Hintergründe des Anschlags in Berlin weiterhin ungeklärt

24 Stunden nach dem furchtbaren LKW-Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt ist immer noch völlig unklar, wer ihn aus welchen Motiven begangen hat. Fest steht nur, dass ein Lastwagen am Montagabend gezielt in eine Menschenmenge auf dem Breitscheidplatz vor der berühmten Gedächtniskirche fuhr. Zwölf Menschen starben, 48 wurden verletzt, 18 davon schwer.

Es handelt sich um ein schreckliches Verbrechen, das die rechtesten politischen Kräfte stärkt. Obwohl die Umstände der Tat weiterhin im Dunkeln sind, nutzten sie Politiker und Medien umgehend, um ein härteres Vorgehen gegen Flüchtlinge und eine stärkere Staatsaufrüstung zu verlangen.

Der saarländische Innenminister Klaus Bouillon (CDU) kündigte eine massive Aufrüstung der Polizeikräfte an, die er unter anderem mit Maschinenpistolen ausstatten will. Dem Saarländischen Rundfunk sagte er am Dienstag: „Wir müssen konstatieren, wir sind in einem Kriegszustand, obwohl das einige Leute, die immer nur das Gute sehen, nicht sehen möchten.“

Sein bayrischer Amtskollege Joachim Herrmann (CSU) stellte die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung in Frage. „Wir müssen uns jetzt mit der Frage beschäftigen, welche Risiken wir mit dieser großen Zahl von Flüchtlingen ins Land bekommen“, sagte Herrmann am Dienstag im Bayerischen Rundfunk.

Später kündigte Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) an, er werde am Mittwoch eine Sondersitzung des bayrischen Kabinetts einberufen, „um mögliche Schlussfolgerungen und Vorschläge für die Bundespolitik“ zu diskutieren. Man sei es den Angehörigen der Opfer schuldig, „dass wir unsere gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren“.

Der AfD-Vorsitzende in Nordrhein-Westfalen, Marcus Pretzell, forderte, der Staat müsse „zurückschlagen“. Auf Twitter erklärte er: „Es sind Merkels Tote!“ Die Bundesvorsitzende der Partei, Frauke Petry, sagte: „Das Milieu, in dem solche Taten gedeihen können, ist in den vergangenen anderthalb Jahren fahrlässig und systematisch importiert worden.“

Auch international wurde der Anschlag für rechte politische Zwecke benutzt. Der frühere Führer der rechtsextremen UK Independence Party, Nigel Farage, bezeichnete den Anschlag als „Merkels Vermächtnis“.

Der designierte US-Präsident Donald Trump behauptete, „islamistische Terroristen“ steckten hinter der Tat. „Regelmäßig schlachten der Islamische Staat und andere islamistische Terroristen Christen in ihren Gemeinden ab“, schrieb er in einer Twitter-Meldung. Die zivilisierte Welt müsse nun umdenken.

Unmittelbar nach dem Anschlag wurden Parallelen zum Terrorattentat in Nizza vom vergangenen Juli gezogen, wo ebenfalls ein Lastwagen in eine Menschenmenge gerast war. Der Anschlag am französischen Nationalfeiertag hatte 86 Menschen das Leben gekostet. Später wurde eingeräumt, dass es bisher keine gesicherten Informationen gebe, dass die Tat in Berlin ebenfalls ein Terroranschlag sei.

Dann wurde die Verhaftung des vermutlichen Täters bekannt gegeben. Es handle sich um Navid B., einen 23-jährigen Asylbewerber aus Pakistan, der auf der Flucht vom Tatort festgenommen worden sei. Er sei Ende vergangenen Jahres nach Deutschland eingereist und der Polizei wegen geringfügiger Delikte bekannt.

Inzwischen wurde Navid B. wieder freigelassen, weil der ermittelnde Bundesanwalt keinen dringenden Tatverdacht gegen ihn sieht. Am Tatort konnten keine Spuren von ihm gefunden werden, und anders als ursprünglich angenommen hatte ihn der Zeuge, dessen Hinweis zu seiner Verhaftung führte, nicht bis zum Verhaftungsort verfolgt. Er war vielmehr aufgrund einer Personenbeschreibung festgenommen worden.

Obwohl Generalbundesanwalt Peter Frank bereits auf einer Pressekonferenz am Dienstagnachmittag einräumen musste, dass sich der Verdacht gegen Navid B. nicht erhärtet hatte, sprach er erneut von einem Anschlag „mit terroristischem Hintergrund“. Dafür spreche die Ähnlichkeit mit dem Angriff von Nizza. Die Vorgehensweise des Täters lasse auch in Berlin einen islamistischen Hintergrund vermuten. Auf Nachfrage bestätigte er aber, dass es bisher kein Bekennervideo gebe, wie das bei anderen Anschlägen der Fall war.

Am Dienstagabend, mehr als 24 Stunden nach der Tat, meldeten dann die Nachrichtenagenturen, Amaq, die sogenannte Nachrichtenagentur des Islamischen Staates (IS), habe verkündet, dass einer ihrer „Soldaten“ den Anschlag in Berlin verübt habe. Die Erklärung beinhalte allerdings keine Insider-Informationen oder Angaben zum Täter, was nach Meinung von Experten eher darauf hindeutet, dass der Anschlag nicht von der IS-Führung im Irak und in Syrien koordiniert wurde.

