Schulkinder und Studenten, mit ihren Familien hier zu bleiben. Aber als Sarkozy "die SP demagogisch beschuldigte, alle sans papiers legalisieren zu wollen". wies die Sozialistische Partei das entrüstet zurück In einem Kommuniqué vom 29. August heißt es: "Wir wollen eine Aufenthaltsregelung mit klaren Kriterien und Zielen, wie wir es unter der Regierung von Lionel Jospin machen konnten."

Das passt zum SP-Wahlprogramm, das im Juli verabschiedet wurde, in dem eine kontrollierte Einwanderung unter Zusammenarbeit mit den Transitländern gefordert wird. Viele der heutigen sans papiers waren auch unter der Jospin-Regierung schon illegal.

Am 23. August jährte sich zum zehnten Mal die Räumung von 300 sans papiers -Familien mit Kindern aus der Kirche St. Bernard. Damals war Alain Juppé Premierminister einer gaullistischen Regierung. Die Bilder von Polizisten der CRS, die das Tor zur Kirche zertrümmerten und ihren Freiraum verletzten, schockierten damals Millionen Franzosen, und die Erinnerung daran ist noch immer lebendig. Der damalige gaullistische Innenminister, Jean-Louis Debray, sah sich angesichts von Massenprotesten gezwungen, zwanzig Prozent der vielen Tausenden Antragstellern Bleiberecht zu gewähren. Auch unter Jospin wurde diese Zahl von Innenminister Jean-Pierre Chevènement lediglich auf fünfzig Prozent angehoben, und Tausende blieben weiterhin der ständigen Verfolgung und Vertreibung überlassen.

Siehe auch:
Frankreich: Sozialistische Partei stellt rechtes Wahlprogramm vor
(29. Juni 2006)
Mögliche Präsidentschaftskandidatin der Sozialistischen Partei will aufsässige Jugendliche ins Militär stecken
( 17. Juni 2006)
Frankreich: Regierung greift Immigranten an
( 3. Mai 2006)
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