Perspektive

Selma und das Vermächtnis der Bürgerrechtsbewegung der USA

Am letzten Wochenende erinnerte der amerikanische Präsident Barack Obama bei einer Gedenkfeier an den 50. Jahrestag des „Blutsonntags“. Am 7. März 1965 wurden Hunderte demonstrierende Bürgerrechtler von der Polizei angegriffen und verprügelt, als sie über die Edmund-Pettus-Brücke von Selma, Alabama marschierten. Sie waren auf dem Weg in die Hauptstadt des US-Bundestaats Montgomery und forderten das Wahlrecht.

Die Gedenkrede Obamas war eine vom Staat organisierte politische Farce, um einem korrupten Apparat Legitimität zu verleihen. Er bediente sich dabei missbräuchlich der großen Opfer, die die Bürgerrechtler erbracht hatten. Viele Tausend gewöhnliche Leute nahmen an der Zeremonie teil, aber an ihrer Spitze standen Repräsentanten der Unternehmens- und Finanzelite, darunter auch 100 Kongressabgeordnete beider Parteien und George W. Bush, der zum Ende seiner Amtszeit der meistverachtete Präsident in der Geschichte der USA war.

Die Veranstaltung verfolgte das Ziel, die wirkliche Bedeutung von Selma und der Bürgerrechtsbewegung insgesamt ebenso zu verbergen wie die Entwicklung, die die amerikanische Politik seither in den letzten fünf Jahrzehnten genommen hat.

Die Unterdrückung der Demonstranten am „Blutsonntag“ war nur eine Episode im gewaltsamen Vorgehen der Polizei gegen die Protestbewegung, die sich gegen die Rassentrennung im amerikanischen Süden richtete. Die schwarze Bevölkerung der Südstaaten war einer Fülle von diskriminierenden Maßnahmen ausgesetzt, darunter auch die Wahlsteuer, die sie im Grunde ihrer Bürgerrechte beraubte.

Die Bürgerrechtsbewegung trat speziell für die Aufhebung der Rassentrennung ein, doch sie war Bestandteil einer ganzen Welle gesellschaftlicher Konflikte in den 1960er und 70er Jahren in den Vereinigten Staaten. Diese Auseinandersetzungen fanden nur wenige Jahrzehnte nach den explosiven Kämpfen der 30er Jahre statt, aus denen die Industriegewerkschaften hervorgegangen waren. Ihnen folgten Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre mächtige Streikbewegungen der Arbeiter sowie die Rebellionen gegen Diskriminierung und Armut in den Städten und die Massendemonstrationen gegen den Vietnamkrieg.

Der amerikanische Kapitalismus befand sich in einer tiefen Krise. Die Bürgerrechtsbewegung erhielt ihre starke Dynamik durch die großen sozialen Kämpfe der Arbeiterklasse. Die Arbeitermassen und die Jugendlichen, Schwarze und Weiße, die am Kampf für die Bürgerrechte teilnahmen, verstanden sie als Teil einer breiten sozialen Bewegung, die gegen den erbitterten Widerstand der herrschenden Klasse und ihrer politischen Vertreter kämpfte.

Der Kampf gestaltete sich schwierig, vor allem weil ihm die in der AFL-CIO organisierten Gewerkschaften, die mit der Demokratischen Partei und dem amerikanischen Imperialismus verbündet waren, ihre Unterstützung verweigerten. Die Demokraten, die sich damals auf eine Allianz von Liberalen in den Nordstaaten und Rassisten im Süden stützten, untergruben lange alle Versuche, die gesetzlich verankerte Rassentrennung zu beenden. Die Gewerkschaften vermieden alle Aktionen, die, wie die Bestrebungen, schwarze Arbeiter im Süden in den Gewerkschaften zu organisieren, ihr politisches Bündnis mit den Demokraten hätten gefährden können.

Doch konfrontiert mit den sozialen Unruhen brachte die herrschende Klasse damals, wenn auch widerwillig, Reformen auf den Weg, darunter den Civil Rights Act von 1964 und den Voting Rights Act von 1965, die Präsident Lyndon B. Johnson fünf Monate nach den Ereignissen in Selma unterzeichnete. Auch eine Reihe bedeutender Sozialreformen wie Medicare und andere Hilfsprogramme für Arme wurden in dieser Zeit verabschiedet.

