Palästinenser wollen Regierung der nationalen Einheit bilden

Mitte September gab Palästinenserpräsident Mahmud Abbas nach monatelangen Gesprächen bekannt, er werde gemeinsam mit der Hamas eine Regierung der nationalen Einheit bilden.

Abbas hofft, dadurch die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und internationale Hilfsorganisationen zur Beendigung ihres verheerenden Embargos bewegen zu können, das diese im vergangenen Januar nach dem Wahlsieg der Hamas gegen die Palästinensische Autonomiebehörde verhängt hatten. Auch hofft er auf eine Wiederaufnahme der Gespräche mit Israel.

Die Einigung kam nach dem Libanonkrieg zustande, der für Israel und die USA in einem Debakel endete. Formuliert wurde sie in einer Situation, in der die USA auf einen Konflikt mit dem Iran und Syrien zusteuern, während sowohl die israelische als auch die palästinensische Regierung mit wachsender sozialer Unzufriedenheit konfrontiert sind.

In den Palästinensergebieten wurde die Aussicht auf eine Regierung der nationalen Einheit begrüßt. Sie wird als Ausweg aus den fraktionellen Kämpfen gesehen, die zu einem regelrechten Bürgerkrieg auszuwachsen drohen. Seit dem Wahlsieg der Hamas sind schon mindestens 58 Menschen in Fraktionskämpfen getötet worden, und am 15. September starben weitere vier.

Obwohl die Hamas das Abkommen bestätigt hat, wird es vermutlich noch Wochen dauern, bis es Wirklichkeit wird, und viele Einzelheiten sind nach wie vor unklar. Ob es überhaupt zu einer solchen nationalen Einheitsregierung kommt und welche Form sie annehmen wird, hängt auch von Washington ab. Die USA lehnen sie bislang ab, weil sie darin eine Einmischung der europäischen Mächte in ihrem Einflussgebiet sehen.

Präsident Abbas wird aller Voraussicht nach den Hamas-Ministerpräsidenten Ismael Hanija auffordern, die nächste Regierung zu bilden. Ihr sollen acht Minister von der Hamas und vier von der Fatah angehören, sowie weitere Unabhängige, Angehörige anderer politischer Parteien oder "Technokraten".

Das Abkommen stützt sich auf den so genannte "Gefangenenbrief", der vergangenen Juni von Vertretern der verschiedenen Palästinenserfraktionen ausgearbeitet wurde. Das Dokument geht seinerseits auf einen Vorschlag der Arabischen Liga von 2002 zurück, dem die Hamas schon zugestimmt hatte.

Es befürwortet eine Zweistaatenlösung im Konflikt mit Israel und hebt dadurch den Grundsatz der Hamas auf, zur Zerstörung Israels aufzurufen und Friedensverhandlungen auszuschließen. Der Gefangenenbrief akzeptiert auch die Schaffung eines Palästinenserstaats in den von Israel seit 1967 besetzten Gebieten, und besteht somit nicht länger auf die Kontrolle über das ganze historische Palästina. Außerdem enthält er die Verpflichtung, Widerstand gegen Israel nur innerhalb dieser Grenzen zu leisten.

Aber auch wenn die Hamas fast alle Punkte aufgegeben hat, die sie seit ihrer Gründung von der Fatah unterscheiden, weigert sie sich noch immer, ausdrücklich Israels Existenzrecht oder die "Rechtmäßigkeit" der Besetzung palästinensischen Gebiets anzuerkennen.

Genau dies verlangen aber die Bush-Regierung und die israelische Koalitionsregierung aus Kadima und Arbeitspartei von der Hamas. Hinzu kommt, dass sie einen Gewaltverzicht der Hamas fordern, ehe sie einer Beendigung der Blockade und einer Wiederaufnahme der Gespräche zustimmen wollen.

Um diesen Konflikt zu umschiffen, bevollmächtigt das neue Abkommen die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und ihren Vertreter Abbas, im Namen der Palästinenser zu verhandeln. Abbas wäre nur dem Palästinensischen Nationalrat verantwortlich, der die Palästinenser auf der ganzen Welt repräsentiert. Beide Seiten hoffen, dass die Übertragung der Verhandlungsautorität auf Abbas als stillschweigende Anerkennung Israels durch die Hamas verstanden wird.

Die israelische Regierung erklärte sich mit dem Abkommen nicht zufrieden. "Wir müssen sicherstellen, dass dies nicht ein Versuch ist, die Hamas-Regierung besser aussehen zu lassen, als sie in Wirklichkeit ist, denn sie hat nicht die Absicht, die Bedingungen der internationalen Gemeinschaft zu akzeptieren", sagte Israels Verteidigungsminister Amir Peretz. Das Büro des israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert verweigerte jeden Kommentar.

