Frankreich: Regierung nutzt Brandanschlag für weitere Staatsaufrüstung

Jugendliche haben am 28. Oktober in Marseille, der zweitgrößten Stadt Frankreichs, einen Bus in Brand gesetzt. Eine junge afrikanische Frau erlitt dabei Verbrennungen dritten Grades. Die gaullistische Regierung von Präsident Jacques Chirac nutzt dies als willkommenen Anlass zur Staatsaufrüstung.

Innenminister Nicolas Sarkozy ereiferte sich auf Radio Europe 1: "Wir müssen die Kultur der ewigen Entschuldigungen beenden. Arbeitslosigkeit und Diskriminierung sind keine Entschuldigung für solche Taten."

Sarkozy tritt für nicht reduzierbare Mindeststrafen für Wiederholungstäter und für die Abschaffung der eingeschränkten Schuldfähigkeit von Kindern ein. Premierminister Dominique de Villepin kündigte an, die schon bestehenden Gesetze zu verschärfen. "Von nun an wird jeder, der an einem Überfall [auf Polizisten oder Beschäftigte des öffentlichen Dienstes] teilnimmt, angeklagt und bestraft", erklärte er. Wer solche Taten begeht oder plant, müsse mit bis zu fünf Jahren Gefängnis rechnen.

Jacques Mayard, ein Pariser Abgeordneter der regierenden UMP (Union für eine Volksbewegung), forderte die "Schaffung von Disziplinareinrichtungen für die soziale Reintegration, in denen junge Straftäter mindestens drei Jahre lang mit fester Hand nach militärischen Prinzipien angeleitet und umerzogen werden".

Der Polizeichef von Marseille hat eine Null-Toleranz-Politik für acht "kritische" Bezirke verkündet, und Sarkozy hat zwei Brigaden Bereitschaftspolizei entsandt, das sind etwa 150 Mann.

Diese Unterdrückungsmaßnahmen wurden von der Sozialistischen Partei voll und ganz unterstützt. Ségolène Royal, die voraussichtliche Präsidentschaftskandidatin der Partei für 2007, versuchte sogar, die Gaullisten bei der Forderung nach Law-und-Order-Maßnahmen zu übertreffen. Sie hatte schon früher Pläne über Militärlager für Jugendliche vorgeschlagen, die denen Mayards ähneln. Jetzt beschuldigte sie Sarkozy, der als Favorit für die Präsidentschaftskandidatur der UMP gilt, die Polizeiarbeit in Frankreich nicht aktiv genug zu betreiben. Der Generalsekretär der Sozialistischen Partei, François Hollande, warf Sarkozy vor, er agiere als "Teilzeitminister" und habe in vielen Gegenden die Polizeipräsenz verringert.

Royal billigte Unterdrückungsmaßnahmen gegen Kinder mit den Worten: "Es sind neun bis zwölfjährige Kinder, die den Stadtguerilla-Krieg führen."

Der Bus wurde in dem Arbeiterbezirk Saint-Jérôme in Marseille angezündet. Die Krankenhausärzte, die das Opfer, die 26 Jahre alte Studentin Mama Galledou, behandeln, bezeichnen ihren Zustand als kritisch. Sie kam aus dem Senegal nach Frankreich, um dort zu studieren. Fünf Jugendliche im Alter von fünfzehn bis siebzehn Jahren befinden sich in Haft und gelten laut Premierminister de Villepin als die Schuldigen.

An einer Bushaltestelle hatten einige Jungs den Busfahrer gebeten, noch auf die Ankunft ihrer Freunde zu warten; er war aber dennoch losgefahren. Auf der Rückfahrt drangen vier oder fünf Jugendliche in den Bus ein und zündeten ihn an, ohne den Passagieren Zeit zum Verlassen des Busses zu geben. Mama Galledou konnte sich nicht rechtzeitig vor den Flammen retten.

Der Zwischenfall war einer von mehreren Brandanschlägen auf Busse seit dem 22. Oktober. Begonnen hatten sie in der Pariser Region, am Jahrestag der dreiwöchigen Jugend-Unruhen, die 2005 durch den Tod zweier Jugendlicher, Zyed Benna und Bouna Traore, ausgelöst worden waren. Die beiden hatten tödliche Stromstöße erhalten, als sie sich im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois auf der Flucht vor der Polizei in einem Transformatorenhäuschen verstecken wollten.

