Lufthansa will nach Air Berlin auch Alitalia schlucken

Kurz vor Ablauf der Bieterfrist am 16. Oktober hat die italienische Regierung unter Paolo Gentiloni (PD) die Entscheidung über die Zukunft der Fluggesellschaft Alitalia um ein weiteres halbes Jahr, bis auf den 30. April 2016, verschoben. Derweil verfolgt sie aufmerksam den Ausgang der Zerlegung von Air Berlin in Deutschland.

Bei Air Berlin setzen Unternehmer, Politiker und Gewerkschaftsfunktionäre gerade viereinhalbtausend Mitarbeiter auf die Straße. Eine geplante Auffanggesellschaft scheiterte am 25. Oktober am Widerstand der Lufthansa. Offenbar wird an Air Berlin ein Exempel statuiert, das dazu dienen soll, die Errungenschaften der Beschäftigten im gesamten Luftverkehr Deutschlands und Europas massiv anzugreifen.

Alitalia-Piloten, Flugbegleiter und Bodenarbeiter müssen diesen konzentrierten Angriff auf die Beschäftigten von Air Berlin als ernste Bedrohung ihrer eigenen Lage verstehen.

Die Situation von Alitalia ist durchaus mit derjenigen von Air Berlin vergleichbar: Beide Fluggesellschaften haben im Zusammenhang mit der Börsenkrise 2008 massive Verluste erlitten. Beide erleben seither immer neue Kürzungen und Stellenstreichungen. Bei beiden Gesellschaften ist der Luftkonzern Etihad Airways aus den Vereinigten Arabischen Emiraten als Hauptinvestor eingestiegen. Und in beiden Fällen hat der Rückzug von Etihad vor wenigen Monaten zur Insolvenz geführt.

Zuletzt sind die Belegschaften beider Konzerne dem Pokerspiel eines Bieterverfahrens unter staatlicher Kontrolle ausgesetzt worden. Und in beiden Fällen ist Lufthansa der bisher größte Bieter.

Bei Air Berlin hat Lufthansa am 12. Oktober den Zuschlag für die Übernahme zweier Tochterunternehmen (Niki und LGW) erhalten. Sie hat einen großen Teil der Maschinen übernommen und profitiert von den Start- und Landerechten (Slots). Für Flugbegleiter und Piloten bedeutet das: Sie müssen sich bei der Lufthansa-Billigtochter Eurowings einzeln neu bewerben. Was die 4500 Bodenbeschäftigten, hauptsächlich des Handling-Bereichs und der Verwaltung, und das restliche Luftpersonal betrifft, so stehen sie vor dem völligen Aus.

Bei Alitalia hat die Lufthansa Group kurz vor Ablauf der geplanten Frist am 16. Oktober ein Angebot eingereicht: Sie bietet 500 Millionen Euro für Flugzeuge samt Crews und Slots, will allerdings die Bodendienste nicht übernehmen. Das bedeutet, Lufthansa würde die Arbeiter im Cargo-Bereich, in der Verwaltung und in der Technik komplett außen vor lassen. Das betrifft etwa 6000 unbefristet Beschäftigte und 1000, die einen befristeten Vertrag haben. Sie alle würden in der Luft hängen, ganz zu schweigen von den Belegschaften der Tochterbetriebe und Subunternehmen.

Neben Lufthansa bieten bei Alitalia noch Easyjet und fünf weitere Interessenten mit, wie die Zwangsverwalter mitteilen, ohne jedoch Namen zu nennen. Gerüchteweise wurde bekannt, dass sich auch die chinesische Airline Hainan interessiert, und zuletzt haben sich auch die amerikanischen Investmentfonds Cerberus Capital und Greybull Capital eingeschaltet. Sie alle sind lediglich an den profitablen Filetstücken interessiert.

Das größte Angebot stammt zweifellos von Lufthansa. Die staatlichen Treuhänder von Alitalia haben aber auf dieses Angebot bisher nicht offiziell reagiert. Stattdessen wurde die Bieterfrist, die am 16. Oktober ablaufen sollte, um ein halbes Jahr verlängert. Der Corriere della sera kommentiert, die Situation müsse den „Liquidatoren“ wohl so dramatisch erschienen sein, „dass sie den Abschluss der Prozedur bis nach den Wahlen verschoben haben“.