Doch die Olmert-Regierung ist im eignen Land unter enormen Druck geraten. Ursache sind die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Erschütterungen, die der katastrophale Krieg gegen den Libanon hervorgerufen hat, sowie eine Welle von Korruptionsskandalen und die wirtschaftlichen und sozialen Angriffe der Regierung auf die israelische Arbeiterklasse.

Ha’aretz -Kolumnist Danny Rubinstein forderte Olmert auf, die Regierung der Palästinensischen Autonomiebehörde anzuerkennen, und Außenministerin Zipi Livni traf vergangene Woche bei den Vereinten Nationen in New York mit Abbas zusammen.

Am Tag nachdem das Abkommen über eine nationale Einheitsregierung angekündigt wurde, ordnete ein israelisches Militärgericht die Freilassung von 21 Hamas-Abgeordneten und Ministern an. Diese waren im Juni im Rahmen einer Vergeltungsaktion von Israel entführt worden, als Reaktion auf die Gefangennahme des israelischen Obergefreiten Gilad Schalit durch Hamas-Milizen. Die Staatsanwaltschaft legte Widerspruch gegen die Entscheidung des Gerichts ein, dennoch wird dies als erster Schritt zu einem Austausch palästinensischer Gefangener gegen Schalit gesehen.

Die Rolle Europas

Die europäischen Mächte haben das Abkommen begrüßt, das sie als notwendig betrachten, um die Stabilität des Nahen Ostens in der Zeit nach dem Libanonkrieg zu garantieren.

Selbst der britische Premierminister Tony Blair, der wie üblich die Aggression der Vereinigten Staaten in der Region am meisten unterstützt, hält es für unklug, Krieg gegen den Iran und Syrien zu führen, solange in den Besetzten Gebiete immer noch Unruhe herrscht.

Im Rahmen seines jüngsten Besuchs in Israel und Palästina sprach sich Blair für das Abkommen aus, als er mit Olmert und Abbas zusammentraf. Er bot Hamas sogar die Kompromissformel an, dass man die Regierung der nationalen Einheit anerkennen werde, wenn die Regierung als Ganze - und nicht jede einzelne Partei - im Gegenzug Israel anerkenne, der Gewalt entsage und die früheren, vorläufigen Friedensabkommen akzeptiere. Außerdem drängte er beide Seiten, sich auf ein Treffen ohne Vorbedingungen einzulassen.

Die anderen europäischen Mächte haben noch weniger Interesse, die USA zu unterstützen. Ihre Reaktion auf Amerikas Probleme im Irak und im Libanon bestand darin, dass sie im Nahen Osten von den USA abrückten. Zuerst setzten sie sich für eine diplomatische Lösung mit dem Iran ein, und jetzt begrüßen sie das Abkommen zwischen Fatah und Hamas.

Frankreich sagte, die Bildung einer Palästinenserregierung der nationalen Einheit müsse zu einem Ende des Wirtschaftsembargos führen. Der französische Außenminister Philippe Douste-Blazy erklärte: "Eine palästinensische Regierung der nationalen Einheit... sollte dazu führen, dass die internationale Gemeinschaft ihre Politik in Fragen der Hilfeleistung und des Kontakts gegenüber der palästinensischen Regierung überprüft."

Die Europäische Union begrüßte das Abkommen ausdrücklich. Der finnische EU-Präsident rief die Mitgliedsländer auf, die Regierung zu akzeptieren. Finnlands Außenminister Erkki Tuomioja sagte, der Schritt sei eine Gelegenheit, um den Friedensprozess wieder aufzunehmen. Eine Erklärung der 25 europäischen Außenminister in Brüssel begrüßte die neue Regierung, sah aber noch von einer Selbstverpflichtung zur Beendigung des Embargos ab. Die Diskussion soll fortgesetzt und auf die Frage der blockierten Hilfsgelder ausgedehnt werden.

Der italienische Außenminister Massimo D’Alema ging noch weiter und sagte, seine Kollegen hätten schon zugestimmt, die neue Regierung zu unterstützen.

Auf einer internationalen Geberkonferenz in Stockholm wurde letzte Woche eine Hilfeleistung von insgesamt 500 Millionen Dollar für die Palästinensergebiete zugesagt. UN-Hilfskoordinator Jan Egeland erklärte auf der Konferenz, die Palästinenser bräuchten mindestens soviel Geld, wie dem Libanon in der vorherigen Woche versprochen worden war.

