Die Entscheidung der britischen Wähler, die Europäische Union zu verlassen, hat die nationalen Spannungen in Europa deutlich verschärft.
Der Rückzug der zweitgrößten Volkswirtschaft aus dem Verbund von 28 Staaten erhöht das ökonomische Gewicht Deutschlands innerhalb der EU. Nach dem Austritt Großbritanniens steigt der deutsche Anteil am Bruttoinlandsprodukt der Union von etwas mehr als einem Fünftel auf fast ein Viertel.
Diese statistischen Daten widerspiegeln allerdings das deutsche Übergewicht nur unzureichend. Insbesondere seit der Finanzkrise von 2008 strebt Deutschland eine politische und ökonomische Vormachtstellung in Europa an. Sowohl die Spardiktate für Griechenland, Portugal und Spanien als auch die Pläne für den Ausbau der EU zu einer politischen und militärischen Weltmacht tragen die Handschrift Berlins.
So ist das Papier „Globale Strategie für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik“, das die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini am Mittwoch auf dem EU-Gipfel vorstellte, in enger Abstimmung mit dem deutschen Verteidigungsministerium entstanden. Das Buch „Macht in der Mitte“ des Berliner Politwissenschaftlers Herfried Münkler, das dafür plädiert, dass Deutschland in Europa die Rolle des „Hegemons“ und „Zuchtmeisters“ übernimmt, ist in deutschen Parteien und Medien auf breite Zustimmung gestoßen.
Entsprechend fiel auch die deutsche Reaktion auf den Brexit aus. Vor der Abstimmung hatte es unter den deutschen Eliten kaum Unterstützung für einen Austritt Großbritanniens gegeben. Zum einen fürchtete man, ein Sieg der Brexit-Gegner werde in ganz Europa Kräfte stärken, die sich dem deutschen Hegemonieanspruch von einem rechten, nationalistischen Standpunkt widersetzen. Zum anderen galt Großbritannien als wichtiger Wirtschaftspartner und als zuverlässiger Verbündeter, wenn es darum ging, in Brüssel strikte Haushaltsdisziplin und einen neoliberalen Wirtschaftskurs durchzusetzen.
Doch nach der Abstimmung änderte sich die deutsche Haltung schlagartig. Nun drängt Berlin auf einen möglichst schnellen Austritt, lehnt jedes Zugeständnis an London ab und erteilt allen Spekulationen, das Abstimmungsergebnis lasse sich wieder rückgängig machen, eine Absage.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen die Furcht, lange hinausgezögerte Austrittsverhandlungen und Zugeständnisse an Großbritannien könnten die zentrifugalen Kräfte in der EU weiter stärken. So warnt der Spiegel, der zuvor heftig gegen den Brexit angeschrieben hatte, das britische Beispiel werde Schule machen, wenn sich die EU gegenüber London zu nachsichtig verhalte.
Vor allem aber nimmt Berlin den Austritt als Chance wahr, auf Gebieten vorzupreschen, auf denen London bisher als Bremse wirkte. Das gilt insbesondere für eine von den USA unabhängigere Außen- und Kriegspolitik. Die britische Regierung hat sich deutschen Bemühungen stets widersetzt, den USA – wie etwa im Irakkrieg 2003 – außenpolitisch entgegenzutreten oder parallel zur Nato eine europäische Armee aufzubauen.
Kaum war der Entscheid für den Brexit bekannt, lud Außenminister Frank-Walter Steinmeier Vertreter der sechs EU-Gründerstaaten nach Berlin ein, um das weitere Vorgehen abzusprechen. Bundeskanzlerin Angela Merkel traf sich mit Präsident François Hollande, um die deutsch-französische Achse zu stärken. Auch der italienische Regierungschef Matteo Renzi, der unter dem nationalistischen Druck der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega Nord steht, wurde zu dem Treffen geladen, um einem Abdriften Italiens vorzubeugen.
Unter den „neuen Impulsen“, auf die sich die drei Regierungschefs einigten, um Europa zusammenzuhalten, steht an erster Stelle die „innere und äußere Sicherheit“ – d.h. die Aufrüstung des Staatsapparats gegen innere Unruhen und des Militärs für neue Kriegseinsätze.
Was darunter zu verstehen ist, zeigt das gemeinsame Papier „Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt“, in dem die Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault, ihre Schlussfolgerungen aus dem Brexit zusammenfassen.
