Autonomie-Referendum in Norditalien

Morgen Sonntag, am 22. Oktober, wird in Venetien und in der Lombardei über ein Referendum der Lega Nord abgestimmt. Die Bürger sind aufgerufen, zuzustimmen, dass ihre jeweiligen Regionalpräsidenten Autonomie-Verhandlungen mit der Zentralregierung in Rom aufnehmen.

In beiden Regionen, die zu den wohlhabendsten ganz Italiens gehören, stellt die rechtsradikale Lega Nord den Präsidenten: In der Lombardei ist das Roberto Maroni und in Venetien Luca Zaia. Die Lega Nord verspricht der Wählerschaft, dass sie im Rahmen einer größeren Autonomie selbständig über die Steuereinnahmen verfügen könne und nicht alles an die Zentralregierung, diese „Roma ladrona“ (Rom, die Diebin), abgeben müsse.

Die angestrebte Autonomie soll sich auf 23 Bereiche beziehen, die stärker von den Regionen selbst kontrolliert werden sollen. Darunter sind die Bereiche Innere Sicherheit und Einwanderung, Forschung und Wissenschaft, Bildung, Umweltpolitik und – ganz wichtig: die Steuergelder und die Wirtschaftsbeziehungen zum Weltmarkt. Der Financial Times sagte Maroni: „Hätte ich nur die Hälfte der Steuern, die wir in den Süden schicken, für uns, dann könnte ich alle Probleme der Lombardei lösen.“

Mit Blick auf den Katalonien-Konflikt im Nachbarland Spanien bemühen sich alle Kommentatoren, die europäische und italienische Öffentlichkeit zu beschwichtigen: In Italien handle es sich keineswegs um eine Lostrennung der Regionen vom Zentralstaat, sondern um ein rein konsultatives Referendum, das nicht bindend sei und im Übrigen mit der Verfassung übereinstimme.

Dennoch hat der Ausgang der Volksabstimmung bedrohliche Implikationen, sowohl für Italien als auch für ganz Europa. Die Lega Nord versucht damit, kleinbürgerliche Schichten, die unter der Krise leiden, für das reaktionäre Programm einer regionalen Zersplitterung und letztlich für einen deutlichen Rechtsruck in Italien zu mobilisieren. Regionalpräsident Maroni, der unter Berlusconi mehrfach als Minister in Rom in der Regierung saß, betonte im Gespräch mit der New York Times: „Je mehr Menschen zur Wahl gehen, desto größer meine Verhandlungsvollmacht.“

Die Lega Nord hat sich unter ihrem Führer Matteo Salvini in den letzten vier Jahren aus einer regionalen zu einer nationalen Partei entwickelt. Ihr ursprüngliches Programm einer Lostrennung des reichen „Padaniens“ (Po-Region) vom italienischen Zentralstaat hat die Partei aufgegeben. Stattdessen verfolgt sie ein EU-feindliches, rechtsradikales und rassistisches Programm nach dem Beispiel des Front National von Marine Le Pen. Dies trifft inhaltlich immer noch zu, auch nachdem Salvini nach der Niederlage des Front National in der französischen Präsidentschaftswahl behauptet hat: „Wir sind keine Le Penisti“.

Salvini hofft auf einen Wahlsieg in der kommenden Parlamentswahl, die spätestens im Mai 2018 stattfinden muss. Dazu ist er zu vielen Zugeständnissen bereit. Schon für die Kommunalwahlen im vergangenen Juni hatte die Lega Nord ein Bündnis mit dem Ex-Ministerpräsidenten und Multimilliardär Silvio Berlusconi und mit der Neofaschistin Giorgia Meloni von den Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) geschlossen. So konnte die Partei vom Niedergang der sozialdemokratischen PD am stärksten profitieren.

Die Fratelli d’Italia fordern jedoch einen autoritären Zentralstaat. Sie haben als einzige das Referendum in der Lombardei und Venetien abgelehnt. Es sei eine „Beleidigung für das Vaterland“, so Meloni.

