Australischer Außenminister tritt während Washington-Besuch zurück

Nach dem plötzlichen, unvorhergesehenen Rücktritt von Außenminister Kevin Rudd am Dienstag in Washington forderte die australische Premierministerin Julia Gillard eine Abstimmung über die Parteiführung der Labor Party für nächsten Montag. Vor dem Kampf um die Parteiführung hatte es schon lange heimliche Rivalitäten zwischen den Fraktionen von Gillard und Rudd gegeben.

Seit Wochen spekulieren die australischen Medien, ob Rudd versuchen werde, Gillard zu verdrängen, die ihn im Juni 2010 in einem innerparteilichen Putsch stürzte. Letztes Wochenende erklärte der Hinterbänkler Darren Cheeseman öffentlich, Gillard könne die Partei nicht voranbringen und solle zu Gunsten von Rudd zurücktreten. Damit brach der offene politische Kampf aus.

Im Verlauf des Wochenendes wurde ein Video von Rudd als Premierminister veröffentlicht; darin war er schlecht gelaunt und fluchte bei der Aufzeichnung einer Rede. Auf das Video reagierte Rudd in einem Interview mit Sky News-Reporter David Speers. Er erklärte, er sei jetzt ein anderer Mann. Er habe gelernt mehr zu delegieren, worüber er „ziemlich zufrieden“ sei.

Daraufhin verstärkten Gillards Anhänger ihre Angriffe auf Rudd. Sie behaupteten, er habe die Loyalität verletzt, die derzeitige Regierung untergraben und selbst eine unfähige Regierung geführt. Kabinettsminister Simon Crean hatte auf dem Radiosender ABC bereits erklärt, Rudd habe sich „parteiintern eindeutig unloyal“ verhalten. Diese und andere Anschuldigungen wiederholte er im Verlauf des Tages in drei weiteren Interviews.

Rudd war am Montag zum Treffen der G20-Außenminister in Mexiko aufgebrochen, wo er sich nebenher mit US-Außenministerin Hillary Clinton traf. Dann ging es gestern weiter nach Washington, wo er sich bei einem privaten Abendessen mit US-Verteidigungsminister Leon Panette und der australischen Botschafterin Kim Beazley traf, um verschiedene Themen zu diskutieren, darunter angeblich auch „Sicherheit im Raum Südostasien“. Nach keinem dieser Treffen gab es Stellungnahmen für die Presse.

Stunden später, mitten in der Nacht, kündigte Rudd auf einer außerordentlichen Pressekonferenz in seinem Hotel in Washington seinen Rücktritt an. Er erklärte, er habe keine andere Wahl, weil er nicht mehr das Vertrauen von Gillard und anderen wichtigen Ministern genieße. In der Pose eines beleidigten Opfers erklärte Rudd: „Crean und eine Reihe von Gesichtslosen haben öffentlich meine Integrität angegriffen. (…) Premierministerin Gillard hat sich dazu entschlossen, sie nicht zurechtzuweisen.“

Rudd unternahm keinen Versuch, direkt mit der Premierministerin zu reden; offenbar wollte sie ihn nach seiner Rückkehr entlassen. Durch seine Präventivhandlung versuchte Rudd, die Initiative in dem heftigen inneren Streit in der Partei zu ergreifen, der vor der Abstimmung am kommenden Montag tobt. Am Morgen erklärte Gillard auf einer Pressekonferenz, sie rechne mit ihrem Sieg. Sollte sie verlieren, so versprach sie, werde sie sich zu den Hinterbänklern setzen und nie wieder nach der Führung streben. Von Rudd forderte sie dieselbe Zusage.

Die Medienberichterstattung über den Kampf um die Parteiführung konzentriert sich auf die üblen Manöver innerhalb der Partei; die Positionierung auf der jeweiligen Seite und die Auswirkungen auf die höchst instabile Mehrheit von Labor, die von der Unterstützung der Grünen und unabhängigen Kandidaten abhängig ist. Der Kampf wird als persönliche Rangelei zwischen Gillard und Rudd dargestellt, als gäbe es keine tiefer liegenden Unterschiede zwischen ihnen.

Das ist jedoch nicht wahr. Der Kampf um die Parteiführung resultiert aus dem grundlegenden Dilemma, mit dem die herrschende Klasse Australiens sich seit zwanzig Jahren auseinandersetzen muss: Es geht um die strategische Balance zwischen der wirtschaftlichen Abhängigkeit von China als größtem Handelspartner einerseits, und andererseits dem langjährigen strategischen Bündnis mit den USA. Gleichzeitig nimmt die Rivalität zwischen diesen beiden Großmächten ständig zu.

Nachdem Rudd 2007 an die Macht gekommen war, versuchte er, die Spannungen zwischen China und den USA abzumildern: Er wollte ein regionales Forum einrichten, um mögliche Konflikte zu entschärfen. Mit dieser Perspektive geriet er in Konflikt mit der Obama-Regierung, die seit Mitte 2009 eine diplomatische und strategische Offensive fährt, um Chinas wachsenden Einfluss in der Region zu untergraben. Da Rudd in Washington sehr unbeliebt war, spielte das Weiße Haus eine wichtige Rolle in dem Putsch im Juni 2010.

