Französische Nationalversammlung stellt Leugnung des Völkermords an Armeniern unter Strafe

Die Entscheidung der französischen Nationalversammlung, die Leugnung des Völkermords an den Armeniern im Jahr 1915 unter Strafe zu stellen, ist eine reaktionäre Provokation.

Das Verbot dient in erster Linie innenpolitischen Zwecken. Ähnlich wie die anhaltende Kampagne gegen den Islam, instrumentalisiert es religiöse und ethnische Fragen, um von den wachsenden sozialen Spannungen abzulenken. Zur Aufklärung eines der finstersten Kapitel der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts trägt es dagegen nicht bei. Im Gegenteil, die Einführung des Strafrechts in die historische Debatte ist ein Angriff auf die Meinungsfreiheit und behindert die Klärung historischer Fragen.

Das Gesetz, das von der Nationalversammlung am Donnerstag mit 106 zu 19 Stimmen verabschiedet wurde, bedroht die Leugnung des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich mit einem Jahr Gefängnis und 45.000 Euro Geldbusse. Es ergänzt ein einstimmig verabschiedetes Gesetz aus dem Jahr 2001, mit dem die Nationalversammlung den Völkermord an den Armeniern offiziell als solchen anerkannt hatte.

Das neue Gesetz, das abweichende Ansichten unter Strafe stellt, wurde von der oppositionellen Sozialistischen Partei eingebracht, wobei 40 sozialistische Abgeordnete dafür und zwei dagegen stimmten. Auch die Kommunistischen Partei unterstützte das Gesetz.

Die gaullistische Regierung lehnte es aus außenpolitischen Gründen ab. Doch die Regierungspartei UMP ermöglichte seine Verabschiedung, indem sie den Abgeordneten die Stimmabgabe freistellte und Nichtteilnahme an der Abstimmung empfahl. 49 UMP-Abgeordnete unter Führung des armenischstämmigen ehemaligen Ministers Patrick Devedjian stimmten schließlich dafür, 17 dagegen. Die überwiegende Mehrheit der insgesamt 577 Abgeordneten der Nationalversammlung blieb der Abstimmung fern.

Damit das Gesetz in Kraft tritt, muss es auch noch von der zweiten Kammer, dem Senat, genehmigt werden. Da es der Regierung frei steht, ob und wann sie den Gesetzestext auf die Tagesordnung des Senats setzt, wird dies möglicherweise nie der Fall sein. Dennoch hat das Gesetz bereits jetzt erhebliche Wirkung gezeigt.

Vor allem in der Türkei, wo umgekehrt bestraft wird, wer die Massaker von 1915 als Völkermord bezeichnet, erhob sich heftiger Protest. Die ultrarechte Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) hat schon vor Tagen Demonstrationen gegen den französischen Gesetzentwurf organisiert. Andere Organisationen riefen zum Boykott französischer Waren auf. Ministerpräsident Erdogan drohte mit wirtschaftlichen Gegenmaßnahmen. So soll ein französisch-türkisches Rüstungsgeschäft abgesagt und Frankreich vom Bietverfahren für ein geplantes Atomkraftwerk ausgeschlossen werden.

Bezeichnenderweise verurteilten aber auch oppositionelle Kräfte und Vertreter der türkischen Armenier das französische Gesetz. Sie fürchten, dass es rechten, nationalistischen Kräften Auftrieb verleiht und Repressalien gegen die armenische Bevölkerung nach sich zieht. Außerdem wandten sie sich dagegen, dass Frankreich die Anerkennung des Völkermords mit demselben Mittel erzwingen will, mit dem sie der türkische Staat verhindert - dem Strafgesetz.

"Wie sollen wir zukünftig gegen Gesetze argumentieren, die uns verbieten über einen Genozid zu reden, wenn Frankreich nun umgekehrt dasselbe tut. Das ist völlig irrational," kommentierte Hrant Dink, Herausgeber der armenisch-türkischen Wochenzeitung Argos das französische Gesetz. Dink, der im vergangenen Jahr wegen der Armenienfrage zu sechs Monaten Gefängnis mit Bewährung verurteilt wurde und jetzt wegen derselben Frage erneut verfolgt wird, drohte sogar, er werde nach Frankreich gehen und gegen seine Überzeugung den Völkermord leugnen, um dem neuen Gesetz zu trotzen.

Ein anderer armenischer Journalist, Etyen Mahcupyan von der Tageszeitung Zaman, sieht durch das französische Gesetz die zaghafte Diskussion über die Armenienfrage gefährdet, die unter der Regierung Erdogan begonnen hat. Im vergangenen Jahr hatte in Istanbul erstmals ein Kongress zur armenischen Frage stattgefunden. "Das Vorgehen des französischen Parlaments bringt die türkische Bevölkerung dem Staat näher, der sie dann umso leichter manipulieren kann", warnte Mahcupyan.

In Frankreich hat sich eine Gruppe prominenter Historiker vehement gegen das Gesetz ausgesprochen. In einem Aufruf mit dem Titel "Freiheit für die Geschichte" verurteilten sie es als Angriff auf die "Freiheit des Ausdrucks". Durch das Gesetz würden "die Lehrenden einmal mehr zu Geiseln gemacht".

