Am Montagabend kamen mehr als 60 Studierende und Arbeiter an der Humboldt-Universität in Berlin zusammen, um über die Relativierung der Naziverbrechen an der Hochschule zu diskutieren. Die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) hatten im Rahmen ihrer Wahlkampagne für das Studierendenparlament zu der Veranstaltung geladen.
Der Sprecher und Kandidat der IYSSE an der Humboldt-Universität, Sven Wurm, ging in seiner Einleitung auf die Erfahrungen ein, die die Studentengruppe in den letzten Monaten gemacht hat. Nachdem sie begonnen habe, der Verharmlosung der historischen Verbrechen des deutschen Imperialismus entgegenzutreten, habe sie scharfe Angriffe von der Uni-Leitung, dem Institut für Geschichtswissenschaft und Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erlebt.
Zugleich habe sie eine enorme Resonanz in der Studierendenschaft und unter jungen Arbeitern erhalten. An einer zentralen Veranstaltung gegen den Krieg im Oktober letzten Jahres hätten sich an der Humboldt-Universität rund 200 Menschen beteiligt. „Diese Erfahrungen zeigen, wie wichtig unsere Kampagne ist und wie wichtig es ist, die IYSSE aufzubauen. Wir sind die einzige Jugendorganisation, die dem Krieg auf einer sozialistischen Grundlage entgegentritt“, so Wurm.
Als Referent war Christoph Vandreier, Mitglied der Redaktion der WSWS und Sprecher der IYSSE in Deutschland, geladen. Vandreier stellte in seinem Beitrag die Relativierung der Naziverbrechen in ihren historischen und politischen Kontext und zeigte auf, wie sie mit der Rückkehr des deutschen Militarismus zusammenhängt.
Er begann damit zu beschreiben, wie eine Aufarbeitung der Naziverbrechen in der Nachkriegszeit systematisch behindert wurde, weil führende Nazis nach wie vor wichtige Posten in Staat, Wissenschaft und Wirtschaft besetzt hätten. Erst mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung in den 60er Jahren und der beginnenden Jugendbewegung sei es zu einer breiteren Diskussion über den Nationalsozialismus gekommen.
Die Auschwitz-Prozesse, der Eichmann-Prozess sowie zahlreiche Veröffentlichungen und Studien hätten dazu geführt, dass die alten Nazi-Mythen eines angeblichen Verteidigungskriegs gegen die Sowjetunion oder der Behauptung, dass sich deutsche Verbrechen qualitativ nicht von Kriegsverbrechen anderer beteiligter Staaten unterschieden hätten, nicht mehr aufrecht erhalten werden konnten.
Der Faschismus, erklärte Vandreier gestützt auf die Arbeiten Leo Trotzkis, sei von der herrschenden Elite eingesetzt worden, um die Ziele des deutschen Imperialismus nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg erneut durchzusetzen. Um das zu erreichen, mussten die mächtigen Arbeiterorganisationen zerschlagen werden. In diesem Programm habe letztlich auch Hitlers Antisemitismus gewurzelt.
Die rechten Wissenschaftler seien in den 80er Jahren wieder in die Offensive gegangen. Ermutigt durch die von Bundeskanzler Helmut Kohl ausgerufene „geistig-moralische Wende“ hätten sie 1985 eine Reihe von Artikeln veröffentlicht, in denen sie eine Revision des Verständnisses des Dritten Reichs und die „Normalisierung“ des deutschen Vergangenheitsbezugs gefordert hätten.
Insbesondere der Historiker Ernst Nolte habe versucht, den Holocaust als verständliche Reaktion auf die „Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution“ darzustellen. Die Nationalsozialisten, so Nolte, vollbrachten „eine 'asiatische' Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer 'asiatischen' Tat betrachteten“.
In seinem Beitrag zeigte Vandreier auf, dass Noltes Artikel unter Historikern und Akademikern einen Sturm der Entrüstung auslöste. „In zahlreichen Artikeln wurde nachgewiesen, dass Noltes Behauptung jeder historischen Grundlage entbehren“, sagte er. „Nach diesen Auseinandersetzungen galten Noltes Positionen als diskreditiert.“
Nun werde versucht, Nolte zu rehabilitieren. Nolte selbst dürfe in wichtigen Zeitungen wieder publizieren. Etliche Journalisten und Professoren wiederholten seine Thesen und versuchten, den Holocaust von seinen Wurzeln im deutschen Imperialismus zu lösen. Eine herausragende Rolle spiele dabei Jörg Baberowski, der den Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte an der HU innehat.
