ISO schweigt zu Obamas Todesliste

Vor mehr als zwei Wochen, am 29. Mai, veröffentlichte die New York Times einen außergewöhnlichen Artikel, der im Detail belegte, dass Präsident Barack Obama an der Erteilung von Mordaufträgen mittels Drohnen gegen Personen in aller Welt aktiv beteiligt ist. Obama leitet der Times zufolge ein wöchentliches Treffen von Militär- und Geheimdienstmitarbeitern, bei denen er die „Todesliste“ überprüft und die Zielpersonen auswählt, unter denen sich auch amerikanische Staatsbürger befinden können. Eine gerichtliche Überprüfung findet nicht statt. (Siehe: „Die Rolle Obamas bei der Planung der Drohnenanschläge“, WSWS, 7. Juni 2012)

Tausende Menschen in Ländern wie Afghanistan, Pakistan, dem Jemen und Somalia sind auf diese Weise eliminiert worden. Allein in der Zeit seit Erscheinen des Times-Artikels sind schon wieder Dutzende Menschen durch Drohnenangriffe umgekommen. Bei einem Angriff am 6. Juni wurden achtzehn afghanische Zivilisten, darunter sieben Kinder getötet.

Die Regierung etabliert eine globale Tötungsmaschinerie, die sich schließlich auch auf die Vereinigten Staaten erstrecken wird. Vergangene Woche postete ABC News einen Kommentar des Leiters des Zentrums für Demokratie und Technologie, der vor einem vermehrten Einsatz von Drohnen im amerikanischen Luftraum warnte. Sie könnten eingesetzt werden, um politische Proteste zu überwachen, und könnten Waffen abfeuern.

Die Times brachte ihren Bericht über die globale Mordkampagne unter Leitung des Weißen Hauses offenbar in Übereinstimmung mit der Regierung, um Obamas Wiederwahlchancen zu erhöhen. Der Oberbefehlshaber soll im „Krieg gegen den Terror“ als unbeugsam erscheinen. Nichtsdestoweniger könnte und müsste diese grauenerregende Enthüllung in einem möglichen künftigen Kriegsverbrecherprozess gegen Obama als Beweismittel verwandt werden. Der Bericht ist ein Beweis dafür, wie weit der Verfall der amerikanischen Demokratie und die Vorbereitungen auf einen Polizeistaat schon fortgeschritten sind.

Aber SocialistWorker.org, die Website der International Socialist Organisation (ISO) in den USA, hat seit Erscheinen dieses Berichts bisher keinen einzigen Artikel zu dem Thema gebracht. Wie kann man dieses Schweigen erklären?

Wenn die ISO Obamas Todesliste offenkundig ignoriert, dann zeigt das die politischen Prioritäten dieser Partei und der gesellschaftlichen Schichten, die sie vertritt. Die ISO gehört zu jenen Organisationen, die zwar über Sozialismus reden, aber in Wirklichkeit für privilegierte Schichten der oberen Mittelklasse sprechen. Sie setzen eine betrügerische „linke Miene“ auf, sind aber von einer Identitätspolitik geprägt, die nichts mit dem Marxismus und der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse zu tun hat.

Diese Organisation kümmert sich in erster Linie um ihre Beziehungen zu diversen Fraktionen des Gewerkschaftsapparats und der Demokratischen Partei. Das zeigt sich an den Themen, über welche sie schreiben, und am Inhalt dieser Artikel.

In den vergangenen zwei Wochen schrieb die ISO mehrere Artikel zur Lehrergewerkschaft in Chicago (wo einer ihrer Mitglieder Vizepräsident ist); über die Beziehung von Afroamerikanern zur Kommunistischen Partei; über die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen (das Thema missbrauchen die Demokraten zynisch für ihren Wahlkampf); sowie über Obama und die Rechte von Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen (LGBT). Außerdem griffen sie die Wahl zur Abberufung von Gouverneur Walker in Wisconsin auf, wobei es jedoch fast eine Woche brauchte, bis sie über das Debakel für die Demokraten schrieben, deren Kandidaten die ISO unterstützt hatte.

Das ist aber nicht alles: Die “Todesliste” trägt dazu bei, die Rolle der ISO und ihrer Führungspolitiker als Steigbügelhalter der Demokratischen Partei und des Gewerkschaftsapparats zu untergraben, denn sie entlarvt den kriminellen Charakter der Obama-Regierung. Die ISO hat die Wahl Obamas 2008 als ein “neues Zeitalter” der amerikanischen Politik gefeiert, und sie versucht, diese Fiktion im Wahlkampf 2012 wieder aufzuwärmen, obwohl breite Teile der Bevölkerung zutiefst von Obama enttäuscht sind.

Eine Durchsicht der ISO-Website ergibt auch, dass sie nicht einen einzigen Artikel über die Rede von Justizminister Eric Holder vom März gebracht hat, in der er eine pseudo-juristische Rechtfertigung für Obamas Befehle zur Ermordung amerikanischer Staatsbürger mittels Drohnen lieferte. Eines der Opfer war der angebliche al-Qaida-Führer Anwar al-Awlaki.

Holder argumentierte: “Die Verfassung garantiert ein angemessenes Verfahren (due process), nicht aber einen juristischen Prozess (judicial process)“. Mit dieser Begründung erklärte er, der Präsident habe das Recht, die Exekution eines amerikanischen Staatsbürgers lediglich auf der Grundlage der internen Beratungen der Exekutive anzuordnen.

Holders Ausführungen haben weitreichende Konsequenzen. Sie sind eine pseudo-verfassungsmäßige Rechtfertigung für eine Präsidialdiktatur. Wenn ein Bürger lediglich auf Grundlage der Anweisung des Präsidenten getötet werden darf, dann kann dies alle demokratischen Rechte außer Kraft setzen. Der Präsident kann tun und lassen, was er will.

Die World Socialist Web Site schrieb damals: “ Man sollte meinen, dass eine solch dramatische und außergewöhnliche Rede über das Recht der US-Regierung, ihre eigenen Bürger zu töten, zum Brennpunkt politischer Diskussionen und zum Gegenstand hitziger Debatten werden würde. Tatsächlich aber haben die Medien und das politische Establishment die Rede praktisch ignoriert.“ (Siehe: „Der Zusammenbruch der amerikanischen Demokratie“, WSWS 13. März 2012).

Die Medien und das politische Establishment verschleiern seit langem die tiefe Unterhöhlung der Demokratie in den Vereinigten Staaten. Unter Bush hat sie begonnen, und unter Obama wird sie noch ausgeweitet. Die ISO beteiligt sich als „linker“ Flügel dieses politischen Establishments an dieser allgemeinen Verschwörung.

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