NSA-Spähaffäre weitet sich aus

Zum Wochenanfang dominiert die Spähaffäre um den US-Geheimdienst NSA (National Security Agency) die europäischen Medien und die Politik in Berlin. Der Spiegel erschien am Montag mit der Schlagzeile „Das Spionagenetz.“ Unter der Überschrift: „Der unheimliche Freund“ warnt das Nachrichtenmagazin davor, dass den deutsch-amerikanischen Beziehungen eine Eiszeit drohe.

Die Welt erklärte US-Präsident Obama stecke „in seiner gefährlichsten Krise“, und die Neue Züricher Zeitung berichtet, der deutsche Zorn auf spionierende US-Agenten und die amerikanische Regierung sei gewaltig. Die Hoffnungen auf Obama und die zu Beginn seiner Amtszeit vorherrschende „Obamamia-Euphorie“ beginne sich ins Gegenteil zu verwandeln.

Vertreter der Regierung und aller Bundestagsparteien äußerten sich in Presseerklärungen und Regierungsstatements empört und entrüstet. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte schon Ende vergangener Woche den US-Geheimdienst NSA scharf kritisiert. „Das Ausspähen von Freunden geht gar nicht“, sagte Merkel vor dem EU-Gipfel in Brüssel und fügte hinzu: „Wir brauchen Vertrauen unter Verbündeten und Partnern. Und solches Vertrauen muss jetzt wieder neu wiederhergestellt werden.“

Trotz verbaler Kritik und den Forderungen nach Erklärung, Entschuldigung und Konsequenzen in Richtung Washington ist die Bundesregierung um Schadensbegrenzung bemüht.

Am Montagnachmittag wurde bekannt gegeben, dass der Bundestag zu einer Sondersitzung zusammenkommen werde, um über den Lauschangriff auf die Kanzlerin und die US-Spionage im Berliner Regierungsviertel zu diskutieren. Allerdings werde diese Sitzung erst in drei Wochen, am 18. November stattfinden. Darüber haben sich Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) und sein SPD-Kollege Frank-Walter Steinmeier verständigt, teilte ein Sprecher der Unionsfraktion mit.

Grüne und Linke begrüßten die Entscheidung und erneuerten ihre Forderung nach einem Bundestags-Untersuchungsausschuss zu den Spionagevorwürfen. Diese Forderung könnte in der Sitzung zur Abstimmung gestellt und offiziell beschlossen werden. Kauder hatte am Sonntagabend im ZDF erklärt, CDU/CSU würden sich einem Untersuchungsausschuss des Bundestags nicht in den Weg stellen. „Wenn die zwei kleinen Oppositionsparteien den Untersuchungsausschuss wollen, lassen wir das zu“, sagte er. Einen Tag zuvor hatte er die Forderung noch strikt abgelehnt.

Die Unionsparteien und die SPD, die gegenwärtig Koalitionsverhandlungen zur Vorbereitung einer gemeinsamen Regierung führen, sind offenbar zur Schlussfolgerung gelangt, dass die politische Krise derart tief ist und so weitreichende Auswirkungen hat, dass eine enge Zusammenarbeit aller Parteien wichtig ist.

Die drei Wochen bis zur geplanten parlamentarischen Sondersitzung sollen genutzt werden, um die Krise nach Möglichkeit zu entschärfen. Die Bundeskanzlerin nutzt jede Gelegenheit, um der Obama-Administration zu signalisieren, dass sie über die „Erschütterung des transatlantischen Verhältnisses“ sehr besorgt ist und sich für eine Fortsetzung und Stärkung der Zusammenarbeit einsetzt. Während sie ihre Empörung über die NSA-Abhöraktion wiederholt und Konsequenzen fordert, bremst sie gleichzeitig jede Maßnahme aus, die Öl ins Feuer gießen könnte.

So ließ sie parallel zur Ankündigung der Bundestagssitzung mitteilen, dass sie die Verhandlungen über ein transatlantisches Freihandelsabkommen mit den USA nicht aussetzen werde. Das deutsche Interesse an einem Freihandelsabkommen sei ungebrochen, erkläre Regierungssprecher Steffen Seibert. Er reagierte damit auf Forderungen von Teilen der SPD, Grünen und Linken, aber auch aus der CSU, die Verhandlungen auszusetzen, bis die Vorwürfe gegen den US-Geheimdienst geklärt seien.

Doch Merkels Beschwichtigungsversuche können nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein tiefgreifender Bruch in den internationalen Beziehungen stattgefunden hat, dessen weitreichende Auswirkungen erst nach und nach sichtbar werden.

Der Spiegel-Bericht macht deutlich, dass möglicherweise mit dem Neubau der US-Botschaft am Brandenburger Tor, nur wenige hundert Meter vom Kanzleramt entfernt, vor einigen Jahren ein systematisches Ausspionieren des Berliner Regierungsviertel begann. Recherchen legen nahe, dass ein Abhörzentrum auf dem Dach der US-Botschaft betrieben wird. Infrarot-Aufnahmen liefern diesem Bericht zur Folge Hinweise auf ein regelrechtes Spionagenest.