Der Brandanschlag von Marseille wird als Rechtfertigung für eine bislang schon drakonische Offensive gegen Einwandererjungendliche benutzt. Diese Offensive begann, als im vergangenen Herbst der Ausnahmezustand verhängt und erst im Januar dieses Jahres wieder aufgehoben wurde. Das hat zu einer wachsenden Brutalisierung der französischen Gesellschaft und besonders ihre unterdrücktesten Schichten beigetragen.

Die Verletzung Mama Galledous kann nicht von der jahrzehntelangen Vernachlässigung der städtischen Arbeiterwohngebiete und den gesellschaftlichen Missständen getrennt werden, die Sarkozy nicht als "Entschuldigung" gelten lassen will: Diskriminierung und Massenarbeitslosigkeit. Dazu kommt noch die systematische Polizeibrutalität.

Jugendliche ohne die geringste Zukunftsperspektive sind ständigen Polizeischikanen und institutionalisierter rassistischer Diskriminierung ausgesetzt. Ihre Eltern sind wegen der Schließung der Fabriken, derentwegen sie nach Frankreich kamen, ebenfalls arbeitslos.

Im Zusammenhang mit Bushs "Krieg gegen den Terror" wurde in Frankreich und ganz Europa bewusst Islam-Feindlichkeit und antiarabischer Rassismus herangezüchtet. Das hat das Gefühl der Entfremdung bei der Einwandererjugend noch verschärft. Einige greifen aus Wut und Verzweiflung zu wahllosen Gewaltakten, die von der politischen Elite wiederum benutzt werden, um ihre reaktionären Ziele durchzusetzen.

Die Verantwortung für diese Situation liegt jedoch nicht nur bei der gaullistischen Regierung, die den Armen nimmt und den Reichen gibt, und die den Lebensstandard und die demokratische Grundrechte der Arbeiterklasse systematisch demontiert. Auch die offiziellen "linken" Parteien und die Gewerkschaften spielen eine entscheidende Rolle dabei, ein Klima sozialer Verzweiflung zu schaffen. Sie haben die Verteidigung der Lebensbedingungen und der demokratischen Rechte der Arbeiterklasse völlig aufgegeben und unterstützen das Anheizen einwandererfeindlicher Stimmungen.

Der Zusammenbruch der alten Arbeiterparteien und -organisationen hat zur Folge, das die unterdrücktesten und ärmsten Schichten der Gesellschaft keine Institution haben, die auch nur in beschränkter Weise für sie sprechen und ihre Interessen artikulieren würde. Die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei und die Gewerkschaften stehen der Arbeiterjugend in den Einwanderghettos feindlich gegenüber und arbeiten bei den Angriffen auf sie mit der französischen Bourgeoisie zusammen.

In der Zeit des Nachkriegsbooms hatten sich KP, SP und Gewerkschaften noch bemüht, mit begrenzten gewerkschaftlichen und politischen Aktionen Zugeständnisse durchzusetzen, die den Lebensstandard der Arbeiter erhöhten. Seit dem Ende des Booms hat sich das alles geändert. Seit Mitte der 1980er Jahre treten diese Organisationen dafür ein, die nationale Wirtschaft und die Großindustrie gegen die globale Konkurrenz zu verteidigen und beteiligen sich aktiv daran, Kürzungsmaßnahmen und Angriffe auf die bisherigen sozialen Errungenschaften durchzusetzen. Solche Angriffe wurden von Regierungen der Rechten wie der offiziellen Linken durchgeführt.

Die KP und die stalinistisch dominierte Gewerkschaft CGT organisierten gemeinsam mit den Unternehmern nationalistische Kampagnen, man solle "französisch kaufen", und schürten damit einwandererfeindliche Stimmungen. Das begünstigte das Anwachsen der rechtsradikalen Front National von Jean-Marie Le Pen, der besonders in ehemaligen Hochburgen der KP an Einfluss gewinnen konnte.

Heute hat sich die Unterstützung für die KP und die SP in den großen Trabantenstädten am Rande der Großstädte, in denen überwiegend Einwanderer wohnen, weitgehend in Luft aufgelöst. Die KP, die in den 1970er Jahren bei Wahlen über dreißig Prozent kam, erhielt 2002 gerade noch drei Prozent der Stimmen.