Diese der herrschenden Klasse in den 60er Jahren abgerungenen Reformen waren jedoch der letzte Atemzug des liberalen Reformismus in den Vereinigten Staaten. Die herrschende Klasse reagierte auf die sich verschärfende Krise des kapitalistischen Systems mit einer Doppelstrategie. Sie begann in den 70er Jahren mit anhaltenden Angriffen auf die Arbeiterklasse und eskalierte sie in den 80ern. Arbeitsplätze wurden vernichtet, der Lebensstandard gesenkt und öffentliche Dienstleistungen abgebaut.

Um diese Offensive besser durchführen zu können, arbeitete die herrschende Klasse gezielt daran, eine kleine Minderheit der afroamerikanischen Bevölkerung in privilegierte Stellungen und Machtpositionen zu bringen. Insbesondere nach der Ermordung von Martin Luther King jr., der zwar der Demokratischen Partei nahestand, aber begonnen hatte, sein Augenmerk zunehmend auf die Fragen der sozialen Ungleichheit und des Kriegs zu lenken, wurde ein Teil der führenden Bürgerrechtler in Positionen im Staatsapparat gebracht. Dazu gehörten Andrew Young, Jesse Jackson und John Lewis, der zu den Führern des Marsches in Selma gehört hatte und heute Kongressabgeordneter ist.

Während seines Wahlkampfs rief Richard Nixon dazu auf, einem Teil der afroamerikanischen Bevölkerung „ein Stück vom Kuchen“ abzugeben. Als Präsident initiierte er ein Programm für „schwarzen Kapitalismus“. Er unterzeichnete im März 1969 ein Dekret zur Bildung des Office of Minority Business Enterprise, um zu zeigen, dass „schwarze, mexikanische und andere Amerikaner auf der Grundlage von Chancengleichheit an der Spitze und auch weiter unten am Wirtschaftswachstum teilhaben können.“

Positive Diskriminierung (affirmative action), wie sie Richard Nixon propagierte und die Demokratische Partei später zu einem Eckpunkt ihres Programms erhob, war darauf ausgerichtet in der Wirtschaft, im Militär, den Kommunen, der Polizei und in der Wissenschaft, die Entstehung einer privilegierten Schicht zu fördern, die sich mit dem amerikanischen Kapitalismus identifizieren und den Angriff auf die Arbeiterklasse als Ganze erleichtern sollte. Der schwarze Nationalismus wurde zum ideologischen Instrument, die Klassenherrschaft auf der Grundlage von Identitätspolitik neu zu strukturieren.

Was ist das Ergebnis dieser Politik? Zwar wurde das System der Rassentrennung beendet, aber die soziale Lage der Mehrheit der schwarzen Arbeiter ist heute noch schlimmer als vor 50 Jahren. Offiziellen Statistiken zufolge lebt ein Drittel aller Afroamerikaner in Armut und Hunger. Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung sind in den Nordstaaten ebenso oder gar noch stärker verbreitet als im Süden.

Diese Bedingungen sind kein Ausdruck von Rassismus, wie die Demokraten und ihre Anhängerschaft behaupten, wenn sie die soziale Krise überhaupt zur Kenntnis nehmen, sondern der Klassenunterdrückung.

Das zeigt sich gerade auch in Selma. Die Bevölkerung der Stadt hat in den letzten 50 Jahren drastisch abgenommen. Das mittlere Einkommen liegt bei 22.418 Dollar im Jahr. Das ist die Hälfte des ohnehin geringen Einkommens in Alabama insgesamt. Auch wenn man die von der Regierung geradezu beleidigend niedrig angesetzte Armutsrate nimmt, liegen in Selma noch 41,9 Prozent der Einwohner darunter.

Dabei sind sowohl Bürgermeister und Polizeichef Afroamerikaner, und in Stadtrat und Schulbehörde stellen Afroamerikaner die überwältigende Mehrheit.

Selma ist beileibe kein Einzelfall. Die Armutsrate der Stadt Detroit, die in den letzten Jahrzehnten rund zwei Drittel ihrer Bevölkerung verloren hat, ist sogar noch höher als in Selma. Das politische Establishment der Stadt bilden seit Jahrzehnten vor allem Afroamerikaner. Eine ähnliche Dynamik wiederholt sich in einer Stadt nach der anderen überall in den Vereinigten Staaten.