Gestützt auf Geheimdienstberichte von Edward Snowden schreibt Der Spiegel: „Wie aus internen Dokumenten der NSA hervorgeht, operiert in Berlin eine Eliteeinheit namens 'Special Collection Service' (SCS), in der die US-Geheimdienste CIA und NSA zusammenarbeiten. Diese Einheit könnte bei der möglichen Überwachung des Handys von Kanzlerin Angela Merkel eine zentrale Rolle gespielt haben. Die Einheit kann Mikro- und Millimeterwellen, Mobilfunk und W-Lan-Netze abfangen, sowie Zielpersonen orten.“

Die Spiegel-Redaktion hat unter anderem den britischen Enthüllungsjournalisten Duncan Campbell die Berliner US-Botschaft begutachten lassen. Er verweist auf fensterartige Einbuchtungen auf dem Dach des Gebäudes, deren „dielektrisches Material“ selbst für schwache Signale durchlässig und in der Optik des umliegenden Mauerwerks verblendet sei. Campbell kommt zu dem Schluss, dass sich hinter der Sichtblende die Abhörtechnik befinde.

Gestützt auf die Snowden-Enthüllungen heißt es in mehreren Medienberichten, die systematische Überwachung von führenden deutschen Regierungsvertretern habe im Jahr 2002 begonnen, als sich die rot-grüne Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) gegen eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg ausgesprochen habe. Im weiteren Verlauf sei die Überwachung systematisch ausgedehnt worden. Neben der deutschen Regierung habe die NSA mehr als 30 weitere internationale Spitzenpolitiker abgehört.

Die Überwachung beschränkte sich nicht nur auf Politiker. Wie am Wochenende bekannt wurde, hat der US-Geheimdienst im vergangenen Dezember 60 Millionen Telefonate in Spanien ausspioniert. Spanischen Medien zufolge hatte die NSA Informationen über Telefonnummern, Aufenthaltsorte und Anrufdauer, in manchen Fällen auch den Inhalt der Gespräche gespeichert. Der US-Botschafter in Spanien wurde am Montag ins Außenministerium in Madrid bestellt, um ihm den Protest der spanischen Regierung zu übermitteln und eine Erklärung zu fordern.

Während Kanzlerin Merkel versucht zu beschwichtigen und die Bedeutung der transatlantischen Zusammenarbeit betont, wird mit jeder neuen Enthüllung über das Ausmaß der Bespitzelung der wahre Charakter der US-Regierung sichtbar, die sich über alle demokratischen Rechte hinwegsetzt und mit offen kriminellen Methoden arbeitet.

In einem Kommentar zum Spiegel-Bericht wirft Jakob Augstein der Kanzlerin Realitätsverweigerung vor. Sie sei völlig in der Vergangenheit gefangen und begreife nicht, dass eine irreversible Veränderung stattgefunden habe: „Die bittere Wahrheit ist: Die digitale Allmacht hat den Amerikanern den Kopf verdreht. Ist das Land in seinem jetzigen Zustand überhaupt bündnisfähig?“ Er zitiert die New York Times: „Das Wort 'Verbündeter' klingt langsam wie ein Begriff aus dem 20. Jahrhundert, der seinen Sinn verloren hat.“

Durch ihren Kontrollwahn habe die USA sich in einen totalitärern Staat verwandelt, „in dem Sinne, dass ihr Anspruch auf Sicherheit absolut und allumfassend ist - und dabei etwas Selbstzerstörerisches bekommt.“ Kein denkbarer Nutzen könne den Schaden aufwiegen, den diese Spitzelei jetzt schon angerichtet habe.

Augstein greift Merkel an, weil sie nicht offensiv genug gegen die US-Regierung auftritt und bezeichnet sie als „Washingtons Hausmeisterin“ in Europa. „Die Frau aus dem Osten“ sei immer noch stolz darauf, „dass der US-Präsident ihr seine Freiheitsmedaille überreichte“ und reagiere wie eine enttäuschte Geliebte. Doch die Schlussfolgerung die Augstein zieht, führen in völlig reaktionäre Richtung. Deutschland befinde sich in „einem neuen Kalten Krieg“ und müsse sich wappnen. Wörtlich schreibt er: „Die Nachrichtendienste und die digitale Gefahrenabwehr müssen gestärkt werden.“

In dieselbe Richtung, nur mit stärkerer Aggressivität und in seiner bekannt vulgären Art, argumentiert Josef Joffe. Der Mitherausgeber der Zeit und Fellow des Hoover Instituts an der Stanford University in den USA attackiert die europäischen Regierungen und fordert in der Financial Times Europa solle aufhören über die amerikanischen Abhöraktionen zu heulen.

Gegenseitige Überwachung und Spionage seien so alt wie die Menschheit. Man antworte darauf nicht mit Gejammer und grollendem Schmollmund sondern mit Gegenspionage. Joffe endet mit den Worten: „Berlin hat noch einen langen Weg vor sich um seine fabelhafte Abwehr im Zweiten Weltkrieg wiederzubeleben.“

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