Baberowski hatte schon im Februar im Spiegel erklärt „Nolte wurde Unrecht getan. Er hatte historisch recht“, und hinzugefügt: „Hitler war kein Psychopath, er war nicht grausam. Er wollte nicht, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird.“
„Bei diesen Aussagen handelt es sich nicht um einen Lapsus“, sagte Vandreier. „Baberowski arbeitet seit seinem Studium in Göttingen daran, Nolte zu rehabilitieren.“ Durch seine Arbeiten zum Stalinismus und zur Oktoberrevolution versuche er, den deutschen Faschismus als Reaktion auf die stalinistische Gewalt darzustellen.
Gestützt auf seine naive wie unwissenschaftliche Gewalt-Theorie, nach der Gewalt ursachen- und grundlos sei, und eine irrationalistische Geschichtskonzeption, stelle Baberowski die Oktoberrevolution als bloßen und brutalen Ausbruch der Gewalt dar, erklärt Vandreier. Der Stalinismus sei für ihn die direkte Folge dieser Eruption.
„Baberowskis Schilderungen der Bolschewiki und der sowjetischen Gesellschaft lassen barbarische Horden vor dem geistigen Auge erscheinen, die nur darauf warteten, das zivilisierte Europa zu überrennen“, sagte Vandreier. „Auf diese Weise impliziert er, dass das Deutsche Reich sich habe verteidigen müssen.“
In seiner Monographie „Verbrannte Erde“ gehe Baberowski so weit, zu unterstellen, dass die Sowjetunion einen Krieg gegen Deutschland geplant habe: „Im Krieg waren Stalin und seine Gefolgsleute ganz bei sich, nichts hätte dem Diktator mehr gefallen, als Kriege zu führen, die er auch gewinnen konnte“, zitiert Vandreier Baberowski.
Der Vernichtungskrieg der Nazis und die industrielle Vernichtung der Juden stelle Baberowski als eine Eskalationsstufe der Ostfront dar, die nichts mit der nationalsozialistischen Ideologie oder dem deutschen Imperialismus zu tun gehabt habe. In „Verbrannte Erde“ schreibt Baberowski:
„In jedem Krieg ist solch ein Zustand [wie er an der Ostfront herrschte] Grund genug, um dem Gegner Widerstand zu leisten und Grausamkeiten zu begehen. Mit Hinweis auf ideologische Überzeugungen ist solches Verhalten überhaupt nicht erklärbar. Hitlers Soldaten führten keinen Weltanschauungskrieg, sie führten vielmehr einen Krieg, dessen Dynamik sie nicht mehr entkamen. [...] Hitler war schlecht beraten, Krieg gegen ein Regime zu führen, dem die Massengewalt zur zweiten Natur geworden war und dessen Soldaten mit dieser Gewalt umzugehen verstanden. Gegen eine solche Macht konnte die Wehrmacht auf Dauer nicht Sieger bleiben.“ (S. 403)
Vandreier zitiert noch einen weiteren Text von Baberowski aus dem Jahr 2007, in dem dieser schreibt: „Stalin und seine Generäle zwangen der Wehrmacht einen Krieg neuen Typs auf, der die Zivilbevölkerung nicht mehr verschonte.“ Mehrfach stelle Baberowski auch Vergleiche an, in denen er Stalins Diktatur als brutaler beschreibe als den Nationalsozialismus. „So gesehen holten Hitler und seine Helfer nach, was Stalin und seine Gefolgsleute in der Sowjetunion bereits vollbracht hatten“, zitiert ihn Vandreier.
An dem Abend bringt Vandreier noch viele weitere Zitate, die dem Publikum das Blut in den Adern gefrieren ließen. Nach dieser Darstellung bestand bei den Zuhörern kein Zweifel mehr, dass die Positionen, die Baberowski heute formuliert, sehr viel weiter gehen, als die revisionistischen Thesen Noltes aus den 80er Jahren.
Vandreier erklärte, dass es in Fachzeitschriften zwar scharfe Kritik an Baberowski gebe und auch der revisionistische Charakter seines Werkes aufgezeigt werde, dass aber eine öffentliche Debatte darüber ausbleibe.
„Dass es heute keinen Protest gegen Baberowskis Thesen gibt, hängt nicht mit der Qualität seiner Argumente zusammen“, erklärt Vandreier, „sondern mit dem Bankrott der ehemaligen Kritiker. In den letzten 30 Jahren hat ein substantieller Rechtsruck in Teilen des ehemals linken akademischen Milieus stattgefunden.“
Dieser Prozess sei nicht nur auf die Universität beschränkt, stellt Vandreier fest. „Wenn heute wieder tausende Rechtsextreme durch Dresden marschieren, ist das das Produkt einer systematischen Kampagne“, sagt er. „Vom Linkspartei-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow bis hin zu Innenminsiter De Maizière erklärten zahlreiche Politiker die Sorgen für berechtigt oder boten den Demonstranten Gespräche an.“
Der Grund für diese Entwicklung sei die wachsende soziale Polarisierung und vor allem die Rückkehr des deutschen Militarismus. „Die Militarisierung Deutschlands erfordert die Mobilisierung der Rückständigsten Elemente der Gesellschaft. In den Medien, der Wissenschaft und auf der Straße“, sagt Vandreier.