Das Papier definiert die Europäische Union als „eine Sicherheitsunion“, die eine „gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik anstrebt“, und gelobt: „Deutschland und Frankreich werden sich für ein Europa stark machen, das auf internationaler Ebene einheitlicher und selbstbewusster auftritt.“ Die EU soll, so das Papier wörtlich, „Schritt für Schritt zu einem unabhängigen und globalen Akteur“ entwickelt werden.
Als Regionen, in denen „Europa“ politisch und militärisch eingreift, nennen Steinmeier und Ayrault unter anderem die Ukraine, den Mittleren Osten und Afrika. Es sollen zentralisierte EU-Institutionen geschaffen werden, um „zivile und militärische Operationen wirksamer zu planen und durchzuführen“.
Die Treffen in Berlin lösten in Osteuropa Panik aus. In Prag fand am Montag ein Gegentreffen der Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) statt. Der polnische Außenminister lud Vertreter von zehn EU-Mitgliedern – darunter Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Österreich, Spanien und Großbritannien – nach Warschau ein.
Vor allem die polnische Regierung lehnt das Ayrault-Steinmeier-Papier vehement ab. Statt eines „starken Europa“ schlägt sie eine Neufassung der EU-Verträge vor, die Kompetenzen an die Nationalstaaten zurückverlagert. Die ultranationalistische polnische Regierung sieht sich sowohl von Russland wie von Berlin bedroht und betrachtet die US-dominierte Nato als Garant für die polnische Unabhängigkeit.
Am Donnerstag erschien die regierungsnahe Zeitung Gazeta Polska mit der Schlagzeile: „Wird es das Vierte Reich geben?“ und einem Hakenkreuz auf der Titelseite. Der dazugehörige Artikel wirft Deutschland und Frankreich eine pro-russische Orientierung vor und erklärt: „Die politischen Ungeheuer sind mit dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus nicht ausgestorben – die totalitäre Vision eines Superstaats erhebt sich wider vor unseren Augen.“ Im Innern des Blatts warnt ein weiterer langer Artikel vor einem „Europa, das von Berlin beherrscht wird“.
Der ungarische Außenminister Peter Szijjarto geißelte die „Brüsseler Einwanderungspolitik“ und erklärte: „Die Europäer wollen selbst über ihr Leben und ihre Zukunft entscheiden und wollen nicht akzeptieren, dass die Entscheidungen über die Zukunft Europas irgendwo in Brüssel in privaten Kreisen und hinter verschlossenen Türen von Bürokraten getroffen werden.“
Auch in Frankreich melden sich Stimmen gegen eine deutsche Vorherrschaft in Europa zu Wort. Und das nicht nur aus dem rechtsextremen Front National, dessen Vorsitzende Marine Le Pen den Austritt Frankreichs aus der EU verlangt, sondern auch aus den Reihen der konservativen Republikaner und pseudolinker Nationalisten.
So erklärte Henri Guaino, ein enger Vertrauter von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, der Tageszeitung Le Figaro: „Wenn die Antwort auf den Brexit ein noch deutscheres Europa ist, dann fahren wir gegen die Wand.“ Sarkozy selbst und Ex-Premier François Fillon, ein möglicher Bewerber um das Präsidentenamt, treten für ein „Europa der Nationen“ ein – für eine Schwächung der EU zugunsten der Nationalstaaten.
Auch Ex-Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg, der in der Sozialistischen Partei als „Linker“ gilt, und der Führer der französischen Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon, lassen durch nationalistische und anti-deutsche Töne von sich hören.
Die europäischen Folgen des Brexit beginnen erst sichtbar zu werden. Auf der einen Seite gibt es die Bemühungen, Europa unter deutscher Vorherrschaft zu vereinen, die mit heftigen Angriffen auf die arbeitende Bevölkerung, Staatsaufrüstung und Militarismus einhergehen, auf der anderen Seite einen giftigen Nationalismus in ultrarechter und pseudolinker Form, der die Arbeiterklasse spaltet und Fremdenfeindlichkeit schürt.
Für die breite Masse der europäischen Bevölkerung bietet weder der eine noch der andere Weg eine Perspektive. Es erweist sich erneut, dass Europa unter kapitalistischen Voraussetzungen nicht vereint werden kann. Nur eine Bewegung von unten, die für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa kämpft, kann den Rückfall des Kontinents in die Schrecken des 20. Jahrhunderts, in Weltkrieg und Faschismus, verhindern.