Gillard wurde von einer Handvoll Labor Party- und Gewerkschaftsfunktionäre mit engen Beziehungen zu Washington hinter dem Rücken des Kabinetts, der Partei, und der Bevölkerung eingesetzt. Sie versprach sofort bedingungslose Unterstützung für das Bündnis mit den USA und die unbegrenzte Stationierung von Truppen in Afghanistan. Während Obamas Besuch in Australien im letzten November kündigte Gillard an, dass in der nordaustralischen Stadt Darwin bis zu 2500 US-Marines stationiert würden und das US-Militär Zugang zu australischen Marine- und Luftwaffenstützpunkten erhalten werde. Das bedeutet, dass Australien die USA bei ihren Bemühungen unterstützt, wichtige Seefahrtsrouten zu kontrollieren, die China mit Treibstoff und Rohstoffen aus Afrika und dem Nahen Osten versorgen.

Als Außenminister unter Gillard versuchte Rudd, gegenüber Washington seinen Nutzen unter Beweis zu stellen. Er unterstützte die Militärintervention der Nato gegen Libyen und das aggressive Vorgehen gegen Syrien und den Iran. Aber in der wichtigen Frage zu China hält er an seinem Plan einer „Pax Pacifica“ fest, mit der eskalierende Konflikte zwischen den USA und China geregelt werden sollen. Für Rudd ist es wichtig, dass die USA China einen gewissen Freiraum in der Region lassen, was jedoch nicht mit Washingtons Zielen übereinstimmt.

In seiner Rücktrittsrede erklärte Rudd gestern stolz, er habe in Asien „eine neue Institution“ errichtet – eine Anspielung auf den Ostasiengipfel – „die die Vereinigten Staaten, China, Japan, Indien, Australien und die anderen Länder der Region an einem Tisch zusammenbringt, damit sie eine friedliche und sichere Zukunft für Australien aushandeln können.“ Tatsächlich benutzte Obama den Ostasiengipfel in Bali im letzten November, um Washingtons Konfrontation mit China zu verschärfen und gegen den Willen der Pekinger Regierung eine Diskussion über territoriale Ansprüche im strategisch wichtigen Südchinesischen Meer anzufachen.

Rudd hätte am Donnerstag eine Rede über seine „Pax Pacifica“ bei der Stiftung Carnegie Endowment for International Peace halten sollen. Sein Büro versprach, die Rede zu veröffentlichen. Aber Rudds Position zur Pax Pacifica wurde bereits in vielen Reden erörtert, so auch bei der Münchner Sicherheitskonferenz am 4. Februar. Dort beharrte er darauf, dass die USA Chinas „legitime Ansprüche“ akzeptieren müssten. „Das Land wurde mehr als ein Jahrhundert lang von imperialistischen Mächten wie den in diesem Raum Versammelten erniedrigt“, sagte er dort.

Es ist nicht klar, worüber Rudd mit Clinton und Panetta diskutiert hat, aber vermutlich suchte er nach Anzeichen dafür, dass die Obama-Regierung seinen neuen Versuch, Premierminister zu werden, unterstützen würde. Allerdings hat er scheinbar keine solche Garantie bekommen. Das deutlichste Zeichen dafür, dass Washington sich gegen Rudd stellt, ist die Unterstützung, die Gillard noch immer von den „Gesichtslosen“ bekommt – den wichtigen Wortführern der Fraktionen, die sie an die Macht gebracht haben. Seit 2010 haben Telegramme, die Wikileaks veröffentlicht hat, einige dieser Personen als „geschützte Ressourcen“ der USA identifiziert. Peter van Oelsen, Redakteur beim Australian, schrieb am Donnerstagmorgen: „Bill Shorten, Mark Arbib, David Feeney und Don Farrell bilden eine Prätorianergarde um die Premierministerin.“

Im Jahr 2010 war die Hauptanschuldigung von Gillards Anhängern gegen Rudd, er habe Labor so unbeliebt gemacht, dass die Partei die Wahl voraussichtlich verlieren werde. Jetzt liegt Rudd in den Umfragen vor Gillard. Sie kann den Putschgestank und die Beschuldigung, sie sei Rudd in den Rücken gefallen, bis heute nicht abschütteln. Millionen von einfachen Bürgern halten es zu Recht für zutiefst undemokratisch, dass ein gewählter Premierminister quasi über Nacht gestürzt wurde. Die Umfragewerte von Labor sind auf einen Tiefstand von etwa dreißig Prozent abgestürzt, doch jene, die Gillard damals unterstützt haben, halten ihr weiterhin die Stange, was beweist, dass viel mehr auf dem Spiel stand als die Umfragewerte.

Abgesehen vom Konflikt zwischen den USA und China stehen innere Probleme auf dem Spiel. Der Sturz von Rudd ging mit Forderungen des Finanzkapitals an die Labor-Regierung einher, ihren Sparkurs und ihre Wirtschaftsreformen zu verstärken, um die Wettbewerbsfähigkeit des australischen Kapitalismus‘ zu sichern. Beide Seiten versuchen, der Wirtschaftselite zu zeigen, dass sie diese reaktionäre Agenda besser umsetzen können. Rudd muss zwar noch seine Kandidatur ankündigen, aber er hat die Zusammenarbeit mit der Industrie zum Hauptthema erklärt. Gillard bezeichnete sich trotz ihrer Unbeliebtheit als jene, die am besten Marktreformen durchsetzen kann.

Genau wie im Jahr 2010 versuchen die Medien, die arbeitende Bevölkerung über die politischen Fragen im Dunkeln zu lassen. Vor allem tun sie alles in ihrer Macht Stehende, um eine Debatte über die Auswirkungen zu verhindern, die für Australien entstehen, wenn es in einem Krieg zwischen China und den USA zwischen die Fronten gerät.

 

Loading