Das Anwachsen der Rechtsextremisten wurde von KP und SP wiederum benutzt, ihre Zusammenarbeit mit den Gaullisten und ihre Unterstützung für wirtschaftsfreundliche Maßnahmen und Law-and-Order-Politik zu rechtfertigen. Das erreichte 2002 seinen Höhepunkt, als der gaullistische Präsident Jacques Chirac mit Unterstützung der sozialistischen und der kommunistischen Partei in einer Stichwahl gegen Le Pen für eine zweite Amtszeit gewählt wurde.

Die Parteien der "extremen Linken" spielen schon seit langem die Rolle von Anhängseln der stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaftsbürokratien. Die Ligue Communiste Révolutionnaire und Lutte Ouvrière unterstützten stillschweigend die Wahl von Chirac gegen Le Pen und lehnten den Aufruf der World Socialist Web Site für einen aktiven Boykott der Präsidentschaftswahl von 2002 ab. Die WSWS verband diese Forderung mit einer sozialistischen Perspektive für die Arbeiterklasse, unabhängig von den kapitalistischen Parteien und Institutionen.

Lutte Ouvrière unterstützte die islamophobe Kampagne für ein Gesetz gegen das Tragen des muslimischen Kopftuchs in Schulen. Gemeinsam mit den Gewerkschaften arbeiteten die "extrem linken Parteien" 2003 mit daran, die Bewegung zur Verteidigung der Renten und des Bildungssystems abzuwürgen. Im Frühjahr dieses Jahres spielten sie die gleiche Rolle, als sie den Verrat am Kampf gegen das Gesetz für Chancengleichheit abdeckten. Dieses Gesetz zielte ganz speziell auf die benachteiligten Stadtteile ab, senkte das Alter für die Schulpflicht auf 14 Jahr und bevollmächtigt die Behörden, die Sozialhilfe der Eltern zu verwalten.

Das Ergebnis dieser gemeinsamen Offensive der Rechten und der Linken gegen die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung haben die ärmsten Wohnviertel in regelrechte soziale Sprengsätze verwandelt. Der sozialistische Bürgermeister des 13. und 14. Arrondissements von Marseille, wo Saint-Jérôme liegt, gab zu: "In der letzten Zeit konnte man die Unsicherheit im Stadtteil geradezu spüren. Die Lage auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und die Lebensqualität verschlechtern sich. Und die Probleme der sozialen Organisationen der Gemeinde, deren Finanzen extrem schlechter geworden sind, zerstören die sozialen Beziehungen."

Didier Bonnet, Leiter einer Organisation für die ökonomische Neubelebung heruntergekommener Gegenden, sagte der Zeitung Le Monde : "Der bauliche Zustand einiger Wohngebiete ist erbärmlich. Stadtteile wie les Cèdres und les Oliviers werden buchstäblich dem Verfall überlassen, als ob man die Leute vertreiben wollte. Und diese täglich unterdrückte Gewalt, die man immer spürt, wenn man dort ist, kann jederzeit explodieren."

Ein kürzlich erschienener Bericht hat ermittelt, dass im Departement Bouches-du-Rhone, zu dem Marseille gehört, die Arbeitslosenrate unter den im Ausland Geborenen doppelt so hoch ist, wie unter den in Frankreich Geborenen (35 Prozent gegenüber einer bereits hohen Rate von 18 Prozent). Ein Experiment mit Kandidaten mit den gleichen Qualifikationen, die sich um die gleichen Stellen bewarben, das von der Universität Paris 1 durchgeführt wurde, zeigte, dass ein Schwarzafrikaner oder ein Araber eine fünffach geringere Chance hatte, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, als andere Franzosen.

Diese Zustände haben sich in einer Zeit entwickelt, in der sowohl in lokalen Verwaltungen wie in nationalen Regierungen meist die Sozialisten regierten, manchmal in Koalition mit der Kommunistischen Partei. Von 1982 - ein Jahr nachdem ein sozialistischer Präsident gewählt wurde, der dann zweimal sieben Jahre im Amt blieb - bis 2005 erhöhte sich die Zahl der Wohnviertel, die die Berechtigung für besondere Beihilfen der Zentralregierung erfüllten, von 16 auf 750.

Siehe auch:
Französisches Kriminalitätsbekämpfungsgesetz: Ein Schritt zur autoritären Herrschaft
(29. September 2006)
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