Aus Rücksicht darauf hat Matteo Salvini den regionalen Wahlkampf für das Referendum offensichtlich nur auf Sparflamme geführt. Das wurde deutlich, als die rechtsradikale „Südtiroler Freiheit“ den Abstimmungssieg vom 1. Oktober im katalanischen Referendum mit einer eigenen Demonstration am Brenner feierte und den Slogan verbreitete: „Heute Katalonien – morgen Südtirol.“ An solchen Kundgebungen hat sich die Lega Nord praktisch nicht beteiligt. Das Fernziel eines Regierungsantritts in Rom ist ihr wichtiger.

Neues Wahlgesetz „Rosatellum 2.0“

Für Salvinis Machtanspruch kommt das neueste Wahlrechtsgesetz gerade recht, das am 12. Oktober unter dem Namen „Rosatellum 2.0“ (nach dem PD-Fraktionsvorsitzenden Ettore Rosato) im Abgeordnetenhaus beschlossen worden ist. Es muss noch den Senat passieren und vom Staatspräsidenten Sergio Mattarella unterzeichnet werden. Seit dem Scheitern von Matteo Renzis Verfassungsreform im Referendum vom 4. Dezember 2016 hat Italien kein gültiges Wahlrecht.

Das Gesetz ist eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht und lässt ausdrücklich Listenverbindungen zu. Es sieht eine Sperrklausel von drei Prozent für einzelne Parteien und von zehn Prozent für Parteienbündnisse vor, wobei die Hürde für Parteien innerhalb eines Bündnisses nur bei einem Prozent liegen soll. Damit werden Allianzen entschieden begünstigt.

Das Gesetz trägt der Tatsache Rechnung, dass in Italien keine Partei mehr in der Lage ist, deutlich mehr als ein Viertel der Stimmberechtigten zu mobilisieren. Eine aktuelle Umfrage vom 16. Oktober weist die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) von Beppe Grillo als stärkste Partei aus: Sie würde mit 27,6 Prozent noch vor der Regierungspartei PD (26,3%) rangieren. Der rechten Allianz, die knapp 34 Prozent erreichen würde (Lega Nord 14,6%, Forza Italia 14,2% und Fratelli d’Italia 5%) ist das neue Gesetz wie auf den Leib geschneidert. Wären am Sonntag Parlamentswahlen, würde das rechte Bündnis sie gewinnen.

Die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) hätte das Nachsehen: Auch der Erfolg als stärkste Partei würde ihr nichts nützen. Der Mehrheitsbonus für die stärkste Partei, den eine frühere Fassung noch vorgesehen hatte, ist im jüngsten Gesetz abgeschafft worden. Deshalb hat die Fünf-Sterne-Bewegung gegen die Wahlrechtsreform entschieden protestiert und dagegen gestimmt, und jetzt fordert sie den Staatspräsidenten auf, es nicht zu unterzeichnen.

Niedergang der Demokraten

Der ungebremste Vormarsch der Rechten ist Ausdruck und Ergebnis des politischen Verfalls der Parteien, die nach dem Niedergang der Sowjetunion, aus der Kommunistischen Partei hervorgegangen sind. Das trifft vor allem auf die Demokraten (PD) zu, aber auch auf Rifondazione, die Regenbogenlinken, die Bündnisse um Nichi Vendola und viele Gewerkschaftsführer.

Sie haben in den letzten 25 Jahren immer wieder das nationale bürgerliche Lager der sogenannten „Linken Mitte“ unterstützt, das im Wechsel mit dem Gangsterkapitalisten Silvio Berlusconi an die Regierung kam und dort die Interessen der italienischen Banken und Konzerne wahrnahm – gegen die Arbeiterklasse.

Auch das neue Wahlgesetz ist ein Gradmesser dafür, wie wenig in Italien demokratische Verhältnisse herrschen. Eine Regierung, die gestützt darauf ins Amt gelangt, hat so gut wie keine demokratische Legitimation. Das neue Gesetz begünstigt zwar Allianzen, sie sind aber keineswegs bindend. Nach den Wahlen kann also die Partei, die an der Spitze der stärksten Listenverbindung den Sieg davonträgt, eine Koalition mit einer völlig andern Partei eingehen. Alles ist möglich, und der Wähler kann im Grunde kaum mehr auf die Regierungsbildung Einfluss nehmen.

