Perspektive

Flüchtlingssterben im Mittelmeer: Keine Tragödie, sondern ein kapitalistisches Verbrechen

Der Tod hunderter Flüchtlinge im Mittelmeere ist keine Tragödie, sondern ein Verbrechen. Verantwortlich sind die Regierungen in Washington, Berlin, Athen, Rom und zahlreichen anderen europäischen Hauptstädten sowie die EU-Kommission in Brüssel.

Sie tragen in doppelter Hinsicht die Schuld für das tägliche Sterben. Mit der jahrzehntelangen imperialistische Unterjochung des Nahen Ostens und Afrikas sowie den Kriegen in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien haben sie Zustände geschaffen, unter denen Millionen Menschen lieber auf der Flucht ihr Leben riskieren, als unter ständiger Todesgefahr und bitterer Armut in ihrer Heimat zu leben. Und mit der Abschottung der europäischen Grenzen sowie der militärischen Überwachung des Mittelmeers zwingen sie Flüchtlinge auf immer riskantere Routen.

Das Massensterben wird dabei bewusst in Kauf genommen und benutzt, um Flüchtlinge abzuschrecken. Charles Heller, Mitautor einer Studie des Goldsmiths College (University of London) über die tödlichen Folgen der EU-Politik im Mittelmeer, wirft den Verantwortlichen deshalb „Totschlag durch Unterlassung“ vor.

Als die Europäische Union und die Türkei im letzten Monat ihren schmutzigen Flüchtlingsdeal besiegelten, erklärte der deutsche Innenminister Thomas de Maizière: „Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig.“ Mittlerweile haben die europäischen Medien offenbar beschlossen, ihrem Publikum die „harten Bilder“ zu ersparen.

Als am Montag bekannt wurde, dass bei einem einzigen Unfall erneut hunderte Menschen ertrunken sind, war dies den meisten Zeitungen und Nachrichtensendungen nicht einmal mehr einen Bericht wert. Lediglich in den Online-Ausgaben erschienen kurze Meldungen, die dann nach kurzer Zeit wieder verschwanden. Die Katastrophe sei offiziell nicht bestätigt worden, hieß es.

Tatsächlich deutet alles darauf hin, dass sie sich tatsächlich ereignet hat. Sowohl der italienische Präsident Sergio Mattarella wie der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatten berichtet, dass mehrere hundert Flüchtlinge aus Somalia, Äthiopien und Eritrea bei der Überfahrt von Ägypten nach Italien ertrunken seien. Der somalische Regierungssprecher Abdisalan Aato sagte, auf den verunglückten Booten seien rund 500 Migranten gewesen, darunter zahlreiche Somalier. Somalische Nutzer verbreiteten auf sozialen Netzwerken Passagierlisten mit den Namen der Opfer.

Der Rechtsexperte des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Beat Schuler, bestätigte dem Schweizer Fernsehen: „Wir wissen, dass es 40 Überlebende gibt und dass möglicherweise bis zu 460 Personen auf dem Boot von Ägypten losgefahren sind.“ Die BBC interviewte in der griechischen Küstenstadt Kalamata sogar Überlebende, die den genauen Hergang des Desasters schilderten und ebenfalls von fast 500 Opfern sprachen. Trotzdem herrschte in den Medien am Dienstag Schweigen.

Sollten sich die Zahlen bewahrheiten, ist die jüngste Havarie zwar eine der größten, aber doch nur eine von vielen ähnlichen Katastrophen. Nach Zählung der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die alle verfügbaren Zahlen über Flüchtlinge zusammenträgt, sind in den letzten zweieinhalb Jahren im Durchschnitt jeden Tag zehn Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken.

2014 starben laut IOM-Statistik 3279 Menschen beim Versuch, das Mittelmeer und die Ägäis zu überqueren. 2015 waren es 3770 und bis zum 13. April dieses Jahres – also noch vor der jüngste Katastrophe – 732. Eine hohe Dunkelziffer von Opfern, die in keinem Bericht und in keiner Meldung erwähnt werden, ist dabei nicht eingerechnet.

Das tägliche Sterben im Mittelmeer ist eine vernichtende Anklage gegen ein Gesellschaftssystem, das großen Teilen der Bevölkerung nichts mehr zu bieten hat außer wachsende soziale Ungleichheit, Unterdrückung und Krieg. Die Brutalität, mit der Flüchtlinge abgewiesen, ihrer Rechte beraubt, misshandelt und in den Tod getrieben werden, nimmt vorweg, was auch der Arbeiterklasse bevorsteht. Sie erinnert an die schlimmsten Zeiten der europäischen Geschichte.

Eine breite Front bürgerlicher Parteien, die von den Konservativen über die Grünen und die Sozialdemokraten bis hin zu den angeblichen Linken reicht, hetzt gegen Flüchtlinge und bereitet so den Nährboden für rechtsextreme und faschistische Organisationen. Die griechische Koalition der radikalen Linken (Syriza) spielt dabei eine besonders üble Rolle. Die Syriza-Regierung schiebt die Flüchtlinge im Auftrag der EU ab, auch wenn ihre Grundrechte dabei mit Füßen getreten und sie zu Gefängnis, Folter und Tod verurteilt werden.

Sind die imperialistischen Kriege der vergangenen fünfzehn Jahre die wichtigste Ursache für die Flucht von Millionen, so planen die USA und ihre europäischen Verbündeten nun unter dem Vorwand der „Bekämpfung der Fluchtursachen“ neue imperialistische Kriege. Die Vorbereitungen für ein militärisches Eingreifen in Libyen sind weit fortgeschritten, und auch in Syrien verschärfen die westlichen Mächte ihr Vorgehen gegen das Assad-Regime und seine russischen und iranischen Verbündeten.

Der Grund für diesen aggressiven Militarismus ist die tiefe Krise des Weltkapitalismus, die sich seit der Finanzkrise 2008 weiter verschärft hat. Wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts reagieren die herrschenden Eliten auf die unlösbaren ökonomischen, sozialen und politischen Widersprüche ihres Systems mit sozialen Angriffen auf die Arbeiterklasse, Unterdrückung, Diktatur und Krieg.

Die Unterstützung der Flüchtlinge, die Verteidigung von demokratischen und sozialen Rechten, der Widerstand gegen Krieg und der Kampf gegen den Kapitalismus fallen unter diesen Umständen untrennbar zusammen. Sie erfordern die Entwicklung einer politisch unabhängigen, revolutionären Bewegung der internationalen Arbeiterklasse und den Aufbau einer Partei, die für den Sturz des Kapitalismus und eine sozialistische Gesellschaft kämpft.

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