Doch selbst wenn es sich herausstellen sollte, dass es sich um einen Terroranschlag mit islamistischem Hintergrund handelt – was beim gegenwärtigen Stand der Ermittlungen keineswegs sicher ist –, wäre es keine „unbegreifliche Tat“, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer kurzen Ansprache sagte. Ein Terroranschlag wäre das direkte Ergebnis der aggressiven Kriegspolitik der imperialistischen Mächte, an der sich auch Deutschland immer stärker beteiligt.

Seit zweieinhalb Jahrzehnten führen die USA und ihre europäischen Verbündeten praktisch ununterbrochen Krieg gegen die weitgehend wehrlose Bevölkerung in Afghanistan, dem Irak, Libyen, Syrien und dem Jemen. Davor gab es imperialistische Interventionen in Somalia, Bosnien, Serbien und einer Reihe anderer Länder. Diesen imperialistischen Kriegen sind Millionen Menschen zum Opfer gefallen, Dutzende Millionen wurden in die Flucht getrieben.

Diese Kriegsverbrechen haben einen fruchtbaren Boden für die Rekrutierung zu allem entschlossener Attentäter geschaffen. Zugleich wurden islamistische Terrorgruppen wie Al Kaida und auch die Vorgänger des IS von den USA und ihren regionalen Verbündeten, wie Saudi-Arabien, Katar und selbst der Türkei, aufgebaut, finanziert und ausgerüstet, bevor sie sich verselbständigten und sich gegen ihre einstigen imperialistischen Beschützer wandten. Bis heute gibt es Verbindungen zwischen den westlichen Geheimdiensten und islamistischen Milizen. In Syrien sind sie Bestandteil der vom Westen unterstützten Rebellen.

Gestern gedachten die Abgeordneten des französischen Parlaments in einer Schweigeminute der Opfer des Anschlags von Berlin. Der Präsident der Nationalversammlung, Claude Bartolone, erinnerte dabei an die Terroranschläge von Brüssel, Paris und Nizza und pries die Reaktion der Regierung von Präsident Hollande, die er als „unnachgiebigen Kampf gegen den Terror“ bezeichnete.

Doch wie hat die französische Regierung auf die Terroranschläge reagiert? Durch die massive Einschränkung demokratischer Rechte, einen nicht endenden Ausnahmezustand und eine aggressivere Kriegspolitik. Auch die Bundesregierung treibt die militärische Aufrüstung seit Jahren mit großer Energie und Dynamik voran und beteiligt sich immer häufiger an Kriegen. Aufgrund dieser neokolonialen Kriegspolitik steigt auch in Deutschland die Gefahr terroristischer Attentate.

Ungeachtet der Krokodilstränen und Beileidsbekundungen von Präsident Gauck, der Kanzlerin, dem Innen- und dem Außenminister sitzen die Verantwortlichen für die wachsende Anschlagsgefahr im Kanzleramt und im Bundestag, wo diese Kriegspolitik entworfen und beschlossen wird.

Bisher ist aber nicht erwiesen, dass es sich bei dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt tatsächlich um ein Terrorattentat mit islamistischem Hintergrund handelt.

Als im vergangenen Sommer ein 18-jährige Schüler im Münchner Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen erschoss und vier weitere schwer verletzte, wurde auch sofort von einem Terroranschlag mit islamistischem Hintergrund gesprochen und eine hysterische Stimmung gegen Ausländer geschürt. Gleichzeitig wurde über die bayerische Landeshauptstadt stundenlang ein Belagerungszustand verhängt. Später stellte sich heraus, dass es sich um den Amoklauf eines Jugendlichen handelte, der sich in rechtsextremen Kreisen radikalisiert hatte.

Auch der bisher schwerster Terrorakt der deutschen Nachkriegsgeschichte, das Oktoberfest-Attentat im Herbst 1980, als eine Rohrbombe 13 Menschen tötete und 211 verletzte, ging auf das Konto Rechtsradikaler und ist nie vollständig aufgeklärt worden.

Darüber hinaus sollte nicht vergessen werden, dass die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), der neun Migranten und eine Polizistin zum Opfer fielen, unter den Augen und in engem Kontakt mit dem Inland-Geheimdiensts stattfand. Der Verfassungsschutz hatte mehr als zwei Dutzend Agenten im Umfeld der Rechtsterroristen und war in vielfältiger Weise an den Aktivitäten des NSU beteiligt.

Mehreren parlamentarischen Untersuchungsausschüsse und einem jahrelangen Gerichtsverfahren gelang es nicht, die enge Verbindung von Rechtsterrorismus und Verfassungsschutz vollständig aufzudecken. Alle entsprechenden Initiativen wurden abgeschmettert. Es wurden Akten vernichtet, Mitarbeiter des Verfassungsschutzes erhielten keine Aussagegenehmigung, Zeugen kamen auf mysteriöse Weise ums Leben.

Klar ist bisher nur, dass der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt genutzt wird, um die innere Aufrüstung und die Stärkung der Geheimdienste und des Sicherheitsapparats weiter voranzutreiben.

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