Ein Entwicklungshelfer, der zehn Tage zuvor aus dem Gazastreifen zurückgekehrt war, berichtete auf der Konferenz über das enorme Ausmaß der Unterernährung. Viele junge Mütter seien nicht in der Lage, ihre Babys zu stillen. Die UN erklärte, die palästinensische Wirtschaft stehe am Rande des Zusammenbruchs. Das Pro-Kopf-Einkommen befinde sich in freiem Fall, die Arbeitslosigkeit liege bei fünfzig Prozent und zwei Drittel der Familien lebten unter der Armutsgrenze. Im Gazastreifen leben fast achtzig Prozent der Bevölkerung in Armut.

Die Europäer sind bestürzt über das Chaos, das die Rücksichtslosigkeit der USA im Irak und in Afghanistan angerichtet hat, und über die große Popularität, die die Hisbollah dank ihres Widerstands gegen Israel genießt. Ihre Reaktion zeigt wachsende Sorge angesichts der Destabilisierung im Nahen Ostens, der Drohungen gegen den Iran und der drohenden amerikanischen Kontrolle über die Mittelmeerregion einschließlich Nordafrika.

Die europäischen Mächte sehen sich daher zunehmend gezwungen, in der Region ebenfalls militärisch und diplomatisch aufzutreten, um dem amerikanischen Streben nach unangefochtener Vorherrschaft entgegenzutreten. Das ist der Grund, warum Europa einerseits zum Frieden mit den Palästinensern aufruft, andererseits Truppen in den Libanon schickt.

Der Iran und Syrien versuchen derweil, eine Übereinkunft mit Washington zu erzielen. Beide Länder haben die Aussicht auf eine Regierung der nationalen Einheit begrüßt, die den Friedensprozess fortsetzen will.

Der ehemalige iranische Präsident Mohammad Khatami äußerte sich während einer zwölftägigen Privatreise durch die USA zum Thema. Er ist der hochrangigste iranische Politiker, der seit 1979 die USA besucht hat. "Ich denke, auch Hamas, die durch einen demokratischen Prozess an die Macht gelangte, ist heute bereit, mit Israel zusammenzuleben, solange ihre Rechte respektiert werden. Palästina muss wie ein demokratischer Staat und die Hamas als die Regierung der Palästinenser behandelt werden. Der Druck muss von der Hamas genommen werden", sagte Khatami und betonte, seine Worte spiegelten die offizielle iranische Politik wider. "Natürlich respektieren wir, was die Palästinenser selbst dazu denken", fügte er hinzu.

Syriens Außenminister Faruk al-Scharaa sagte nach einem Zusammentreffen mit dem ehemaligen palästinensischen Ministerpräsident Ahmed Kureia, sein Land unterstütze "eine Übereinkunft der palästinensischen Fraktionen auf der Grundlage nationaler Prinzipien". In Syrien leben eine Reihe palästinensischer Führer im Exil, so auch der Chef des Hamas-Politbüros Khaled Meschaal.

Das Weiße Haus reagierte anfänglich schroff und ablehnend auf die neue Regierung.

Der US-Staatssekretär für Nahost-Angelegenheiten David Welch erklärte, Washington werde das Programm der neuen Regierung genau studieren, fügte jedoch hinzu: "Soweit wir es bis jetzt kennen, genügt es nicht den Standards."

Der Sprecher des Außenministeriums Sean McCormack behauptete, es habe sich nichts verändert. Es sei "überhaupt nicht klar, ob die Palästinenser zu einer Übereinstimmung hinsichtlich einer Einheitsregierung gekommen sind", sagte er. Er drohte, der Boykott werde nur aufgehoben, wenn die Palästinenser "die Bedingungen erfüllen, die ihnen gestellt wurden".

Aber nach einem Treffen des Nahost-Quartetts, dem die USA, die EU, Russland und die UN angehören, unterzeichneten die Vereinigten Staaten am 20. September in New York eine gemeinsame Erklärung. Diese würdigt "die Bemühungen des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas in Hinblick auf die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit" und gibt der Hoffnung Ausdruck, "dass das Programm einer solchen Regierung die Prinzipien des Quartetts berücksichtigt und ein baldige Verhandlungen ermöglicht".

Zwar ist kein Ende des Embargos gegen die Autonomiebehörde zugesagt, doch die Erklärung lässt humanitäre Hilfe für die Palästinenser ausdrücklich unter der Voraussetzung zu, dass sie über einen Umweg erfolgt, der die aktuelle, von der Hamas geführte Regierung nicht einbezieht. Außerdem wird Israel vom Nahost-Quartett aufgefordert, etwa 500 Millionen Dollar Steuergelder und Zolleinnahmen herauszugeben, die den Palästinensern vorenthalten wurden.

