Frankreich: Eisenbahner wehren sich gegen Ausverkauf durch die Gewerkschaften

Am Donnerstag, dem dritten Tag eines Streiks gegen die Reformpläne der Regierung Sarkozy, stimmten die Eisenbahnarbeiter in Massenversammlungen in ganz Frankreich mit überwältigender Mehrheit für die Fortsetzung und Ausweitung des Kampfs. Der Streik wendet sich gegen die Beschneidung der besonderen Renten für Eisenbahner nach dem sogenannten régime spéciaux.

Die Arbeiter wiesen die drei wichtigsten Säulen der Reform zurück: die Erhöhung der Anzahl der zur vollen Rente berechtigenden Beitragsjahre von 37,5 auf 40 Jahre, die Décote, d.h. Einführung von Abschlägen für fehlende Jahre, und die Bindung der Rentenhöhe an die Preise, statt wie bisher an die Löhne.

Das Misstrauen gegen die Gewerkschaftsführung war mit Händen zu greifen. Besonders der Vorschlag Bernard Thibaults, des Vorsitzenden der stalinistischen CGT, die Verhandlungen über die Reformpläne auf Betriebsebene zu führen, rief Verärgerung hervor. Dieser Vorschlag bedeutet faktisch die Anerkennung der Zerstörung der régime spéciaux und beinhaltet die Zusammenarbeit bei der Einführung von Sarkozys Reformvorstellungen.

Die WSWS nahm an einer Massenversammlung von Streikenden am Bahnhof Gare du Nord in Paris teil. Unter den Teilnehmern waren Lokführer, Schalterbeamte, Schaffner und eine Delegation der Reparaturwerkstätten Le Landy in Seine-Saint-Denis nördlich von Paris.

Anwesend waren Mitglieder der CGT, der größten Gewerkschaft bei den Eisenbahnen, von SUD Rail und Force Ouvrière, der zweit- und drittgrößten Gewerkschaft, sowie von UNSA (der den Sozialisten nahe stehenden Nationalen Union Autonomer Gewerkschaften). Es waren auch Arbeiter da, die keiner Gewerkschaft angehören.

Es wurden Berichte von anderen Betriebsstätten in der Region von Paris verlesen, wo sechzig bis hundert Prozent der Arbeiter sich im Streik befinden.

Nazima von der CGT, die eine führende Rolle bei der Organisierung der Massenversammlungen spielt, berichtete, sie habe einen Telefonanruf von der Tolbiac-Universität erhalten, wo sich die Studenten im Kampf gegen Pläne befinden, die Hochschulen der Privatwirtschaft zu öffnen. Die Studenten forderten die Eisenbahner auf, nicht aufzugeben. Nazima äußerte sich empört über das gewaltsame Vorgehen der Bereitschaftspolizei am Vortag gegen demonstrierende Studenten an der Universität Nanterre: "Das war ein großer Fehler der Regierung."

Die Versammlung beschloss bei drei Enthaltungen, den Streik am nächsten Tag fortzusetzen.

Sie beschloss auch, ein Streikkomitee zu bilden, das Streikposten organisieren und den Streik ausweiten soll, besonders auf den öffentlichen Nahverkehr und die Gas- und Elektrizitätsarbeiter, deren régime spéciaux -Renten ebenfalls von den Plänen der Regierung bedroht sind.

Das Komitee soll auch Aktivitäten unternehmen, um die Öffentlichkeit zu informieren. So will man der von den Medien unterstützten Propagandamaschine Sarkozys Paroli bieten.

Am Vortag hatten die Streikenden am Gare du Nord einstimmig für eine Resolution gestimmt, die dann in ganz Frankreich verbreitet worden war und von vielen Massenversammlungen angenommen wurde. Diese Resolution wurde noch einmal verabschiedet, um einem Brief von Arbeitsminister Xavier Bertrand vom 14. November die gebührende Antwort zu geben. In diesem Brief hatte Bertrand die Gewerkschaften zu Verhandlungen eingeladen. Der Brief wurde von allen Rednern auf der Versammlung zurückgewiesen, weil er nichts über die Rücknahme der drei Säulen der Reform beinhaltet.

Ein Arbeiter wollte wissen, was das Angebot von CGT-Führer Bernard Thibault an die Regierung bedeuten solle: "Was sollen dreiseitige Verhandlungen [zwischen dem Management der Staatsunternehmen, den Gewerkschaften und Vertretern der Regierung] helfen? Sie bieten absolut keine Garantien."

Die wichtigste Entscheidung aber war, die Resolution nicht nur an Eisenbahner in ganz Frankreich zu schicken, sondern auch an die Führer der Eisenbahnergewerkschaften, die sich am Donnerstagnachmittag um 16 Uhr 30 trafen, um über ihre Reaktion auf Bertrands Einladung zu beraten.

In der Resolution heißt es: "Wir lehnen die Anhebung der Beitragsjahre von 37,5 auf 40 Jahre, die Bestrafung durch Abzüge und die Bindung der Renten an die Preise statt an die Löhne ab."