Schon die letzten zwei Regierungschefs (Matteo Renzi und Paolo Gentiloni, beide PD) gelangten ohne Wahlen ins Amt. Sie verfolgten eine Politik im Interesse der Wirtschaft und der EU und traten die Bedürfnisse der Menschen mit Füßen. Sowohl Renzi wie Gentiloni unternahmen immer neue Angriffe gegen die Arbeiterrechte, zum Beispiel durch die Einführung des „Jobs Act“, Angriffe auf die Fiat-Arbeiter und – besonders aktuell – die Zerschlagung von Alitalia, wo gerade 6000 von 11.000 Arbeitsplätze gestrichen werden. Gleichzeitig schieben sie den maroden Banken immer neue Milliarden zu. Sie treiben die Kriegsvorbereitungen gegen Libyen voran, und Innenminister Marco Minniti (PD) setzt gemeinsam mit der EU-Kommissarin Federica Mogherini (ebenfalls PD) die menschenverachtende Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge im Mittelmeerraum durch.

Im Ergebnis gerät die Partei der Demokraten (PD) immer tiefer in die Krise. Besonders seit dem verlorenen Referendum vom 4. Dezember hat sie einen großen Teil ihrer Basis in den Gewerkschaften und Kommunen verloren. Im vergangenen Februar haben sich gleich mehrere Flügel von der Partei getrennt: Erst schloss sich eine Gruppe der PD der neuen Partei Nichi Vendolas („Italienische Linke“, Sinistra Italiana) an. Kurz darauf spaltete sich der PD-Flügel um Pier Luigi Bersani und Massimo D’Alema ab und gründete die Partei „Articolo 1 – Movimento Democratico e Progressista“ (MDP). Eine weitere Gruppe von Abtrünnigen hat sich vor kurzem dem Ex-Bürgermeister von Mailand, Giuliano Pisapia, angeschlossen. Fast alle prominenten Ex-Stalinisten haben die PD verlassen.

Die Enttäuschung mit den etablierten Parteien führte vor fünf Jahren zunächst zum Aufstieg der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S). Die Partei des Alleinunterhalters Beppe Grillo, der unermüdlich auf die „korrupten Politiker“ schimpfte, erlebte einen kometenhaften Aufstieg und konnte von der Unzufriedenheit profitieren. In Wirklichkeit versuchte sie von Anfang an, durch eine nationalistische Politik wütende Schichten des Kleinbürgertums gegen die ärmsten Arbeiterschichten und die Flüchtlinge aufzuhetzen. Inhaltlich teilt sie viele Positionen der Lega Nord. Sobald Grillos Partei Regierungsverantwortung übernehmen musste und in den Großstädten Rom und Turin die Bürgermeisterinnen stellte, wurde rasch klar, dass die Fünf-Sterne-Bewegung genauso korrupt ist wie alle andern Parteien.

Die Kluft zwischen der offiziellen Politik und der Bevölkerung wird immer tiefer. Das ist auch an den Zahlen über die Auswanderer abzulesen. Am 17. Oktober wurde ein Bericht veröffentlicht, dem zufolge über 124.000 Personen im letzten Jahr (2016) das Land verlassen haben, das ist eine Steigerung von über 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr 2015. Fast 40 Prozent der Auswanderer sind junge Menschen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren.

Die Entwicklung schafft ein enormes politisches Vakuum, während die soziale Unzufriedenheit steigt. Die Arbeiterklasse und die Jugend sind mit immer neuen Angriffen konfrontiert. Gleichzeitig vertreten alle Parteien – auch die Pseudolinken im Umfeld der Sinistra Italiana und in den Gewerkschaften – ein nationalistisches Programm, das die Herrschenden stärkt. Das Land gleicht mehr und mehr einem sozialen Pulverfass.

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