Die Regierung hat stattdessen zugestimmt, den Brückenkredit für den laufenden Betrieb – bisher über 600 Millionen Euro – um Jahresfrist, bis Ende September 2018, zu verlängern, und hat sogar einen weiteren Kredit über 300 Millionen Euro für Alitalia bewilligt. Damit ist der italienische Staat wieder mit fast einer Milliarde Euro beteiligt.

Wie der Corriere richtig feststellte, ist der Unterschied zu der deutschen Reaktion auf die Air-Berlin-Insolvenz wohl hauptsächlich politischer Natur.

In Italien wird im kommenden Frühjahr ein neues Parlament gewählt, aus dem eine neue Regierung hervorgehen wird. Und die Regierungspartei der Demokraten (PD) will ihren Wahlkampf keineswegs mit einem Ausverkauf der Alitalia mit tausenden Entlassungen und Angriffen auf die Crews belasten.

Gleichzeitig beobachtet sie gespannt, wie es den deutschen Politikern gelingt, den geplanten Rechtsruck und die Angriffe auf die Arbeiterklasse mittels einer neuen Regierung, sowie der Parteien und Gewerkschaften umzusetzen. Alle Parteien, die über eine sogenannte Jamaika-Koalition verhandeln, haben sich für einen Kurs der Steuergeschenke für die Reichen und der Austerität für die Arbeiter ausgesprochen. Auf europäischer Ebene wollen sie ein Kern-Europa schaffen, das im Handelskrieg – auch gegen die USA – die Interessen der deutschen und europäischen Bourgeoisie vertritt.

Was Air Berlin angeht, so ist ihre Zerschlagung weit über die betroffenen Konzerne hinaus von Bedeutung. Wenn es gelingt, den Air-Berlin-Arbeitern Bedingungen aufs Auge zu drücken, die die Bodenarbeiter in Billiglohnsklaven und die Crews in der Luft in eine über-ausgebeutete Verfügungsmasse verwandeln, dann wird dies in ganz Europa zum neuen Muster – auch für Alitalia und jede andere Fluggesellschaft.

Schon unmittelbar nach der Bundestagswahl vom 24. September wurde den Air-Berlin-Belegschaften in Berlin, NRW und Bayern mitgeteilt, dass sie buchstäblich mit allem zu rechnen hätten. Ihre Zukunft werde „schwierig“ sein, ließ die Gewerkschaftssekretärin Christine Behle (SPD) ihnen mitteilen. Behle ist nicht nur Mitglied im Verdi-Bundesvorstand, sondern auch im Aufsichtsrat der Lufthansa Group.

In Italien wird die Lufthansa zweifellos nicht tatenlos zuschauen, wenn die irische Ryanair oder die britische EasyJet – oder gar eine amerikanische Investmentfirma wie Cerberus – sich größere Teile von Alitalia schnappen. Ryanair hält heute schon rund dreißig Prozent am Luftverkehr in Italien (Alitalia hält 41 Prozent). Gegen Ryanair führt Lufthansa einen harten Konkurrenzkampf. Sie hat dazu die eigene Billigtochter Eurowings aufgebaut und würde alles tun, um die irische Airline in Schach zu halten.

Zu Alitalia erklärte Lufthansa-Chef Carsten Spohr am 24. Oktober in Frankfurt: „Wenn sich die Chance bietet, eine neue Alitalia zu kreieren – das Modell ist die Wandlung von der Swissair zur Swiss – dann wäre die Lufthansa mit ihrer Erfahrung daran interessiert.“ Das erwähnte Beispiel der Swiss-Übernahme ist aufschlussreich: Die ehemaligen Swissair-Beschäftigten mussten bei ihrer Übernahme durch Lufthansa Entlassungen, längere Arbeitszeiten, Mehrarbeit und die Streichung von Zusatzleistungen hinnehmen. Das zeigt deutlich, wohin die Reise bei einer „neu strukturierten NewAlitalia“ geht.

Offiziell tut die italienische Regierung so, als wolle sie das Lufthansa-Angebot ablehnen. Wie es heißt, setze man weiter auf eine Komplettübernahme von Alitalia und versuche, eine Zerschlagung der Airline und starke Einschnitte beim Personal zu verhindern. Verkehrsminister Graziano Delrio behauptete, Alitalia sei „ein Wert für das ganze Land. Sie wird als Ganzes verkauft und nicht zerstückelt“.