Obama, der erste afroamerikanische Präsident, stellt so etwas wie den Höhepunkt dieses Prozesses dar. Die Verlogenheit und Demagogie seiner Rede in Selma können die ungeheure Klassenspaltung zwischen seiner Regierung und den aufopferungsvollen Arbeitern und Jugendlichen, die damals den Kampf für die Bürgerrechte führten, nicht verbergen. Sie kämpften für Gleichheit. Er repräsentiert die Privilegierten.

In seinen Bemerkungen zitierte er die unsterblichen Worte der Unabhängigkeitserklärung: „Alle Menschen sind gleich“, doch unter seiner Regierung hat die Ungleichheit ein in der amerikanischen Geschichte nie da gewesenes Ausmaß erreicht.

Während Obama von der Notwendigkeit sprach, „den Mut einfacher Amerikaner zu ehren, Gummiknüppel, Gewehrkolben, Tränengas und das Trampeln der Hufe zu ertragen“, steht er selbst an der Spitze eines äußerst brutalen Apparats von Militär, Geheimdiensten und Polizei, der eine wahre Schreckensherrschaft gegen arbeitende junge Menschen aller Hautfarben ausübt.

Erst vor einer Woche gab die Regierung Obama bekannt, dass der Polizeibeamte, der im August letzten Jahres Michael Brown, einen unbewaffneten Jugendlichen in Ferguson, Missouri tötete, nicht angeklagt wird. Am Wochenende wurde erneut ein unbewaffneter junger Mann von der Polizei in Madison, Wisconsin kaltblütig erschossen.

In seiner Rede in Selma bezog sich Obama auf die äußerst geringe Beteiligung von nur einem Drittel oder weniger der Wahlberechtigten bei den jüngsten Wahlen. „Welche Entschuldigung haben wir heute dafür, nicht zu wählen?“ fragte er.

Er beantwortete die Frage nicht und war dazu wohl auch nicht in der Lage. Aber es gibt eine sehr gute „Entschuldigung“ dafür. Aufgrund bitterer Erfahrungen kommen Millionen von Arbeitern zu der Erkenntnis, dass zwischen den beiden Parteien des Großkapitals und auch seiner Politiker, gleich welcher Hautfarbe, kein Unterschied besteht.

Die größte Lüge Obamas, die die vielen liberalen und „linken“ Organisationen im Umfeld der Demokratischen Partei nachplappern, war wohl die, dass die von der Bürgerrechtsbewegung „nicht vollendete Aufgabe“ das Thema „Rasse“ betrifft.

Zur Zeit der Demonstrationen von Selma war systematischer, staatlich sanktionierter Rassismus ein wichtiger Faktor im politischen Leben Amerikas. Selbst damals aber war dieser der Klassenherrschaft untergeordnet und von ihr verursacht. Er wurde benutzt, um die Arbeiter zu spalten und einen gemeinsamen Kampf gegen das kapitalistische System zu verhindern.

In den explosiven Klassenkämpfen der damaligen Zeit gaben sich die Gewerkschaften, die Führer der Bürgerrechtsbewegung und die diversen Organisationen des Kleinbürgertuns große Mühe, die entscheidenden Klassenfragen zu verschleiern und die politische Vormachtstellung der herrschenden Klasse und ihrer politischen Repräsentanten aufrechtzuerhalten. Die grundlegende Frage damals war es, eine revolutionäre Führung zu schmieden, um die Arbeiterklasse gegen die eigentliche Ursache von Unterdrückung, Ungleichheit und Krieg, das kapitalistische System, zu vereinen.

Fünfzig Jahre später stellen sich diese grundlegenden Klassenfragen noch deutlicher. Der Rassismus, der immer noch existent ist und im amerikanischen Leben eine Rolle spielt, wird ergänzt durch staatlich sanktionierte Identitätspolitik, die einem ähnlichen Zweck dient. Sie soll die Arbeiter gegeneinander ausspielen und eine vereinte Bewegung der Arbeiterklasse verhindern. Jetzt, am Beginn einer neuen Periode des Aufschwungs von Arbeiterkämpfen, bleibt die dringendste Frage die der Führung. „Die unvollendete Aufgabe“ von Selma ist der Aufbau einer revolutionären Führung in der Arbeiterklasse, die für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft erforderlich ist.

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