Die Resolution verlangt, dass die Gewerkschaftsführung kein Abkommen mit der Regierung schließt, ohne die Zustimmung der Basis einzuholen: "Wir fordern, vor jeder Entscheidung konsultiert zu werden, die unsere Zukunft betrifft, und in jedem Stadium über den Inhalt der Gespräche auf dem Laufenden gehalten zu werden. Wir erklären, dass wir kategorisch gegen betriebliche Verhandlungen sind."

Mehrere Redner in der Debatte wiesen darauf hin, dass Bertrands Brief Verhandlungen in den verschiedenen Unternehmen über den Zeitraum eines Monats vorschlug, offensichtlich in der Hoffnung, den Streik solange hinauszuziehen, bis sich die Bewegung tot läuft.

Nazima kritisierte die Führung der CGT für ihre Bereitschaft, betriebliche Verhandlungen zu führen, obwohl "die Regierung in den zentralen Fragen keinerlei Zugeständnis gemacht hat. Einen Monat dauernde Verhandlungen bedeuten einen Monat für nichts zu streiken." Sie stellte fest, dass es "eine Kluft zwischen den Gewerkschaften und der Basis gibt, die kämpfen und die Reform zum Scheitern bringen will."

Ein Arbeiter ohne Gewerkschaftsabzeichen sagte: "Ich dachte, die Gewerkschaften würden etwas Größeres organisieren. Die gestrige Demonstration wurde erst in letzter Minute organisiert. Wir befinden uns an einem entscheidenden Wendepunkt. Sarkozy spielt mit den Gewerkschaften und befiehlt uns, an die Arbeit zurückzukehren. Wir müssen klar machen, dass die Massenversammlungen entscheiden. Wir müssen eine kollektive Organisation schaffen. Wir müssen die Öffentlichkeit gewinnen, erklären, dass wir mit ihnen gegen die steigenden Lebenshaltungskosten kämpfen und dass wir nicht privilegiert sind."

Er sprach sich gegen die Blockade der Hochgeschwindigkeitszüge, der TGV’s aus, und warnte davor, denen in die Hände zu spielen, die die Eisenbahner als Khmer Rouge verleumden wollten.

Andere Arbeiter wiesen auf die Dringlichkeit von Streikposten hin, um eine Rückkehr zur Arbeit und ein Fahren der Züge zu verhindern und die Bewegung zu verbreitern. Ein Schalterbeamter sagte, sie hätten schon um 6 Uhr in der Frühe Streikposten aufgestellt, um die Schalter geschlossen zu halten.

Die WSWS sprach vor der Versammlung mit Nazima. Sie ist Vertrauensfrau der Lokführer von der CGT. Sie sagte: "Wir wollen die Kontrolle über die Bewegung haben. Gestern waren 70 Prozent der Lokführer im Streik und heute ist es das Gleiche. Jetzt wollen wir die größtmögliche Gemeinsamkeit erreichen und die Vereinzelung der Bewegung überwinden. Wir lehnen ab, uns verarmen zu lassen. Wir wollen keine Verhandlungen hinter unserem Rücken.

Ich habe nichts dagegen, die Führung der CGT zu respektieren, aber sie müssen auch uns respektieren. Wir sind keine Ansammlung von Nullen. Sie sollen nicht versuchen, uns mit diesen betrieblichen Verhandlungen für dumm zu verkaufen. Wir haben kein Interesse daran, Sarkozy bei der Durchsetzung der Reform zu unterstützen. Heute sind die Studenten, die RATP, die EDF-GDF im Kampf - wir dürfen nicht zulassen, uns zu spalten oder die Bewegung auseinander zu dividieren.

Wir werden nicht aufgeben, bevor wir unser Ziel erreicht haben. [CGT-Führer] Bernard Thibault hat gesagt, wir würden nicht zu den Bedingungen der Regierung verhandeln. Ich hoffe, er hat seine Meinung nicht geändert. Wenn er eine solche Möglichkeit diskutiert, dann darf das nicht auf der Grundlage sein, die 40 Jahre, die Abschläge und den ganzen Rest zu akzeptieren. Das ist unakzeptabel. Davon muss er sich total distanzieren."

René-Claude arbeitet bei den Vorortzügen und ist seit 1980 bei der SNCF beschäftigt und in keiner Gewerkschaft. Er sagte: "Am meisten bin ich gegen die Décote -Strafen [die Abzüge]. Die Gewerkschaften scheinen nicht zu verstehen, welche Stimmung an der Basis herrscht. Man bekommt den Eindruck, dass die Gewerkschaften tun, was sie wollen, und die Basis in der Luft hängen lassen. Das ist für die Betroffenen ziemlich enttäuschend. Es ist nicht akzeptabel, dass sie nicht auf uns hören."

Siehe auch:
Streik bei Verkehrsbetrieben bringt Frankreich zum Stillstand
(20. Oktober 2007)
Frankreich: Trotz Streikerfolg bereiten Gewerkschaften Ausverkauf vor
(15. November 2007)
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