Auch die französische Regierung und die Europäische Kommission wandten sich gegen das Gesetz, weil sie eine Verschlechterung der Beziehungen zur Türkei befürchten. Für die französische Wirtschaft geht es dabei um beträchtliche Summen. Macht Erdogan seine Drohungen war, stehen Aufträge bis zu 14 Milliarden Euro auf dem Spiel. Hinzu kommt, dass die französische Supermarktkette Carrefour in der Türkei groß im Geschäft ist und der Autokonzern Renault bei Istanbul ein Werk unterhält.

Doch all das hat die Nationalversammlung nicht davon abgehalten, ein Gesetz zu verabschieden, das eine unerwünschte Meinung über Ereignisse mit Strafe bedroht, die 90 Jahre zurückliegen und an denen Frankreich selbst kaum beteiligt war.

Ein ähnliches Gesetz gibt es in Frankreich bisher nur gegen die Leugnung des Holocaust, für den das Vichy-Regime Mitverantwortung trägt. Zahlreiche andere Gräueltaten, die zeitlich und geografisch wesentlich näher liegen, dürfen ohne Strafe geleugnet werden und werden dies zum Teil auch von offizieller Seite - man denke nur an die Folter und Massaker der französischen Kolonialmacht in Algerien und Indochina.

Noch im vergangenen Winter, als die Regierung per Gesetz die "positive Rolle" des französischen Kolonialismus in den Schulbüchern festschreiben ließ, hatten die Sozialisten dagegen gehalten, das Parlament habe kein Recht, Gesetze über die Geschichte zu erlassen, die Politik dürfe sich nicht an die Stelle von Historikern setzen. Nun haben sie diesen Grundsatz über Bord geworden und tun genau dasselbe.

Warum dieses Gesetz?

Vordergründig geht es um Wählerstimmen. Sowohl Ségolène Royal als auch Nicolas Sarkozy, die mutmaßlichen Kandidaten der Sozialistischen Partei und der UMP bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr, haben sich für das Gesetz ausgesprochen. Beide buhlen um die Stimmen der ungefähr 500.000 Franzosen armenischer Abstammung, die das neue Gesetz mehrheitlich unterstützen.

Doch es geht um mehr, als um das armenische Wählerpotential. Das neue Gesetz richtet sich auch gegen die geplante Mitgliedschaft der Türkei in der Europäschen Union. Präsident Chirac hatte dafür den Ton angegeben, als er vor zehn Tagen anlässlich eines offiziellen Besuchs in der armenischen Hauptstadt Eriwan erklärte, die Türkei müsse den Völkermord an den Armeniern anerkennen, bevor sie in die EU aufgenommen werden könne - eine Bedingung, die die EU selbst nicht stellt.

Rechte Politiker in ganz Europa haben die Agitation gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei als Mittel entdeckt, um rückständige Wählerschichten zu ködern. Ähnlich wie die Hetze gegen Immigranten und Muslime wird diese Frage benutzt, um soziale Ängste in fremdenfeindliche Kanäle zu lenken und so zu verhindern, dass sie sich gegen die Herrschenden selbst richten. Während konservative Politiker in der Regel mit der "Verteidigung des christlichen Abendlandes" argumentieren, nutzen die französischen Sozialisten nun die Armenienfrage zum selben Zweck.

Dass die französischen Sozialisten hier die Initiative ergriffen haben und dabei von der Kommunistischen Partei unterstützt werden, sagt viel über das Ausmaß des Niedergangs dieser Organisationen aus. Unfähig, eine Antwort auf die soziale Krise zu geben, setzten auch sie auf die Karte der Fremdenangst.

Die Offizierstochter Ségolène Royal, die von den Medien systematisch zur sozialistischen Präsidentschaftskandidatin aufgebaut wurde, hat schon des öfteren versucht, ihren UMP-Rivalen Nicolas Sarkozy rechts zu überholen - so als sie forderte, die Armee mit der Erziehung aufsässiger Jugendlicher zu betrauen. Mit dem Armeniengesetz setzt sie dieser Entwicklung die Krone auf.

Die Kommunistische Partei bemüht sich dabei wie gewohnt, noch einige Dezibel lauter zu brüllen. Der kommunistische Abgeordnete Frédéric Dutoit pries das neue Gesetz vor der Nationalversammlung als "immensen Fortschritt für die armenische Sache und, allgemeiner, für die Sache der Humanität". Er drohte: "Es ist ein erster Schritt, dem andere folgen müssen." Und die KP-nahe Zeitung La Marseillaise feierte das "Verbot der Leugnung" als "Ausdruck des Respekts für die universellen Werte". Für die Stalinisten der KPF verkörpert der Zensor nach wie vor die höchste Form der Freiheit!

Nachdem es in den vergangenen Jahren in Frankreich immer wieder zu Streikbewegungen und Revolten gekommen ist, die sich sowohl gegen gaullistisch wie sozialistisch geführte Regierungen richteten, schrecken Sozialistische und Kommunistische Partei vor nichts mehr zurück, um eine weitere Steigerung der sozialen Bewegung zu stoppen.

Siehe auch:
Frankreich: Sozialistische Partei stellt rechtes Wahlprogramm vor
(29. Juni 2006)
Frankreich: Mögliche Präsidentschaftskandidatin der Sozialistischen Partei will aufsässige Jugendliche ins Militär stecken
( 17. Juni 2006)
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