Die Gewerkschaften unterstützen die Verzögerungstaktik der Regierung. „Wir sind nicht bereit, den Konzern und seine Mitarbeiter zu verramschen“, behauptete beispielsweise Gewerkschaftssekretär Paolo Capone (Ugl). „Wir stimmen mit der Regierung überein, die Bieterfrist zu verlängern, um die bestmöglichen Verhandlungen zu führen und die fast 12.000 Abhängigen zu retten.“ Die Offerte von Lufthansa sei „unangemessen“.

In Wirklichkeit denkt niemand auch nur im Entferntesten daran, alle Arbeitsplätze effektiv zu schützen. Das wurde schon vor einem halben Jahr deutlich, als sich die Politiker vehement von jeder Art der Rückverstaatlichung distanzierten. „Die für eine Verstaatlichung nötigen Bedingungen sind nicht gegeben“, erklärte Premier Gentiloni im April. Und sein Wirtschaftsminister Pier Carlo Padoan sagte damals: „Die Regierung ist nicht bereit, sich an einer eventuellen Kapitalerhöhung der Gesellschaft zu beteiligen, weder direkt noch indirekt.“

Dass sie jetzt dennoch neues Geld zuschießt, ist kein Grund zur Beruhigung. Alitalia-Mitarbeiter müssen im Gegenteil davon ausgehen, dass hinter den Kulissen ein gefährliches Pokerspiel abläuft, dessen Rechnung sie am Ende zu bezahlen haben. Über alle Details der Verhandlungen sei mit den Sonderverwaltern „Stillschweigen vereinbart“, ließ die Lufthansa-Direktion wissen.

Sicher zögert die italienische Regierung, dem deutschen Giganten den Aufstieg zum beherrschenden gesamteuropäischen Luftkonzern allzu leicht zu machen. Schließlich sind an Alitalia die größten italienischen Unternehmen und Banken beteiligt. Seit der Finanzkrise 2008 hält ein entsprechendes Konsortium die Mehrheit an Alitalia, darunter die Banken IntesaSanpaolo und Unicredit sowie die Unternehmen Fiat, Benetton, Piaggio und der Stahlkonzern Riva.

Auf der andern Seite könnte der italienischen Bourgeoisie die Zusammenarbeit mit dem deutschen Konzern am Ende als der weniger gefährliche Ausweg erscheinen. In jedem Fall verfolgt sie mit großer Aufmerksamkeit, wie die Angriffe auf die Air-Berlin-Belegschaft durchgesetzt werden. Schließlich hat sie selbst es in der Alitalia-Belegschaft mit einer widerspenstigen und kampferprobten Belegschaft zu tun.

Die Alitalia-Belegschaft hat vor einem halben Jahr den bereits beschlossenen Sanierungskurs mit einer Zweidrittel-Mehrheit im Referendum vom 24. April zum Scheitern gebracht. Der Plan hätte Lohnsenkungen von acht Prozent und den Abbau von fast tausend Arbeitsplätzen bedeutet, mit Auswirkungen auf weitere 20.000 Beschäftigte bei den Tochter- und Fremdfirmen. Sein Scheitern war auch eine Niederlage für die italienischen Gewerkschaften, die den Plan mit ausgearbeitet hatten und als „bestmögliche Lösung“ verkaufen wollten. Danach wurde Alitalia unter kommissarische Aufsicht gestellt.

Der Alitalia-Konzerns ist nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem IRI-Trust hervorgegangen und hatte bis in die 1990er Jahre als staatlicher Konzern noch weit über 20.000 Stellen. Den Angriffen der vergangenen Jahre auf Lohnstrukturen und Arbeitsplätze hat die Belegschaft immer wieder erbitterten Widerstand geleistet. Dies hat nicht verhindert, dass bisher schon praktisch die Hälfte der Arbeitsplätze zerstört worden sind.

Es wird heute völlig klar, dass die rein syndikalistische Militanz nicht mehr ausreicht. Notwendig ist ein internationales, sozialistisches Programm, das die Arbeiter über die Grenzen hinweg zusammenschließt.

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