Der Streik von Eisenbahnern und Air-France-Personal hat Frankreich am Dienstag weitgehend lahmgelegt. Auch Pariser Müllwerker, Beschäftigte der Elektrizitätswerke und Studenten befanden sich im Ausstand.
Laut der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF beteiligten sich über ein Drittel der 150.000 Beschäftigten am Streik. Bei dem für den Zugverkehr unverzichtbaren Personal lag die Beteiligung mit knapp 50 Prozent wesentlich höher. 77 Prozent der Lokführer und 69 Prozent der Kontrolleure befanden sich im Ausstand. Als Folge fielen sieben von acht Fernzügen, vier von fünf Regionalzügen und zwei von drei Nahverkehrszügen aus.
Für den heutigen Mittwoch erwartet die SNCF ähnlich hohe Zugausfälle. In den kommenden drei Monaten wollen die Eisenbahner ihren Arbeitskampf fortsetzen, indem sie abwechselnd zwei Tage streiken und drei Tage arbeiten.
Air France musste wegen des Streiks rund ein Drittel der Fern- und Mittelstreckenflüge streichen. Bei den Inlandsflügen fielen nur etwa halb so viele aus. Hier sind für den 10. und 11. April weitere Streiks geplant.
Während bei Air France eine Lohnforderung im Vordergrund steht, befinden sich die Eisenbahner in einem Machtkampf mit der Regierung von Präsident Macron. Dieser will die Eisenbahn privatisieren, Bahnstrecken stilllegen, Arbeitsplätze abbauen und das Statut, das die Eisenbahner vor Kündigung schützt und ihnen eine Rente garantiert, die sich nach dem letzten Einkommen bemisst, abschaffen.
„Damit werden unsere Arbeitsplätze immer prekärer, dann verlieren wir unsern ganzen Schutz und sind den Unternehmern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das ist inakzeptabel!“, sagte Youssef, ein streikender Eisenbahner, der WSWS in Paris.
Den Eisenbahnern ist bewusst, dass es hier nicht nur um ihre eigenen Interessen, sondern um die Verteidigung sozialer Errungenschaften und öffentlicher Dienstleistungen für die gesamte Arbeiterklasse geht.
„Ich demonstriere heute, weil die Regierung sämtliche Gesellschaftsbereiche angreift“, betonte Guillaume, ein anderer Eisenbahner, gegenüber der WSWS. „Die Eisenbahner sind genauso betroffen wie die Schüler und Studenten, die Krankenschwestern und Pfleger und der ganze öffentliche und private Dienst.“
„Momentan haben wir es mit einem Frontalangriff auf die Eisenbahner zu tun, und dagegen wehren wir uns. Um die Eisenbahner zu verteidigen, gehen so viele auf die Straße“, fuhr Guillaume fort. „Es muss etwas geschehen, und zwar bald. Viele denken schon über eine andere Gesellschaft nach. Die Probleme sind nur international zu lösen. Schließlich gibt es diese Probleme nicht nur hier in Frankreich, sondern in ganz Europa und auf der ganzen Welt. Mit unserem Kampf gegen die eigene Regierung geben wir Arbeitern in andern Ländern ein Beispiel. Sie müssen ebenfalls den Kampf gegen ihre Regierung aufnehmen. Alle zusammen können wir den Kampf gegen den Kapitalismus gewinnen.“
Nicht nur die Eisenbahner, auch die Regierung betrachtet die Auseinandersetzung als Machtkampf. „Die Regierung und das Parlament sind entschlossen, die nötigen Reformen durchzuziehen“, sagte Jean-Baptiste Djebbari, der in der Regierungsfraktion für die SNCF-Reform verantwortlich ist. „Wir erwarten einen harten Arbeitskampf.“
Die konservative Zeitung Le Figaro kommentierte, Macron und die Regierung riskierten viel. Falls sie einknickten, könnten sie sich auch von Reformplänen in anderen Bereichen verabschieden.
Am Dienstag fanden in vielen französischen Städten Demonstrationen von Streikenden statt. Den Arbeitern schlossen sich zahlreiche Studenten an, die gegen die im Februar verabschiedete, nach der Hochschulministerin Frédérique Vidal benannte Hochschulreform kämpfen. Sie führt an den Universitäten ein selektives Zulassungsverfahren ein, das vielen Jugendlichen ein Studium unmöglich macht.
In zahlreichen französischen Universitäten finden inzwischen Streiks und Blockaden statt mit dem Ziel, das Vidal-Gesetz rückgängig zu machen. Der Konflikt eskalierte, nachdem in der Nacht zum 23. März in der Stadt Montpellier Vermummte in einen besetzten Hörsaal eingedrungen waren und die Besetzer verprügelt und gewaltsam vertrieben hatten. Eine Woche später wurden der Dekan und ein Professor der Jura-Fakultät suspendiert, die im Verdacht stehen, den Überfall organisiert zu haben.