Diesen Zusammenhang bringe niemand so klar auf den Punkt wie Jörg Baberowski. Im Oktober habe er auf einer Podiumsdiskussion des Deutschen Historischen Museums die Konsequenz seiner Rehabilitation Hitlers verdeutlicht. In betont legerer Haltung habe er zunächst erklärt, wie wichtig es sei, dass „Deutschland Verantwortung übernimmt, vor allem in solchen Konflikten, die es selbst betreffen.“
Um die Terroristen zu besiegen, habe Baberowski schließlich nichts weniger als die Methoden des Vernichtungskriegs vorgeschlagen. Wörtlich sagte er: „Und wenn man nicht bereit ist, Geiseln zu nehmen, Dörfer niederzubrennen und Menschen aufzuhängen und Furcht und Schrecken zu verbreiten, wie es die Terroristen tun, wenn man dazu nicht bereit ist, wird man eine solche Auseinandersetzung nicht gewinnen, dann soll man die Finger davon lassen.“
Dabei sei der Rechtsruck der Akademie für die IYSSE kein Grund für Pessimismus, erklärte Vandreier. Die Aggressivität der Kriegsbefürworter zeige ja gerade, wie groß die Opposition in der Bevölkerung sei, auf die sich die IYSSE stütze.
„Und wenn die FAZ, der Institutsleiter und die Unileitung uns dabei angreifen und wenn von den Professoren niemand bereit ist, Baberowski zu kritisieren, dann macht das nur klar, dass eine sozialistische Perspektive notwendig ist, um gegen Krieg und die ideologische Kriegsvorbereitung anzukämpfen.Deshalb ist unser Wahlkampf so wichtig und deshalb ist es wichtig, die IYSSE aufzubauen“, schloss Vandreier seinen Beitrag.
Auf den Vortrag folgte eine lebhafte Diskussion, die auch nach dem offiziellen Ende in informeller Runde lange fortgesetzt wurde. Viele Teilnehmer äußerten ihr Erstaunen über die öffentlichen Äußerungen von Prof. Baberowski, von denen sie zuvor noch nichts wussten.
Arnd, Student der Geschichtswissenschaften im 3. Semester an der HU, war zum ersten Mal auf einer Veranstaltung der IYSSE. Er war begeistert, vom prinzipiellen Auftreten gegen den Krieg. Er erklärte, dass er bei den anstehenden Wahlen zum Studentenparlament der IYSSE seine Stimme geben werde, weil diese als einzige Gruppe „prinzipell“ auftrete. Durch den Vortrag sei er angeregt worden, Trotzkis Schriften über Deutschland zu lesen.
Kathrin und Silvan, Medizinstudenten der Humboldt-Universität, hatten durch ein Team an der Universitätsklinik Charité von dem Vortrag erfahren. Kathrin nahm an diesem Tag mehrere Informationsflyer mit, die sie dann in der Fachschaftsinitiative Medizin verteilte. Daraufhin kamen drei weitere Studierende der Medizin zur Veranstaltung.
Silvan äußerte sich beeindruckt von der IYSEE-Veranstaltung. Er habe ein Jahr in Bolivien verbracht und die politische Entwicklung in Deutschland nicht verfolgt. Doch der Vortrag habe „Fragen aufgebracht, die man sich heute stellen muss - beispielsweise eine andere Sicht auf die Ukraine, die der offiziellen widerspricht, die aber Sinn macht.“
Kathrin ist beunruhigt über die offene Propaganda für militärische Einsätze und das massive Auftreten von Rechten bei den Pegida-Demonstrationen. Sie hat an einer Gegendemonstration gegen Pegida teilgenommen und „beschlossen, mich wieder mehr mit Politik und Geschichte zu beschäftigen. Wie man an meiner Teilnahme heute sieht, habe ich auch bereits eine Grundentscheidung getroffen.“
Interessiert zeigte sie sich auch am Thema der Veranstaltung am kommenden Montag, das u.a. die Rolle der Universität im Nationalsozialismus untersucht. Sehr viele Akademiker der medizinischen Fakultät und der Charité hätten sich an den Nazi-Verbrechen beteiligt, betonte sie.