Diese Erklärung, die sogar die Unterstützung von Außenministerin Condoleezza Rice genießt, widerspiegelt den Inhalt einer EU-Erklärung von Anfang vergangener Woche. Das Quartett verpflichtet sich zwar zu keiner praktischen Aktion, doch die Tatsache, dass die USA gemeinsam mit der EU eine Erklärung unterzeichnet haben, ist Ausdruck ihrer geschwächten Position nach dem Debakel im Libanon, im Irak und in Afghanistan. Die Erklärung setzt Israel unter Druck, sich in irgendeiner Weise mit der Autonomiebehörde zu arrangieren.

Notwendig ist eine unabhängige sozialistische Politik

Nur acht Monate nach ihrem Erdrutschsieg bei den Januar-Wahlen einigt sich die Hamas mit der Fatah. Ihren Wahlsieg verdankte die Hamas der Enttäuschung und Empörung von Millionen Palästinensern über die ständigen Angriffe und Erniedrigungen von Seiten Israels, über die amerikanische Gleichgültigkeit in Bezug auf das Schicksal der Palästinenser, über die Korruption und Vetternwirtschaft der Fatah und die grassierende Armut in den Besetzten Gebieten.

Israel war keineswegs unglücklich über den Wahlsieg der Hamas und nutzte die Tatsache, dass Washingtons sie als terroristische Organisation einstuft, als Freibrief für den Einsatz von roher Gewalt. Israel zog die Grenzen neu und vereinnahmte große Teile des Westjordanlandes, um die herum eine schwer bewachte Mauer gezogen wurde.

Obwohl Israel klar gemacht hat, dass es eine palästinensische Souveränität auf keinen Fall akzeptieren wird, auch nicht in verstümmelter und zerstückelter Form, stimmt die Hamas einer gemeinsamen Regierung mit der Fatah zu und akzeptiert eine Zweistaatenlösung,. Die Bemühungen, die Palästinenser auszuhungern und zur Unterwerfung zu zwingen, und der mörderische Feldzug gegen den Gazastreifen und das Westjordanland haben alle schönen Worte über eine "Zweistaatenlösung", "Land für Frieden" und die "Road-Map" Lügen gestraft. In Wirklichkeit besteht die illegale israelische Besetzung des Landes fort, und Militärrazzien, Morde, Entführungen, Bombardements und Ausgangssperren sind an der Tagesordnung und werden von Washington finanziell und politisch unterstützt.

Alle früheren Versuche der Palästinenser, Grundlagen für eine Wiederaufnahme von "Friedensgesprächen" und Verhandlungen mit Israel zu schaffen, wurden bewusst sabotiert. Eine mit dem jetzigen Abkommen identische Übereinkunft zwischen Hamas und Fatah wurde im Juni verhindert, als Israel palästinensische Zivilisten tötete und dadurch Vergeltungsangriffe provozierte, die als Vorwand für einen umfassenden militärischen Angriff auf den Gazastreifen herhalten mussten. Die Olmert-Regierung beharrt darauf, Israels Grenzen einseitig festzulegen und Ostjerusalem sowie einen großen Teil des Westjordanlandes zu annektieren.

Die Hamas war nie eine wirkliche Alternative zur Fatah. Sie wuchs im gleichen Ausmaß, wie die PLO sich als unfähig erwies, ihr Programm des säkularen Nationalismus zu verwirklichen. Aber auch die Hamas strebt bloß nach einer Beteiligung an der Macht für jene Schichten der palästinensischen und arabischen Bourgeoisie, deren Interessen sie vertritt.

Die entsetzlichen Umstände, unter denen die palästinensische Bevölkerung lebt, beweisen die Unmöglichkeit, ihre demokratischen und sozialen Ziele auf der Grundlage eines nationalen Programms und unter Führung der palästinensischen Bourgeoisie zu verwirklichen. Alles, was durch jahrzehntelange, heroische Kämpfe und Opfer erreicht wurde, ist die Schaffung eines schwer bewachten Ghettos, das auf Gedeih und Verderb von Israel abhängig ist.

Eine fortschrittliche Lösung kann nur durch den Aufbau einer unabhängigen politischen Bewegung erreicht werden, deren Ziel in der Schaffung der Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens besteht. Diese werden die künstlichen Grenzen beseitigen, die durch den Imperialismus gezogen wurden, und die Nutzung der wertvollen Reichtümer der Region zum Wohle der Bevölkerung ermöglichen.

Siehe auch:
Kriegslüsterner Bush spricht vor UNO: Washington droht mit großem Nahostkrieg
(21. September 2006)
Bundesregierung drängt auf Militäreinsatz im Libanon
( 13. September 2006)
Großmächte tragen Mitverantwortung für israelische Kriegsverbrechen
( 6. Juli 2006)
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