Youssef, der Gesprächspartner der WSWS auf der Demonstration in Paris, ist der Ansicht, dass die Regierung gestürzt werden müsse: „Unsre Bewegung hat zum Ziel, die Regierung abzusetzen. Wir müssen zusammenhalten und so lange wie möglich weiterkämpfen, um die Regierung zu stürzen. Sie ist eine schreckliche Gefahr für den ganzen öffentlichen Dienst, sowohl für die Menschen, die ihn brauchen, als auch für diejenigen, die dort arbeiten.“
Als Mittel, dieses Ziel zu erreichen, sieht er eine möglichst breite Mobilisierung. „Wir können diesen Kampf gewinnen“, sagte er. „Es hängt nur davon ab, ob es uns gelingt, die Leute zu mobilisieren. Je mehr sich beteiligen, desto größer unsere Zahl, und umso größer unsere Chance, diese Regierung zu stoppen.“
Youssef erinnerte an den großen Streik von 1995 und sagte: „Es ist möglich. Wir haben doch schon bei der großen Mobilisierung von 1995 gesehen, dass es möglich ist, eine Regierung zu stürzen. Macron ist nicht der Liebe Gott. Er regiert dieses Land, aber das Volk ist der Souverän. Wenn wir auf der Straße bleiben, sind wir stark und können die Dinge ändern. Wir müssen uns zusammenschließen – mit den Studenten, den Postlern, den Ambulanzfahrern, den Verkäufern. Jeder ist betroffen: heute sind es die Eisenbahner, und morgen werden andere Arbeiter angegriffen.“
Die Gewerkschaften sind dagegen entschlossen, einen Sturz der Regierung Macron zu verhindern, den sie schon bei der Präsidentenwahl unterstützt hatten.
Laurent Berger, der Generalsekretär der CFDT, die mit zum Eisenbahnerstreik aufgerufen hat, kündigte am Dienstag auf France Inter seine Bereitschaft an, mit der SNCF über eine Änderung des Eisenbahnerstatuts zu verhandeln. „Man muss schauen, was man am Statut der Eisenbahner entwickeln muss, aber nicht indem man sie zu Schuldigen macht und stigmatisiert“, sagte er.
Der Chef der Gewerkschaft FO, Jean-Claude Mailly, riet der Regierung zu einem Kompromiss, um einen Flächenbrand zu verhindern. „Das soziale Kima verändert sich, das Gras ist trocken und es braucht nicht viel, damit es brennt“, sagte er. „Es gibt zahlreiche Konfliktherde.“
Auf den von der Konkurrenzgewerkschaft CGT propagierten „Zusammenschluss der Kämpfe“ angesprochen, wehrte Mailly energisch ab. Man dürfe nichts „improvisieren“, sagte er. Die „soziale Wetterlage“ lasse sich nicht voraussagen. „Dass es mehrere Konfliktherde gibt, bedeutet noch lange nicht, dass das zusammenkommen muss“, rechtfertigte er seine Absicht, die einzelnen Kämpfe voneinander zu isolieren.
Auch die CGT, die sich in der Regel militanter gibt, lehnt eine Ausdehnung der Streikbewegung ab. Le monde zitiert einen CGT-Funktionär in Lille, der die Forderung eines Eisenbahners, man müsse dafür sorgen, dass zehn Tage lang kein einziger Zug rolle, mit der faulen Begründung zurückwies, man werde keine Streiks von oben anordnen.
Der bereits zitierte Eisenbahner Guillaume zeigte sich misstrauisch gegenüber den Gewerkschaften. „Was die Gewerkschaften betrifft, so können sie zuweilen nützlich sein, um eine Bewegung aufzubauen, und meist sind sie der erste Schritt dazu“, sagte er. „Aber darüber hinaus dürfen wir uns über sie keinen Illusionen machen. Es kommt immer der Punkt, wo sie die Bewegung verraten, um ihre bürokratischen Privilegien zu bewahren. Wir müssen bereit sein, über die Gewerkschaften hinauszugehen. Solange die Arbeiter dazu bereit sind, müssen wir weiter gehen. Wir können es nicht zulassen, dass irgendjemand uns Schranken in den Weg legt, ob das die Gewerkschaften sind oder die reformistischen Parteien oder die Regierung. Nur wenn die Arbeiter sich selbst organisieren und den Kampf für sich selbst führen, können wir die Hindernisse überwinden.“
Er fügte hinzu: „Natürlich sind Verhandlungen mit der Regierung der falsche Weg, um irgendwas zu erreichen. Nur wenn die Leute auf der Straße und am Arbeitsplatz bleiben, können wir Macron besiegen. Wir müssen zusammenhalten und uns nicht spalten lassen. Wir können nur gewinnen, wenn alle Arbeiter gemeinsam kämpfen.“